Der Zauberlehrling
Ich wollte, Sie würden das Licht ausmachen. Es tut mir in den Augen weh. Sie brauchen den Scheinwerfer auch nicht, denn ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wollen. Ich werde Ihnen bestimmt alles sagen – aber schalten Sie das Licht aus!
Und noch etwas: Starren Sie mich bitte nicht so an. Wie kann ein Mann denken, wenn Sie alle so dicht um ihn herumstehen und Fragen stellen. Fragen, Fragen, Fragen …
Schon gut, ich bin ja ruhig, ganz ruhig. Ich wollte auch nicht schreien. Es ist nicht meine Art, aus der Rolle zu fallen. Ich bin wirklich nicht unbeherrscht. Sie wissen, daß ich keiner Fliege etwas zuleide tun kann.
Was passiert ist, war nur ein Unfall. Es konnte nur geschehen, weil ich die Macht verloren habe.
Sie wissen nichts von dieser Macht, nicht wahr? Sie haben noch nichts von Sadini und seiner Gabe gehört, nicht wahr?
Ich will Ihnen nichts vormachen, meine Herren; was ich zu sagen habe, ist die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich kann es beweisen, wenn Sie mir nur zuhören wollten. Am besten werde ich das Ganze von Anfang an erzählen.
Wenn Sie doch nur das Licht ausmachen würden …
Mein Name ist Hugo. Nein, nichts weiter, nur Hugo. So haben sie mich in dem Heim immer genannt. Seitdem ich denken kann, habe ich in diesem Heim gelebt. Die Schwestern waren sehr nett zu mir. Die anderen Kinder haben sich häßlich und gemein verhalten. Keiner wollte mit mir spielen.
Weil ich einen Buckel habe und schiele, müssen Sie wissen. Aber die Schwestern waren nett. Sie nannten mich nicht ›verrückter Hugo‹ und machten sich über mich lustig, wenn ich mir nichts merken konnte. Sie stießen mich nicht in eine Ecke und verprügelten mich. Ihretwegen habe ich nie zu weinen brauchen.
Nein, keine Sorge, ich fühle mich wohl – wirklich. Es ist auch nicht so wichtig, was ich von dem Heim erzählt höbe. Denn alles begann erst, nachdem ich weggelaufen war.
Wissen Sie, die Schwestern sagten mir eines Tages, daß ich langsam für das Heim zu alt geworden wäre. Sie wollten, daß ich mit dem Arzt woanders hingehen sollte. Irgendwo aufs Land. Aber Fred – das war einer von den wenigen Jungen, die mich nicht geschlagen haben – sagte mir, daß ich nicht mit dem Doktor gehen sollte. Er sagte, der Platz auf dem Lande wäre schlecht und der Doktor wäre auch schlecht. Er erzählte mir, daß die Fenster dort vergittert wären und daß der Doktor mich an einen Tisch binden und mir das Gehirn aufschneiden würde. Der Doktor würde mit meinem Gehirn Versuche machen, und ich müßte sterben. Da habe ich gemerkt, daß mich die Schwestern auch für verrückt hielten, obwohl sie es nie laut gesagt haben. Als ich hörte, daß der Doktor am nächsten Tag kommen sollte, bin ich fortgelaufen. Ich habe mich nachts aus dem Zimmer geschlichen und bin über die hohe Mauer geklettert.
Ich weiß nicht, ob Sie hören wollen, was danach geschah. Ich meine die Zeit, als ich unter der Brücke lebte und Zeitungen verkaufte? Und im Winter war es so bitterkalt …
Sadini? Ja, aber er gehört dazu. Ich meine, zum Winter und zur Kälte. Denn ich wurde durch die Kälte ohnmächtig, als ich gerade in der Straße hinter dem Theater war. Und dort fand mich Sadini.
Ich kann mich noch genau an den Schnee in der Straße erinnern. Dieser eisige, eisige Schnee schlug mir ins Gesicht. Ich dachte, ich müßte in der Kälte ersticken; und als ich versank, war ich sicher, daß alles zu Ende wäre.
Als ich wieder aufwachte, befand ich mich an einem warmen Ort im Inneren des Theaters. Es war eine Garderobe. Neben mir stand ein Engel und schaute mich an.
Ich hielt sie wirklich für einen Engel. Ihre langen goldenen Haare sahen wie die Saiten einer Harfe aus. Sie lächelte, als ich meine Hand danach ausstreckte.
»Geht es wieder besser?« fragte sie. »Hier, trinken Sie …«
Ich lag auf einer Couch, und sie hielt meinen Kopf, als sie mir etwas Warmes, Herrliches einflößte.
»Wie bin ich hierhergekommen?« fragte ich. »Bin ich tot?«
»Ich habe es gedacht, als Victor Sie hereingeschleift hat. Aber ich glaube, daß es Ihnen jetzt viel besser geht.«
»Victor?«
»Victor Sadini. Sagen Sie mir nicht, daß Sie noch nie etwas von dem Großen Sadini gehört haben …«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist Zauberer. Er ist gerade auf der Bühne. Du lieber Gott – ich muß mich ja umziehen.« Sie nahm die Tasse fort und richtete sich auf. »Ruhen Sie sich schön aus, bis ich zurückkomme.«
Ich lächelte sie an. Das Reden fiel mir schwer, weil sich alles irgendwie drehte.
»Wer sind Sie?« flüsterte ich.
»Isobel.«
»Isobel«, wiederholte ich. Es war ein hübscher Name. Ich flüsterte ihn immer wieder, bis ich einschlief.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, bis ich wieder aufwachte, ich meine, bis ich wieder aufwachte und mich gesund fühlte. Zwischendurch muß ich wohl manchmal halbwach gewesen sein, denn ich sah und hörte ab und zu etwas.
Einmal sah ich, wie sich ein großer Mann mit schwarzen Haaren und einem schwarzen Schnurrbart über mich beugte. Er hatte schwarze Augen und war auch ganz in Schwarz gekleidet. Ich dachte, es könnte vielleicht der Teufel sein, der mich in die Hölle schaffen wollte. Die Schwestern hatten uns viel vom Teufel erzählt. Ich fürchtete mich so sehr, daß ich gleich wieder in Ohnmacht fiel.
Ein anderes Mal drangen Stimmen zu mir. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Mann in Schwarz und Isobel in einer Ecke des Zimmers sitzen. Ich nehme an, daß sie nicht gemerkt haben, daß ich munter geworden war, denn sie unterhielten sich über mich.
»Was denkst du, wie lange ich das noch mitmache, Vic?« hörte ich sie sagen. »Ich habe es satt, die Krankenschwester für einen heruntergekommenen Strolch zu spielen. Was willst du eigentlich mit ihm anfangen? Du weißt doch nichts über ihn.«
»Wir können ihn schließlich nicht wieder in den Schnee werfen, damit er stirbt, nicht wahr?« Der Mann in Schwarz ging im Zimmer auf und ab und fuhr sich unaufhörlich mit der Hand über seinen Schnurrbart. »Sei vernünftig, Liebling. Du siehst doch, daß der arme Kerl halb verhungert ist. Papiere hat er auch nicht bei sich. Er ist in Not und braucht Hilfe.«
»Dummes Zeug! Ruf einen Krankenwagen. Es gibt immerhin Hospitäler, oder? Du kannst wirklich nicht von mir verlangen, daß ich mich zwischen den Auftritten mit diesem räudigen –«
Ich habe nicht verstanden, was sie meinte, was sie sagte. Wissen Sie, sie war so wunderschön. Ich wußte, daß sie nett sein mußte. Das war alles nur ein Irrtum. Vielleicht war ich noch zu krank, um richtig zu hören.
Dann bin ich wieder eingeschlafen, und als ich aufwachte, fühlte ich mich wohl und wußte, daß ich mich getäuscht hatte. Denn sie war da, und sie lächelte mich wieder an.
»Wie geht’s?« fragte sie. »Wie wäre es mit etwas zu essen?«
Ich konnte sie nur anstarren und lächeln. Sie hatte einen langen grünen Mantel an, der mit silbernen Sternen übersät war. Jetzt gab es überhaupt keinen Zweifel, daß sie wirklich ein Engel war.
Dann kam der Teufel ins Zimmer.
»Er ist bei Bewußtsein, Vic«, sagte Isobel.
Der Teufel sah mich grinsend an.
»Servus, Kamerad. Herzlich willkommen in unserer Mitte! Einen Tag lang oder so habe ich gedacht, daß wir nicht mehr lange Ihre Gesellschaft haben werden.«
Ich konnte ihn nur wortlos anstarren.
»Was ist los? Erschreckt Sie meine Aufmachung? Das ist auch Ihr gutes Recht, denn Sie wissen ja nicht, wer ich bin. Ich bin Victor Sadini. Der Große Sadini – Zauberkünstler, wissen Sie?«
Da Isobel mich auch anlächelte, mußte wohl alles in Ordnung sein. Ich nickte. »Mein Name ist Hugo«, flüsterte ich. »Sie haben mir das Leben gerettet, nicht wahr?«
»Ist schon gut. Verschieben Sie das Reden auf später. Jetzt müssen Sie erst einmal etwas essen und sich noch weiter ausruhen. Sie liegen jetzt hier seit drei Tagen auf dem Sofa, Kamerad. Sie müssen bald wieder zu Kräften kommen, denn das Programm läuft hier nur noch bis Mittwoch. Dann müssen wir nach Toledo hüpfen.«
Am Mittwoch war der Vertrag zu Ende, und wir hüpften nach Toledo. Wir hüpften natürlich nicht wirklich, sondern fuhren mit dem Zug. O ja, ich war mit dabei, denn ich war Sadinis neuer Assistent.
Damals wußte ich noch nicht, daß er mit dem Teufel im Bunde war. Ich hielt ihn nur für einen netten Mann, der mir das Leben gerettet hatte. Er saß in der Garderobe und erklärte mir alles. Er sagte mir, warum er sich den Schnurrbart hatte wachsen lassen und warum er sich die Haare so kämmte, wie er es tat, und warum er sich immer schwarz anzog. Ich konnte mir gut vorstellen, daß das Publikum so etwas von einem Zauberer erwartete.
Dann machte er mir ein paar Tricks vor. Ich staunte sehr. Es waren wundervolle Tricks mit Karten und Münzen. Dann zog er sogar Taschentücher aus meinen Ohren, und aus meinen Taschen lief wirklich und wahrhaftig farbiges Wasser. Als er Sachen verschwinden ließ, fürchtete ich mich vor ihm, aber er beruhigte mich lächelnd, daß das auch nur ein Trick wäre.
Am letzten Tag durfte ich bei seinem Auftritt auf der Bühne hinter dem Vorhang stehen. Durch das kleine Loch im Vorhang konnte ich herrliche Dinge sehen.
Isobel lag ausgestreckt auf einem Tisch. Dann hob er seinen Zauberstab, und Isobel schwebte in der Luft. Sie schwebte. Wirklich und wahrhaftig. Sie fiel auch nicht, als er sie langsam wieder auf den Tisch sinken ließ. Sie lächelte, und das Publikum klatschte begeistert. Dann reichte ihm Isobel nacheinander verschiedene Gegenstände. Er hob seinen Zauberstab, und die Dinge verschwanden, verwandelten sich oder explodierten. Vor meinen Augen ließ er einen großen Baum aus einer kleinen Pflanze wachsen. Dann wickelte er einen kräftigen Strick um Isobel und steckte sie in eine Kiste. Er hielt eine große elektrische Stahlsäge mit scharfen Zähnen in die Höhe und verkündete, daß er sie jetzt durchsägen würde.
Ich wäre beinahe auf die Bühne gestürzt, um das zu verhindern. Aber da mich die Bühnenarbeiter festhielten und lachten, dachte ich mir, daß auch das ein Trick sein müßte.
Als er dann aber den elektrischen Strom einschaltete und anfing, die Kiste zu zersägen, brach mir doch der Schweiß aus sämtlichen Poren. Ich starrte auf ihren Kopf, der aus der Kiste herausragte. Er sägte sie mitten durch. Aber sie lächelte und war überhaupt nicht tot.
Dann deckte er ihren Kopf zu und nahm statt der Säge wieder den Zauberstab in die Hand. Und plötzlich sprang sie aus der Kiste heraus und war wieder in einem Stück. Ich hatte noch nie so etwas Wunderbares gesehen. Ich glaube, darum habe ich mich auch entschlossen, mit den beiden zu ziehen.
Nach der Vorstellung habe ich mich noch einmal bei ihm dafür bedankt, daß er mir das Leben gerettet hat. Dann sagte ich ihm, wer ich bin und daß ich nicht wüßte, wohin ich gehen sollte, und daß ich gerne für ihn umsonst arbeiten würde – egal was –, wenn ich nur mitfahren konnte. Ich sagte ihm natürlich nicht, daß ich eigentlich nur aus dem Grunde bei ihnen bleiben wollte, um immer in Isobels Nähe sein zu dürfen. Das hätte ihm wahrscheinlich gar nicht gepaßt – und ich glaube, ihr auch nicht. Ich wußte inzwischen, daß sie seine Frau war.
Es war alles reichlich wirr, was ich ihm gesagt hatte, aber er schien mich verstanden zu haben.
»Das wäre vielleicht etwas für Sie«, meinte er sinnend. »Wir brauchen jemanden, der sich um meine ganzen Bühnenutensilien kümmert. Wir würden dadurch viel Zeit sparen. Sie könnten auch immer alles auf- und abbauen.«
»Papperlapapp«, schnaufte Isobel. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber Sadini sehr wohl. Vielleicht war es eine Art Zaubersprache.
»Hugo ist schon in Ordnung«, murmelte er. »Ich brauche wirklich jemanden, Isobel, jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Du verstehst schon, was ich meine.«
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Hör einmal zu, du Schmierenkomödiant –«
»Sachte, sachte, Isobel.« Ihr Gesicht glättete sich unter seinen durchdringenden Blicken, und sie versuchte ein schwaches Lächeln. »Schon gut, Vic, wie du willst. Aber vergiß nie, daß das deine fabelhafte Idee und nicht meine war.«
»Abgemacht.« Sadini kam auf mich zu. »Sie kommen mit uns«, sagte er. »Ab sofort sind Sie mein Assistent.«
So kam es.
Und so war es lange, lange Zeit. Wir waren in Toledo, in Detroit, Indianapolis, in Chicago und Milwaukee und in St. Paul und – was weiß ich, in welchen Städten noch. Für mich waren sie alle gleich. Wenn wir mit dem Zug irgendwo ankamen, fuhren Sadini und Isobel in ein Hotel, während ich aufpaßte, wie die Gepäckwagen entladen wurden. Ich kümmerte mich darum, daß die Bühnenutensilien (wie Sadini das Gepäck nannte) sorgfältig auf einen Lastwagen geladen wurden. Der Fahrer lud die Sachen vor dem jeweiligen Theater ab, und ich schleppte sie in die Garderobe oder hinter die Bühne. Dann packte ich alles aus. Das war meine Arbeit.
Ich schlief im Theater, meist in der Garderobe, und aß mit Sadini und Isobel. Das heißt, meist nur mit Sadini, denn sie schlief sehr lange.
Außerdem glaube ich, daß sie sich zu Anfang mit mir geschämt hat. Ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. So, wie ich mit meinem alten Anzug, dem Buckel und den schielenden Augen aussah!
Sadini hat mir nach einer Weile natürlich einen neuen Anzug gekauft. Er, Sadini, war gut zu mir. Er erzählte mir viel von seiner Nummer und seinen Tricks, und er redete auch viel über Isobel. Ich konnte gar nicht verstehen, wie ein so netter Mann solche Sachen über sie sagen konnte.
Obwohl sie mich offensichtlich nicht leiden konnte und sich auch von Sadini fernhielt, wußte ich doch, daß sie ein Engel war. Sie war genauso schön wie die Engel auf den Bildern, die uns die Schwestern im Heim immer gezeigt hatten. Es war nur natürlich, daß sich Isobel nicht für so häßliche Leute wie mich oder Sadini, mit seinen schwarzen Augen und seinem schwarzen Schnurrbart, interessieren konnte. Ich konnte gar nicht verstehen, warum sie ihn überhaupt jemals geheiratet hatte, wo sie doch so hübsche Männer wie George Wallace finden konnte.
Sie sah George Wallace immer, denn er trat auch in der Show auf, mit der wir herumreisten. Er sang und tanzte, war sehr groß und hatte blonde Haare und blaue Augen. Wenn er auftrat, stand Isobel an der Seite der Bühne und schaute ihm beim Tanzen und Singen zu. Sie unterhielten sich häufig und lachten zusammen. Und eines Tages, als Isobel sagte, sie hätte Kopfschmerzen und würde ins Hotel gehen, sah ich sie beide in George Wallaces Garderobe verschwinden.
Ich hätte das vielleicht Sadini nicht erzählen sollen, aber es war mir so rausgerutscht. Er wurde sehr wütend und fragte mir die Seele aus dem Leib. Dann forderte er mich auf, den Mund zu halten und die Augen aufzusperren.
Ich weiß jetzt, daß es falsch war, mich darauf einzulassen, aber damals dachte ich nur daran, daß Sadini immer so nett zu mir war, und daß ich ihm auch einmal einen Gefallen tun müßte. Ich ließ also Isobel und George Wallace nicht aus den Augen. Und eines Tages, als Sadini zwischen den Vorstellungen in die Stadt gefahren war, sah ich, wie sie wieder in Georges Garderobe verschwanden.
Ich schlich mich auf Zehenspitzen zu der Tür und guckte durch das Schlüsselloch. Auf dem Gang war niemand, und darum konnte auch niemand sehen, wie ich rot wurde.
Denn Isobel lag in George Wallaces Armen und küßte ihn.
Dann schob er sie von sich. »Sei gescheit, Schatz, und laß uns hier nicht die Zeit vertrödeln. Wenn der Vertrag abgelaufen ist, gibt es nur noch dich und mich. Wir verduften und lassen uns an der Küste nieder und …«
»Du hast ein sonniges Gemüt«, sagte Isobel verdrießlich. »Verglichen mit dir bin ich eine Null, Georgie-Boy, aber ich kann immerhin beurteilen, was eine gute Nummer ist und was nicht. Vic ist ein Star. Sein Auftritt ist eine Sensation. Du tingelst unter ›ferner liefen‹. Daran wird sich auch nichts ändern. Spaß ist Spaß, aber ich habe keine Lust, bei diesem Geschäft den kürzeren zu ziehen.«
»Vic!« George Wallace schnitt eine Grimasse. »Was ist an seiner Nummer schon dran? Ein Schnurrbart und ein paar Kisten mit faulem Zauber. Das kann jeder nachmachen. Ich auch. Gib mir seinen Zauberstab und –« Er zog sie wieder an sich. »Du kennst doch weiß Gott seine ganzen Tricks. Wir – du und ich – könnten doch unsere eigene Nummer aufziehen, Baby. Der Große Wallace und Kompagnon …«
»Georgie!«
Sie bewegte sich so schnell, daß ich keine Zeit mehr zum Verschwinden hatte. Sie eilte zur Tür, riß sie auf – und da stand ich.
»Was, zum Teufel –«
George Wallace kam hinter ihr her. Als er mich sah, holte er aus, aber Isobel hielt seine Hand zurück.
»Laß das«, sagte sie scharf. »Das ist meine Angelegenheit.« Dann lächelte sie mich an, und ich wußte, daß sie mir nicht böse war. »Kommen Sie mit mir, Hugo«, sagte sie, »wir wollen uns ein wenig unterhalten.«
Ich werde diese kurze Unterhaltung nie vergessen.
Wir saßen ganz allein in der Garderobe. Nur Isobel und ich. Sie hielt meine Hand – ihre Hände waren so zart und weich – und schaute mir in die Augen. Ihre tiefe Stimme klang wie der Sonnenschein oder wie singende Sterne.
»Sie wissen jetzt also Bescheid«, sagte sie leise. »Und darum muß ich Ihnen einfach alles erzählen. Ich – ich wollte nicht, daß Sie es jemals erfahren, Hugo – aber jetzt bleibt mir keine andere Wahl.«
Ich nickte. Ich starrte auf den Tisch, weil ich nicht wagte, ihr in die Augen zu sehen. Mein Blick fiel auf Sadinis Zauberstab, den langen schwarzen Stab mit der goldenen Kuppe, die glitzerte und funkelte und meine Augen blendete.
»Es stimmt, Hugo, daß George Wallace und ich uns lieben. Er will, daß ich mit ihm fortgehe.«
»Aber Sadini ist doch so ein netter Mann«, stotterte ich, »auch, wenn er so aussieht –«
»Wie aussieht?«
»Nun ja – als ich ihn zum erstenmal sah, dachte ich, er ist der Teufel, aber jetzt …«
Es war, als würde sie tief Luft holen. »Sie haben ihn für den Teufel gehalten, Hugo?«
Ich lachte verlegen. »Ja. Wissen Sie, die Schwestern haben mir schon gesagt, daß ich keine besondere Leuchte bin. Und weil ich oft nichts verstand, wollten sie an meinem Gehirn herumoperieren. Natürlich nicht die Schwestern. Aber das ist alles Unsinn.
Ich habe alle Sinne beisammen. Sie wissen es. Ich habe Sadini nur so lange für den Teufel gehalten, bis er mir erklärt hat, daß alles nur Tricks sind und daß das gar kein echter Zauberstab wäre und daß er Sie auch nicht richtig durchsägt –«
»Und das haben Sie ihm geglaubt!«
Da habe ich sie angeblickt. Sie saß sehr aufrecht, und ihre Augen schimmerten.
»Mein Gott, Hugo, wenn Sie nur wüßten! – Wissen Sie, ich war früher einmal genau wie Sie. Als ich ihn zum erstenmal sah, vertraute ich ihm auch. Und heute bin ich seine Sklavin! Und weil ich seine Sklavin bin, kann ich auch nicht fortlaufen. Ich bin seine Sklavin, genauso wie er ein Sklave des – Teufels ist!«
Mir fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. Ich bemühte mich krampfhaft, ihren so schwierigen Worten folgen zu können.
»Das haben Sie nicht gewußt, nicht wahr? Sie haben ihm geglaubt, als er Ihnen erklärt hat, daß alles nur Tricks wären und daß er Spiegel benutzt und daß das nur eine Illusion wäre, wenn er mich durchsägt, nicht wahr?«
»Aber er benutzt doch Spiegel«, stammelte ich. »Packe ich sie nicht immer selber aus und baue sie für ihn auf?«
»Damit will er nur die Bühnenarbeiter irreführen«, flüsterte sie. »Wenn es herauskäme, daß er ein echter Zauberer ist, würde er eingesperrt werden. Haben die Schwestern Ihnen nicht alles vom Teufel erzählt? Und daß ihm viele ihre Seele verkaufen?«
»Ja, schon, aber ich dachte eigentlich immer …«
»Sie glauben mir doch, Hugo, nicht wahr?« Sie ergriff wieder meine Hand und schaute mir tief in die Augen. »Wenn ich auf dem Tisch liege und er mich langsam in die Höhe gehen läßt, dann ist das keine Zauberei. Und wenn er mich in der Mitte durchsägt, dann sägt er mich wirklich durch. Darum kann ich ihm auch nicht entrinnen. Darum bin ich für immer seine Sklavin.«
»Dann muß es der Teufel selber gewesen sein, der ihm den Zauberstab gegeben hat, mit dem er alle Tricks ausführen kann.«
Sie nickte und ließ mich nicht aus den Augen.
Ich warf wieder einen Blick auf den Zauberstab. Er glitzerte immer noch. Genauso wie ihre Haare und ihre Augen.
»Warum kann ich den Zauberstab nicht einfach stehlen?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das würde nichts nutzen, zumindest nichts, solange er am Leben ist.«
»Solange er am Leben ist«, wiederholte ich.
»Wenn er allerdings – oh, Hugo, Sie müssen mir helfen! Es gibt nur einen Ausweg – und es wäre keine Sünde – nicht, wenn jemand seine Seele dem Teufel verschrieben hat. Oh, Hugo, Sie müssen mir helfen! – Sie werden mir helfen, nicht wahr?«
Sie küßte mich.
Sie küßte mich. Wirklich und wahrhaftig! Sie legte ihre Arme um meinen Rücken, und ihr goldenes Haar umhüllte mich. Ihre Lippen waren weich und ihre Augen glänzten. Sie erklärte mir genau, was ich zu tun hatte, und sagte immer wieder, daß es keine Sünde wäre, weil er doch seine Seele dem Teufel verkauft hätte. Außerdem würde es niemand erfahren.
Ich sagte also: Ja, ich würde es tun.
Sie erklärte mir noch einmal genau, wie ich es anzustellen hätte. Und ich mußte es schwören, die Geschichte niemals und niemandem zu verraten. Egal, was passierte. Selbst dann sollte ich schweigen, wenn etwas schiefgehen sollte und jemand Fragen an mich stellen würde.
Ich schwor. Dann wartete ich.
Ich wartete auf Sadinis Rückkehr. Und ich wartete, bis die Vorstellung zu Ende war und alle nach Hause gegangen waren. Als Isobel ins Hotel ging, bat sie Sadini, mir beim Zusammenräumen zu helfen, weil ich mich nicht wohlfühlte. Er war sofort dazu bereit. Es verlief alles so haargenau am Schnürchen, wie sie es mir versprochen hatte.
Als wir mit dem Abbau begannen, war außer dem Nachtportier kein Mensch mehr im Haus. Und der saß in seinem kleinen Zimmer, das weit entfernt von der Bühne, direkt an der Straße lag. Während Sadini packte, ging ich auf den Gang hinaus, um mich davon zu überzeugen, daß er dunkel und ausgestorben war. Dann ging ich in die Garderobe, wo Sadini gerade dabei war, die letzten Utensilien zusammenzulegen.
Der Zauberstab lag noch unberührt da. Er glitzerte und glitzerte, und ich hätte ihn für mein Leben gern einmal in die Hand genommen, um die Macht zu spüren, die der Teufel ihm eingehaucht hatte. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Denn ich mußte mich hinter Sadini stellen, der sich gerade über eine Kiste beugte. Und dann mußte ich das Stück Bleirohr aus der Tasche ziehen und es einmal, zweimal, dreimal auf seinen Kopf niedersausen lassen.
Es gab ein abscheulich knirschendes Geräusch und dann einen dumpfen Fall, als Sadini auf dem Boden zusammensackte.
Ich brauchte ihn jetzt nur noch in die Kiste zu wuchten und –
Aber da hörte ich ein anderes Geräusch!
Jemand klopfte an die Tür!
Als ich erstarrt stehenblieb, rüttelte dieser Jemand an der Klinke. Ich mußte den leblosen Körper schnell in eine Ecke schleifen, damit er nicht gleich zu sehen war. Aber viel Zweck hatte das nicht. Das Klopfen an der Tür wurde heftiger. Dann hörte ich eine Stimme.
»Machen Sie auf, Hugo! Ich weiß, daß Sie da sind!«
Was blieb mir anderes übrig, als die Tür zu öffnen? Ich hatte nicht einmal Zeit, das Bleirohr aus der Hand zu legen. Darum versteckte ich es hinter meinem Rücken. George Wallace schoß herein.
Ich glaube, er war betrunken. Wie dem auch sei, er sah jedenfalls nicht sofort den am Boden liegenden Sadini, sondern starrte nur mich an und fuchtelte aufgeregt mit den Armen.
»Hugo – iich mmmuß mit ddir reden.« Na schön, er war also wirklich betrunken. Die Fahne, die mir entgegenwehte, war beachtlich. Seine Stimme wurde heiser, als er lallend fortfuhr: »Ssie hat es mir gesagt. Das, wwas sie vorhat. Ssie wollte mich betrunken machen – aber ich habe sie überlllistet. Ich bin ihr entwischt. Ich mußte mit ddir reden, ehe ddu Quatsch machst.
Ssie wollte dich an den Galgen bringen. Haargenau. Ddu solltest Sadini um die Ecke bringen. Sie wäre zur Polizzei gegangen und hätte alles geleugnet. Jeder kann bestätigen, daß ddu etwas geistig minderbemmittelt bist. Und wenn du auf der Polizei den Quatsch mit ddem Teufel gefaselt hättest, hätten sie ddich gleich dabehalten. Danach wollte ssie die Nummer an ssich reißen und mit mir türmen. Junge, ich mmmußte dich einfach warnen …«
Dann sah er Sadini. Als er auf den zusammengekrümmten Körper glotzte, schwankte er leicht, und ihm fiel der Unterkiefer herunter. Darum war es ein Kinderspiel für mich, hinter ihn zu treten und mit dem Bleirohr auf ihn einzuschlagen. Einmal, zweimal, zehnmal.
Denn ich wußte, daß er gelogen hatte. Er hatte meinen Engel schlechtmachen wollen. Er sollte sie nicht haben und mit ihr weglaufen. Ich hatte das verhindern müssen. Denn ich wußte, daß er gar nicht sie haben wollte, sondern den Zauberstab, den Stab des Teufels, der Macht verlieh. Er gehörte mir!
Ich ging zum Tisch, nahm ihn in die Hand und spürte, wie mich die Macht durchrieselte. Als sie hereinkam, starrte ich immer noch gebannt auf die goldene Spitze.
Sie mußte ihm gefolgt sein, aber sie war zu spät gekommen. Sie erkannte es, als sie auf seinen gespaltenen Hinterkopf starrte, der wie ein großer roter Mund grinste.
Sie erstarrte zur Salzsäule. Aber ehe ich ein Wort sagen konnte, sank sie ohnmächtig zu Boden.
Ich stand mit dem Zauberstab in der Hand vor ihr und sah auf sie hinunter. Ich fühlte Mitleid in mir aufsteigen. Mitleid mit Sadini, der in der Hölle schmorte, Mitleid mit George Wallace, der sich dummerweise in die Angelegenheit eingemischt hatte, und Mitleid mit ihr, weil ihre ganzen Pläne gescheitert waren.
Als ich wieder den Zauberstab betrachtete, kam mir ein großartiger Gedanke. Sadini war tot und George war tot – aber sie hatte ja immer noch mich. Sie fürchtete sich nicht vor mir – sie hatte mich sogar geküßt!
Und ich besaß den Zauberstab. Mir gehörte das Geheimnis der Macht! Jetzt, wo sie schlief, konnte ich mich leicht von der Wahrheit überzeugen. Wie sehr würde sie staunen, wenn sie wieder zu sich kommen würde!
Ich könnte ihr dann sagen: »Du hast recht gehabt, Isobel, der Stab hat wirklich diese geheimnisvolle Kraft. Von jetzt an werden wir beide zusammen auftreten. Ich habe den Zauberstab – und du brauchst dich nie wieder zu furchten. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es kann, denn ich habe es schon einmal getan, als du ohnmächtig warst.«
Ich hatte keine Zeit zu verlieren, und nichts durchkreuzte meinen Plan. Ich trug sie auf die Bühne hinaus. Ich baute das Zubehör auf. Ich schaltete sogar die Scheinwerfer an. Es war ein eigenartiges Gefühl, alleine im Theater zu sein und sich in die Dunkelheit hinein zu verbeugen.
Ich hatte Sadinis Mantel übergeworfen und schaute auf Isobel, die vor mir lag. Mit dem Zauberstab in der Hand war ich ein neuer Mensch: Hugo der Große!
Ich war heute nacht, hier in diesem leeren Theater, Hugo der Große. Ich wußte, was zu tun war und wie es zu tun war. Da keine Bühnenarbeiter da waren, hatte ich es auch nicht nötig, die albernen Spiegel aufzustellen. Ich fesselte sie, legte sie in die Kiste, achtete darauf, daß ihr Kopf herausschaute, und schaltete den Strom an. Die Säge durchschnitt summend das Holz.
Plötzlich öffnete sie die Augen und fing laut zu schreien an. Aber ich hatte sie gut verschnürt. Und außerdem brauchte sie wirklich keine Furcht zu haben. Ich zeigte ihr lächelnd den Zauberstab, aber sie hörte nicht auf zu schreien. Als ich durch das Holz durch war, verstummte sie nach einem letzten gellenden Aufschrei.
Die Säge färbte sich dunkelrot und tropfte von Blut.
Der Anblick verursachte mir solche Übelkeit, daß ich ganz schnell den Zauberstab hob.
Als ich wieder hinuntersah, war alles unverändert.
Ich hob den Stab noch einmal.
Und es passierte wieder nichts.
Irgend etwas war schiefgegangen. In diesem Augenblick wußte ich, daß irgend etwas nicht funktioniert hatte.
Jetzt fing ich an zu schreien. Ich schrie so lange, bis mich der Nachtportier hörte und herbeieilte; und dann kamen Sie und nahmen mich mit.
Sie sehen also, es war nichts weiter als ein Unfall. Der Zauberstab funktionierte nicht. Vielleicht hat der Teufel in dem Augenblick, als Sadini starb, die Macht wieder von ihm genommen. Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts – nur das eine, daß ich müde bin. Würden Sie bitte die grelle Lampe ausschalten? Ich möchte schlafen …