Wachsfigurenkabinett

 

Der Tag war für Bert­rand sehr trü­be und ein­tö­nig ge­we­sen, ehe er das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett ent­deck­te. Es war ei­ner der neb­li­gen Ta­ge, an de­nen es nicht rich­tig hell wer­den woll­te, ei­ner der Ta­ge, an de­nen Bert­rand mit Vor­lie­be ziel­los durch die schmut­zi­gen Gas­sen der Ufer­ge­gend streif­te. Den­noch ent­spra­chen sol­che Ta­ge Bert­rands Men­ta­li­tät am bes­ten. Er fand ei­ne ge­wis­se Freu­de dar­an, den schar­fen Grau­pel­re­gen auf sei­nem Ge­sicht zu spü­ren; und es üb­te einen pri­ckeln­den Reiz auf ihn aus, daß er durch den Ne­bel al­les nur ver­schwom­men und sche­men­haft er­ken­nen konn­te. Der dich­te Ne­bel ließ die schmut­zi­gen Häu­ser und die en­gen, wink­li­gen Gas­sen un­wirk­lich und gro­tesk er­schei­nen. Die ver­wit­ter­ten Ge­bäu­de wur­den zu rie­si­gen grau­en vor­ge­schicht­li­chen Un­ge­heu­ern, die sich zur Ru­he ge­legt hat­ten und er­starrt wa­ren.

So kam es we­nigs­tens Bert­rand in sei­ner blü­hen­den Phan­ta­sie vor. Denn Bert­rand war ein Poet. Bei ge­nau­er Be­trach­tung al­ler­dings war er ein schlech­ter Poet. Denn die Ge­dan­ken­gän­ge, die er zu Pa­pier brach­te, wa­ren so wirr und ver­spon­nen, daß er nie­man­den fand, der sie ab­dru­cken woll­te. Er haus­te in ei­ner Dach­kam­mer, er­nähr­te sich von tro­ckenem Brot und fühl­te sich von der Welt miß­ver­stan­den. Wenn er in Selbst­mit­leid ver­sank, was sehr häu­fig vor­kam, pfleg­te er sein Le­ben mit dem des ver­stor­be­nen Fran­cois Vil­lon zu ver­glei­chen. Bei die­sem Ver­gleich ver­schwan­den Bert­rands De­pres­sio­nen meist. Denn Vil­lon war ein be­rüch­tig­ter Dieb und Zu­häl­ter ge­we­sen – was man von Bert­rand kei­nes­falls sa­gen konn­te.

Bert­rand war ein sehr jun­ger eh­ren­wer­ter Mann und ein Ge­nie. Die Leu­te wuß­ten es nur noch nicht zu schät­zen. Und recht ge­sch­ah die­sen Leu­ten, wenn er jetzt ver­hun­ger­te! Die Nach­welt wür­de ihm ge­wiß ein Denk­mal set­zen. Mit die­sen oder ähn­li­chen Ge­dan­ken­gän­gen be­schäf­tig­te sich Bert­rand die meis­te Zeit, und solch trü­be Ta­ge wie heu­te wa­ren be­son­ders für sei­ne stum­men Mo­no­lo­ge ge­eig­net.

Fast wi­der­wil­lig muß­te er sich selbst ein­ge­ste­hen, daß sei­ne Dach­kam­mer mol­lig warm war und daß er ei­gent­lich ge­nug zu es­sen hat­te. Denn sei­ne El­tern, die in Mar­seil­le leb­ten und in dem Glau­ben wa­ren, daß er an der Uni­ver­si­tät stu­dier­te, schick­ten ihm im­mer­hin re­gel­mä­ßig Geld.

Er hät­te al­so gut an ei­nem so öden Tag wie die­sem in sei­ner war­men Dach­kam­mer Zu­flucht su­chen und an ei­nem sei­ner fei­nen So­net­te, die er im­mer schrei­ben woll­te, ar­bei­ten kön­nen. Aber nein, er muß­te durch den dich­ten Ne­bel tap­pen und sich sei­nen ver­spon­ne­nen Ge­dan­ken hin­ge­ben. Ob­wohl er ab­ge­dro­sche­ne Phra­sen haß­te, konn­te er nicht um­hin, das als sei­ne ›ro­man­ti­sche Ader‹ zu be­zeich­nen.

Aber als der jun­ge Mann heu­te wohl ei­ne Stun­de lang am Kai ent­lang­ge­wan­dert war, ver­lor die ›ro­man­ti­sche Ader‹ ih­ren Reiz. Der naß­kal­te Re­gen hat­te sei­nen ju­gend­li­chen Ei­fer be­acht­lich ab­ge­kühlt. Zu­dem be­merk­te er, wie sich ein höchst un­poe­ti­scher Schnup­fen an­bahn­te.

Aus die­sem Grun­de war er mehr als er­freut, als er in die­ser to­ten Ge­gend ein schwa­ches Licht ent­deck­te, das ihm durch das mil­chi­ge Nichts hin­durch ent­ge­gen­schim­mer­te. Beim Nä­her­kom­men ent­pupp­te sich das Licht als ei­ne kah­le Bir­ne über ei­ner Tür, die zu ei­nem Kel­ler führ­te und über der das Wort ›Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett‹ dürf­tig be­leuch­tet war.

Zu­nächst ein­mal war der jun­ge Poet ent­täuscht, denn er hat­te ge­hofft, daß das Leucht­feu­er auf ei­ne Knei­pe hin­wei­sen wür­de. Und so­lan­ge noch et­was von dem mo­nat­li­chen Geld sei­ner El­tern in sei­nen Ta­schen klim­per­te, stand un­ser Poet mit dem Al­ko­hol auf du und du. Er zuck­te re­si­gniert die Ach­seln. Pech. Aber der Licht­schein deu­te­te we­nigs­tens auf Wär­me und Ge­bor­gen­heit hin – und viel­leicht wa­ren die Wachs­fi­gu­ren auch in­ter­essant …

Er stieg die Stu­fen hin­un­ter und stieß ei­ne dunkle Tür auf. Ei­ne an­ge­neh­me Wär­me ström­te ihm ent­ge­gen.

Er be­fand sich in ei­nem schwach er­leuch­te­ten Vor­raum und schau­te in die Rich­tung, aus der sich schlur­fen­de Schrit­te nä­her­ten.

Ein klei­ner, fet­ter Mann mit ei­ner schmie­ri­gen Müt­ze tauch­te aus dem Hin­ter­grund auf. Er kas­sier­te drei Fran­cs Ein­tritt und drück­te mit ei­nem Ach­sel­zu­cken sein wort­lo­ses Er­stau­nen über einen Be­su­cher zu die­ser Zeit aus.

Bert­rand hing sei­nen feuch­ten Man­tel über einen Ha­ken und rümpf­te un­be­wußt die Na­se. Die mod­ri­ge Luft, die ihm ent­ge­gen­ström­te und die sich jetzt mit dem spe­zi­el­len Ge­ruch ver­misch­te, der von feuch­ten Klei­dungs­stücken, die in einen war­men Raum kom­men, aus­geht, bil­de­te den ty­pi­schen ›Mu­se­ums­ge­ruch‹.

Als Bert­rand jetzt auf die große Tür zu­ging, die zu der Aus­stel­lung führ­te, merk­te er, wie die Me­lan­cho­lie, die ihn im Ne­bel be­fal­len hat­te, nun vollends von ihm Be­sitz er­griff. Hier im Halb­dun­kel konn­te er sei­nen De­pres­sio­nen frei­en Lauf las­sen. Er er­ging sich in Selbst­mit­leid, hilflo­sem Zy­nis­mus, un­aus­ge­go­re­nen Ra­che­ge­dan­ken und wie­der in Selbst­mit­leid. Sein Geist sehn­te sich nach et­was Mor­bi­dem, sei­ne Ge­dan­ken schwam­men in ei­nem Meer von Ein­sam­keit … schwam­men in ei­nem Meer von Ein­sam­keit … das muß­te er sich un­be­dingt mer­ken. Er könn­te es viel­leicht ein­mal dich­te­risch ver­wer­ten …

Mit ei­nem Wort: Un­ser Poet war ge­nau in der rich­ti­gen Stim­mung für ein Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett. Und ganz be­son­ders für die­ses hier, das einen Streif­zug durch die Greu­el­ta­ten der Ge­schich­te dar­stell­te.

Als Bert­rand ir­gend­wann ein­mal ei­ni­ges Geld bei­sam­men ge­habt hat­te, hat­te er in weib­li­cher Be­glei­tung das be­rühm­te Ka­bi­nett der Ma­da­me Tussaud auf­ge­sucht. Sei­ne Er­in­ne­run­gen an die­sen Be­such wa­ren et­was ver­schwom­men, denn er war da­mals mehr von dem Char­me der jun­gen Da­me als von den ver­blüf­fend ›le­ben­di­gen‹ Wachs­fi­gu­ren hin­ge­ris­sen ge­we­sen. Aber so­weit er sich er­in­ner­te, han­del­te es sich bei die­sen Fi­gu­ren um his­to­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten oder Per­so­nen der Zeit­ge­schich­te. Er glaub­te sich an ei­ni­ge Ge­nerä­le, Staats­män­ner und Film­schau­spie­ler zu er­in­nern. Das war bis­her Bert­rands ein­zi­ge Be­kannt­schaft mit Wachs­fi­gu­ren ge­we­sen, wenn man von den ab­scheu­li­chen Wachs­klum­pen ab­sieht, die er in sei­ner weit zu­rück­lie­gen­den Ju­gend­zeit ein­mal in ei­nem Wan­der­zir­kus ge­se­hen har­te (Bert­rand war jetzt drei­und­zwan­zig).

Aber ein kur­z­er Blick ge­nüg­te, um fest­zu­stel­len, daß sich die­se Wachs­fi­gu­ren hier von al­len an­de­ren grund­sätz­lich un­ter­schie­den.

Bert­rand be­trat einen lang­ge­streck­ten, brei­ten Raum. Er blieb einen Au­gen­blick ver­blüfft ste­hen, denn er hat­te ei­ne so groß­zü­gi­ge An­la­ge der Aus­stel­lung in die­ser Ge­gend nicht ver­mu­tet. Aber der Raum war nied­rig, und der Ne­bel, den man hin­ter den schma­len Fens­tern se­hen konn­te, ließ die oh­ne­hin schon schwa­che Be­leuch­tung noch dürf­ti­ger er­schei­nen. Doch die­ses Schum­mer­licht un­ter­strich wir­kungs­voll die düs­te­re At­mo­sphä­re. Ei­ne Gar­de stum­mer wei­ßer Fi­gu­ren hob sich von den schmut­zi­gen Wän­den ab – Fi­gu­ren, die ih­re star­ren Bli­cke auf Bert­rand ge­rich­tet zu ha­ben schie­nen, Fi­gu­ren, die mu­mi­fi­ziert, ver­stei­nert, ver­knö­chert und in der Be­we­gung ein­ge­fro­ren wa­ren …

Als Bert­rand hin­aus­ras­te, um sich einen Ka­ta­log zu kau­fen, ge­stand er sich selbst schuld­be­wußt ein, daß er das nur tat, um den ers­ten Ein­druck, den die­se Wachs­fi­gu­ren auf ihn ge­macht hat­ten, zu ver­dau­en.

Denn die Fi­gu­ren schie­nen nicht nur in ih­rer Be­we­gung er­starrt zu sein; ih­re Hal­tung drück­te auch – ei­ne un­heim­li­che Er­war­tung aus. Es schi­en, als wä­ren sie ge­ra­de ge­stor­ben oder als wä­ren sie bei ih­rer Tä­tig­keit plötz­lich zu Eis er­starrt und je­den Au­gen­blick könn­te das Eis an­fan­gen zu schmel­zen.

Sie wirk­ten un­heim­lich na­tür­lich. Und soll­ten sie wirk­lich ir­gend­wel­che Feh­ler ha­ben, so wür­den sie durch die Licht­ef­fek­te nicht ins Au­ge fal­len.

Bert­rand straff­te die Schul­tern und be­gann sei­nen Rund­gang. Er wid­me­te sich zu­erst der lin­ken Wand und schau­te sich je­de ein­zel­ne Ge­stalt oder Fi­gu­ren­grup­pe ge­nau an.

Die gan­ze Aus­stel­lung war ei­ne Ver­an­schau­li­chung des Grau­ens. Das Ver­bre­chen war The­ma Num­mer eins. Und es wa­ren die grau­en­volls­ten und per­ver­ses­ten Mord­fäl­le, die bild­lich dar­ge­stellt wur­den. Man konn­te se­hen, wie sich der Un­mensch Land­ru nachts über sei­ne schla­fen­de Frau stürz­te und wie der wahn­sin­ni­ge To­lours im Kel­ler mit ei­nem blu­ti­gen Mes­ser in der Hand sei­nem klei­nen Sohn auf­lau­er­te. Dann gab es ein Ru­der­boot, in dem drei Män­ner wa­ren. Ei­ner von ih­nen hat­te kei­ne Ar­me, kei­ne Bei­ne und kei­nen Kopf, wäh­rend sich die bei­den an­de­ren an ei­nem kan­ni­ba­li­schen Fest­schmaus er­götz­ten … Gil­les de Retz stand vor dem Al­tar. Er hielt ei­ne Scha­le an sei­ne Lip­pen, sein Bart war vom Blut rot ge­färbt, und sein Op­fer lag zer­ris­sen vor sei­nen Fü­ßen … Ei­ne Frau, die man in ei­nem Ker­ker an ein Rad ge­bun­den hat­te, krümm­te sich halb wahn­sin­nig vor Angst und starr­te mit gla­si­gen Au­gen auf die Rat­ten, die sie um­kreis­ten … Ei­nem Mann, der am Gal­gen hing, wur­de bei noch le­ben­di­gem Lei­be die Haut ab­ge­zo­gen … Der Mör­der Vardac wur­de fest­ge­nom­men. Ne­ben ihm stand ein Kof­fer, aus dem ein ro­tes Rinn­sal lief …

Die gan­zen Dar­stel­lun­gen wie­sen ei­ne teuf­li­sche Per­fek­ti­on auf.

Es über­lief Bert­rand ein eis­kal­ter Schau­er, als er das al­les be­trach­te­te. Es wa­ren we­ni­ger die Sze­nen als sol­che, die ihm Un­be­ha­gen ein­flö­ßten, als die na­tur­ge­treue Wie­der­ga­be. Der­je­ni­ge, der die Fi­gu­ren ge­formt hat­te, muß­te die Greu­el­ta­ten wahr­lich echt nach­emp­fun­den ha­ben. Au­ßer­dem muß­te er sich ge­nau in­for­miert ha­ben, denn je­der Hand­griff, je­de win­zi­ge Klei­nig­keit wirk­te ab­so­lut au­then­tisch. Der Schöp­fer hat­te sei­nen Fi­gu­ren et­was ein­ge­haucht, was ei­ne frap­pan­te Ähn­lich­keit mit dem Le­ben hat­te. Nicht nur die Hal­tung der Fi­gu­ren wirk­te so echt, son­dern auch der Ge­sichts­aus­druck. Sie starr­ten ver­schla­gen, lüs­tern und bö­se, ih­re Ge­sich­ter wa­ren vor Angst oder im To­des­kampf ver­zerrt. Ih­re Au­gen schie­nen den Be­schau­er durch­boh­ren zu wol­len, die Haa­re fie­len ih­nen ganz na­tür­lich ins Ge­sicht, und ih­re Lip­pen schie­nen wie durch einen war­men Atem­hauch ge­öff­net.

Je­der der Dar­ge­stell­ten leb­te für al­le Zei­ten in der Pha­se des Grau­ens, die sei­ne Exis­tenz im Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett be­grün­de­te und bei der zu Leb­zei­ten sei­ne See­le ver­dammt wur­de.

Bert­rand schau­te sich al­les ge­nau an. Ne­ben je­der Dar­stel­lung war ein Schild an­ge­bracht, auf dem in schwüls­ti­gen Wor­ten der Her­gang der blu­ti­gen Miss­e­tat aus­führ­lich be­schrie­ben wur­de.

Bert­rand las die gan­zen Be­schrei­bun­gen. Er wuß­te, daß das bil­ligs­te Sen­sa­ti­ons­ma­che war. Ähn­li­ches konn­te man nur in den übels­ten Re­vol­ver­blät­tern fin­den, die in ih­ren Be­rich­ten zum Ent­zücken ih­rer schwach­sin­ni­gen Le­ser im Blut wa­te­ten. Und trotz­dem konn­te sich Bert­rand des Ge­fühls nicht er­weh­ren, daß ir­gend­wie et­was Groß­ar­ti­ges von den schau­er­li­chen Ge­stal­ten und Dar­stel­lun­gen aus­ging. Die Dra­men strahl­ten ei­ne In­ten­si­tät und Hem­mungs­lo­sig­keit aus, die sich im all­täg­li­chen Le­ben je­der scheu­en wür­de, zu zei­gen. Er frag­te sich, ob die­se Zü­gel­lo­sig­keit nur ei­ne wei­te­re At­trak­ti­on für den sen­sa­ti­ons­hung­ri­gen Be­su­cher dar­stel­len soll­te oder nicht. Viel­leicht soll­te dem Be­schau­er der Un­ter­schied zwi­schen dem Ver­bre­cher­le­ben und sei­nem ei­ge­nen red­li­chen, aber ziem­lich lang­wei­li­gen Le­ben mit al­ler Deut­lich­keit ein­ge­häm­mert wer­den. Bert­rand zog den Kopf ein, als ihm plötz­lich zum Be­wußt­sein kam, daß die dar­ge­stell­ten Sze­nen in Wirk­lich­keit statt­ge­fun­den hat­ten und daß die Fi­gu­ren Nach­bil­dun­gen von Per­so­nen wa­ren, die wirk­lich ein­mal ge­lebt hat­ten. Und es gab an hun­dert ver­bor­ge­nen Or­ten sol­che Men­schen heu­te noch! Denn die Mör­der, Räu­ber und die wahn­sin­ni­gen Un­hol­de wa­ren nicht aus­ge­stor­ben. Selbst jetzt, in die­sem Au­gen­blick, moch­te ein Mann mit ei­nem Mes­ser im Ne­bel auf sein Op­fer lau­ern.

Man­che wur­den ge­faßt, an­de­re ka­men da­von und konn­ten un­ge­stört wei­ter­mor­den …

Un­ser jun­ger Poet stu­dier­te ein­ge­hend ei­ne schau­er­li­che Dar­stel­lung nach der an­de­ren. Er hat­te kei­ne Ei­le, denn der Ne­bel hin­ter den Fens­tern war noch so dicht, daß Bert­rand kei­ne Lust ver­spür­te, sich auf den Heim­weg zu ma­chen. Er ver­brach­te viel Zeit da­mit, die Per­fek­ti­on der Fi­gu­ren zu be­stau­nen. Er nä­her­te sich lang­sam der rech­ten Wand, die der Wie­der­ga­be der ge­schicht­lich er­wie­se­nen Ver­bre­chen ge­wid­met war. Dar­stel­lun­gen von Ver­bren­nun­gen, Plün­de­run­gen, Fol­ter­kam­mern und Blut­bä­dern reih­ten sich an­ein­an­der. Auch hier konn­te Bert­rand dem Schöp­fer die­ser Sze­nen sei­ne Be­wun­de­rung nicht vor­ent­hal­ten. Die his­to­ri­schen Ko­stü­me wa­ren durch und durch sti­lecht. Als Bert­rand den Herr­scher Cä­sar, der sich ge­ra­de in ei­ner Fol­ter­kam­mer die Zeit ver­trieb, ein­ge­hend be­trach­te­te, kam ihm in den Sinn, daß die Her­stel­lung von Wachs­fi­gu­ren be­stimmt nicht ein­fach war, denn sie er­for­der­te ne­ben ei­nem künst­le­ri­schen Ge­schick auch ein be­trächt­li­ches Maß an Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und ei­ne mehr als durch­schnitt­li­che All­ge­mein­bil­dung.

Dann sah er sie. Sie stand sehr auf­recht und wirk­te un­ge­mein an­zie­hend. Sie ver­ein­te al­les in sich: Sie war ein Mäd­chen, ei­ne Frau, ger­ten­schlank und hat­te da­bei doch je­ne Run­dun­gen, von de­nen ein Mann nachts träumt.

Bert­rands Au­gen hef­te­ten sich an die sicht­ba­ren Vor­zü­ge der Da­me, aber sein poe­ti­sches Ge­fühl muß­te für die­se Vor­zü­ge ro­man­ti­sche Ver­glei­che fin­den. Dem­nach glich ihr herr­li­ches kas­ta­ni­en­brau­nes Haar ei­ner kar­me­sin­ro­ten Wol­ke, ihr lä­cheln­des, schma­les Ge­sicht der Mas­ke ei­ner Zau­be­rin, und ih­re star­ren blau­en Au­gen gli­chen zwei Tei­chen, in de­nen je­de See­le ver­sin­ken muß­te. Ih­re halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen schie­nen Sinn­lich­keit zu ver­hei­ßen. Sie trug ein hauch­dün­nes, mit Stei­nen be­setz­tes Kleid, das nur da­zu diente, die Schön­heit ih­res vollen­de­ten wei­ßen Kör­pers zu un­ter­strei­chen.

Sie war bei ge­nau­er Be­trach­tung schon ei­ne sehr hüb­sche rot­haa­ri­ge Frau – aber sie war aus Wachs. Sie war aus dem­sel­ben ge­wöhn­li­chen Wachs wie zum Bei­spiel Jack the Rip­per ge­formt. Sie stand auf Ze­hen­spit­zen und hielt in ih­ren aus­ge­streck­ten Hän­den ei­ne sil­ber­ne Scha­le. Sie stand vor Kö­nig He­ro­des Thron. Denn sie war Sa­lo­me, die wei­ße He­xe mit den sie­ben Schlei­ern.

Bert­rand starr­te in ihr ver­derb­tes ova­les Ge­sicht. Ih­re Au­gen schie­nen sei­nen Blick leicht be­lus­tigt zu­rück­zu­ge­ben. Er glaub­te noch nie ein We­sen ge­se­hen zu ha­ben, das so schön war und ihm gleich­zei­tig sol­chen Schre­cken ein­flö­ßte. In der Scha­le, die ih­re schlan­ken Hän­de um­faß­ten, ruh­te in ei­ner Blut­la­che das Haupt von Jo­han­nes dem Täu­fer.

Bert­rand war un­fä­hig, sich von der Stel­le zu rüh­ren. Er starr­te nur im­mer die Frau an. Ihn über­kam das wun­der­li­che Ver­lan­gen, die­se Frau an­zu­spre­chen. Ihr muß­te sein stum­mer, glot­zen­der Blick fle­gel­haft vor­kom­men, denn ihr Ge­sicht schi­en Spott aus­zu­drücken. So re­de doch end­lich! for­der­ten ih­re star­ren Au­gen.

Und er woll­te re­den. Er woll­te ihr sa­gen, daß er sie lieb­te.

Die­se blitz­ar­ti­ge Er­kennt­nis traf Bert­rand wie ein Peit­schen­hieb. Er lieb­te sie! Er lieb­te sie mit ei­ner plötz­li­chen Lei­den­schaft, die jen­seits al­ler Vor­stel­lun­gen lag. Er be­gehr­te die­se Frau, die doch nichts wei­ter war als ei­ne Wachs­fi­gur. Ihr An­blick ver­ur­sach­te ihm einen fast kör­per­li­chen Schmerz, der sich ins schier Un­er­träg­li­che stei­ger­te, als ihm klar zum Be­wußt­sein kam, daß sie völ­lig un­er­reich­bar war.

Das war schon mehr als ei­ne Iro­nie des Schick­sals: Er hat­te sich un­s­terb­lich in ei­ne Wachs­fi­gur ver­liebt!

Er muß­te wahr­lich ver­rückt sein! Aber ir­gend­wie fand un­ser Dich­ter Bert­rand das Gan­ze auch wie­der un­ge­mein ro­man­tisch. Welch ge­wöhn­li­chem Sterb­li­chen wi­der­fuhr schon so et­was?

Es gab na­tür­lich ei­ni­ge ähn­lich ge­la­ger­te Fäl­le in der Mensch­heits­ge­schich­te. Er hat­te schon von meh­re­ren ef­fekt­voll auf­ge­bausch­ten Va­ria­tio­nen die­ses The­mas, das so alt wie Le­da und der Schwan war, ge­hört.

Aber Bert­rand stell­te mit ei­ner ge­wis­sen Ver­zweif­lung fest, daß es ihm gar nichts nütz­te, sich die­se Ge­schich­ten ins Ge­dächt­nis zu ru­fen. Er lieb­te die­se Frau. Er lieb­te ih­re Schön­heit und das Grau­en, das von ihr aus­ging. Und er wür­de sie für al­le Zei­ten lie­ben. Un­ser Dich­ter Bert­rand ge­hör­te nun ein­mal zu die­ser Ka­te­go­rie von Poe­ten!

Als er wie er­wa­chend sei­nen Blick von ihr lös­te, stell­te er mit Er­stau­nen fest, daß der dich­te Ne­bel hin­ter den Fens­tern ver­schwun­den war und daß sich statt des­sen ein paar zag­haf­te Son­nen­strah­len ih­ren Weg in die­sen düs­te­ren, ge­spens­tisch an­mu­ten­den Raum bahn­ten. Wie lan­ge moch­te er hier ge­stan­den ha­ben?

Nach­dem Bert­rand einen letz­ten see­len­vol­len Blick auf den Ge­gen­stand sei­ner An­be­tung ge­wor­fen hat­te, wand­te er sich ab.

»Ich kom­me wie­der«, flüs­ter­te er. Dann er­rö­te­te er schuld­be­wußt und has­te­te durch die Hal­le auf die Tür zu, die ins Freie führ­te.

 

Und er kam wie­der. Am nächs­ten Tag, am über­nächs­ten Tag und an den dar­auf­fol­gen­den Ta­gen.

Das auf­ge­schwemm­te graue Ge­sicht des klei­nen, di­cken Man­nes, der stän­dig in der Ein­gangs­hal­le zu sit­zen schi­en, wur­de ihm all­mäh­lich ge­nau­so ver­traut wie das gan­ze ver­staub­te Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett selbst.

Er stell­te fest, daß sich in die­ses Mu­se­um nur we­ni­ge Be­su­cher ver­irr­ten, und fand her­aus, daß der Nach­mit­tag die güns­tigs­te Zeit für sei­ne An­be­tung war.

Denn es war An­be­tung, was er be­trieb!

Er konn­te lan­ge Zeit schwei­gend vor der ge­heim­nis­voll lä­cheln­den Fi­gur ste­hen und ver­zückt in ih­re Au­gen star­ren, die ei­ne un­na­tür­li­che Grau­sam­keit aus­drück­ten. Manch­mal mur­mel­te er ei­ni­ge Zei­len der Ver­se, die er sich nachts ab­ge­run­gen hat­te; manch­mal stam­mel­te er Lie­bes­be­schwö­run­gen in ih­re wäch­ser­nen Oh­ren. Doch die rot­haa­ri­ge Sa­lo­me starr­te nur stumm zu­rück. Sie nahm sein De­li­ri­um le­dig­lich mit ei­nem un­er­gründ­li­chen Lä­cheln zur Kennt­nis. Es war selt­sam, aber bis zu dem Ta­ge, an dem Bert­rand mit dem klei­nen, fet­ten Mann ins Ge­spräch kam, war er nie auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, sich über sei­ne An­ge­be­te­te ein­ge­hen­der zu in­for­mie­ren. Ei­nes Ta­ges schlurf­te der un­för­mi­ge grau­haa­ri­ge Mann durch die Däm­me­rung auf Bert­rand zu und stell­te sich ne­ben ihn.

Er un­ter­brach Bert­rands Träu­me­rei­en so un­sanft, daß un­ser lie­bes­kran­ker Poet er­schro­cken zu­sam­men­fuhr und den Stö­ren­fried miß­bil­li­gend an­schau­te.

»Ganz hübsch, nicht?« be­gann der Grau­haa­ri­ge das Ge­spräch. Er hat­te je­ne vul­gä­re Stim­me, die solch ge­fühl­lo­sen Töl­peln im all­ge­mei­nen zu ei­gen ist. »Ich ha­be sie nach dem Eben­bild mei­ner Frau ge­formt, müs­sen Sie wis­sen.«

Sei­ner Frau! Die­ses hin­rei­ßen­de We­sen soll­te die Frau die­ses arm­se­li­gen fet­ten Würst­chens sein? Bert­rand glaub­te nun wirk­lich, den Ver­stand zu ver­lie­ren; doch die fol­gen­den Wor­te des Al­ten be­ru­hig­ten ihn wie­der ein we­nig.

»Na­tür­lich vor vie­len Jah­ren, müs­sen Sie wis­sen …«

Bert­rand hol­te tief Luft. Es gab sie al­so wirk­lich! Sein Herz be­gann wie ra­send zu häm­mern. Sie leb­te. Sie at­me­te. Sie exis­tier­te … »Ja – vor vie­len Jah­ren … aber sie ist na­tür­lich schon lan­ge tot, müs­sen Sie wis­sen …«

Tot! Ge­stor­ben! Un­er­reich­bar wie eh und je! Für ihn blieb nichts als die­se leb­lo­se wäch­ser­ne Hül­le …

Bert­rand fühl­te den un­wi­der­steh­li­chen Drang, mit die­sem fet­ten Al­ten zu re­den. Er muß­te al­les aus ihm her­aus­ho­len. Es gab so vie­les, was er wis­sen muß­te. Doch er brauch­te es gar nicht aus dem an­de­ren »her­aus­zu­ho­len«, denn die Ein­sam­keit hat­te den klei­nen Mann ge­schwät­zig ge­macht. Er re­de­te mit sei­ner ge­wöhn­li­chen Stim­me un­auf­ge­for­dert wei­ter.

»Ist mir ganz gut ge­lun­gen, nicht?« frag­te er stolz und leg­te den Kopf zur Sei­te. Bert­rand fand den Blick, mit dem der Al­te die Wachs­fi­gur be­trach­te­te, aus­ge­spro­chen wi­der­wär­tig. Denn der an­de­re nahm nicht die Schön­heit der Frau wahr, son­dern er­freu­te sich nur an der Fi­gur, die er ge­schaf­fen hat­te. Er be­wun­der­te nicht die Frau, son­dern das Wachs. »Mein bes­tes Stück«, mur­mel­te er selbst­zu­frie­den.

Und zu den­ken, daß er sie einst be­ses­sen hat­te …

Die Herz­lo­sig­keit des Man­nes er­reg­te Bert­rands Übel­keit. Doch der Al­te schi­en das nicht zu be­mer­ken. Er über­schüt­te­te Bert­rand mit ei­nem Wort­schwall, wo­bei sei­ne flin­ken Au­gen un­abläs­sig zwi­schen der Sta­tue und Bert­rand hin- und her­wan­der­ten.

Mon­sieur schei­ne sich für das Mu­se­um sehr zu in­ter­es­sie­ren, wie? Mon­sieur sei ein sehr eif­ri­ger Be­su­cher … Al­les gu­te Ar­beit, wie? Er, Pi­er­re Jac­que­lin, hät­te je­des Stück selbst an­ge­fer­tigt. O ja, er hät­te in den letz­ten acht Jah­ren das Wachs­fi­gu­ren­ge­schäft weiß Gott er­lernt. Mit­ar­bei­ter wä­ren ihm im­mer zu teu­er ge­we­sen; er hät­te sie sich dar­um nicht leis­ten kön­nen. Und dar­um hät­te er al­les al­lei­ne ge­macht. Aber die Mü­he hät­te sich ge­lohnt. Vie­le Leu­te hät­ten ihm schon ge­sagt, daß sich sei­ne Wachs­fi­gu­ren mit de­nen von Ma­da­me Tussaud mes­sen könn­ten. Der An­sicht wä­re er na­tür­lich sel­ber auch, aber man hört so et­was gern von an­de­ren, wie? Er könn­te selbst­ver­ständ­lich sei­ne Fi­gu­ren und Grup­pen bei Ma­da­me Tussaud un­ter­brin­gen, aber er wür­de es vor­zie­hen, sein ei­ge­nes ru­hi­ges Ge­schäft zu füh­ren. Auf die­se Wei­se wür­de er zwar nicht welt­be­rühmt wer­den … aber man könn­te doch nicht ab­strei­ten, daß die Fi­gu­ren gut wä­ren, wie? Sei­ne me­di­zi­ni­schen Kennt­nis­se wür­den ihm da­bei zu­stat­ten kom­men … o ja, er hät­te me­di­zi­ni­sche Kennt­nis­se, denn vor lan­ger Zeit wä­re er ein­mal Dr. Jac­que­lin ge­we­sen …

Mon­sieur be­wun­de­re sei­ne Frau, wie? Nun ja, das wä­re nicht sehr ver­wun­der­lich, denn das hät­ten an­de­re vor ihm auch schon ge­tan. Sie wä­ren auch re­gel­mä­ßig ge­kom­men.

Er hob be­schwich­ti­gend die Hän­de. Mon­sieur brauch­te das nicht ab­zu­strei­ten. Er, Jac­que­lin, wä­re nicht so tö­richt, auf ei­ne Wachs­fi­gur ei­fer­süch­tig zu sein. Aber es wä­re trotz­dem ei­gen­ar­tig, daß so vie­le Män­ner zu ihr kämen; von de­nen ei­ni­ge noch nicht ein­mal et­was über das Ver­bre­chen zu wis­sen schie­nen …

Das Ver­bre­chen? Bert­rand horch­te auf. Ir­gend et­was lag bei der Er­wäh­nung des Ver­bre­chens in der Stim­me des al­ten Man­nes, das Bert­rand ver­an­laß­te, Fra­gen zu stel­len.

Und der Al­te war nur zu gern be­reit, die Ant­wort zu ge­ben.

»Soll­te es mög­lich sein, daß Sie da­von nichts wis­sen?« frag­te er mit leich­tem Er­stau­nen in der Stim­me. Doch dann fuhr er rasch fort: »Aber na­tür­lich – die Zeit ver­geht, und die Pres­se­be­rich­te von da­mals ge­ra­ten in Ver­ges­sen­heit. … Die gan­ze Ge­schich­te war al­les an­de­re als er­freu­lich … Als al­les vor­bei war, woll­te ich nichts wei­ter als mei­ne Ru­he ha­ben. Das ge­lang mir auch präch­tig, weil man mich zwang, mei­ne Pra­xis auf­zu­ge­ben. Dar­auf­hin ha­be ich al­le Brücken hin­ter mir ab­ge­bro­chen und … nun ja, so lan­de­te ich schließ­lich hier. Ihr ha­be ich das al­les zu ver­dan­ken …«

Er deu­te­te mit dem Kopf auf die Sta­tue und ver­zog sei­nen Mund.

»Sie nann­ten es da­mals den Jac­que­lin-Fall. We­gen mei­ner Frau, müs­sen Sie wis­sen. Ich hat­te bis zur Ge­richts­ver­hand­lung nicht die lei­ses­te Ah­nung. Als ich sie hei­ra­te­te, war sie noch sehr jung und zu­dem sehr al­lein in Pa­ris. Ich wuß­te nichts von ih­rer Ver­gan­gen­heit. Ich hat­te ei­ne Pra­xis, die den größ­ten Teil mei­ner Zeit in An­spruch nahm. Mir war nie­mals auch nur der kleins­te Ver­dacht ge­kom­men, daß mit ihr et­was nicht stim­men könn­te … Sie hat­te ei­ne krank­haf­te Ver­an­la­gung, Mon­sieur, müs­sen Sie wis­sen. Mir als Arzt hät­ten ge­wis­se Klei­nig­kei­ten auf­fal­len müs­sen … Aber ich war nicht ihr Arzt, son­dern ihr Mann. Ich lieb­te sie und dach­te mir nichts wei­ter.

Dann brach­te ich ei­nes Ta­ges einen mei­ner Pa­ti­en­ten ins Haus. Einen al­ten Mann, der sehr krank war. Sie pfleg­te ihn mit auf­op­fern­der Für­sor­ge … Aber als ich ei­nes Nachts spät nach Hau­se kam, war er tot. Sie hat­te sei­ne Keh­le mit ei­nem Ope­ra­ti­ons­mes­ser durch­schnit­ten. Wenn ich nicht laut­los hin­ter sie ge­tre­ten wä­re und mich auf sie ge­stürzt hät­te, hät­te sie wei­ter und wei­ter ge­schnit­ten … Sie wur­de von der Po­li­zei ab­ge­holt. Bei der Ge­richts­ver­hand­lung kam dann al­les her­aus. Das von dem jun­gen Bur­schen, den sie in Brest um die Ecke ge­bracht hat­te, und das von den bei­den Ehe­män­nern, die sie in Ly­on und Lie­ge ins Jen­seits be­för­dert hat­te. Sie gab noch zwei wei­te­re Mor­de zu und kam da­mit ins­ge­samt auf fünf – Ent­haup­tun­gen!

Für mich brach ei­ne Welt zu­sam­men. Das kön­nen Sie mir glau­ben. Ich war da­mals so viel jün­ger und un­er­fah­ren. Ich lieb­te sie. Und als sie zu­gab, daß sie mich als nächs­ten … da glaub­te ich … doch las­sen wir das. Sie wä­re ei­ne so gu­te Frau ge­we­sen, müs­sen Sie wis­sen, so ru­hig und sanft und lieb­lich … und Sie kön­nen mit ih­ren ei­ge­nen Au­gen se­hen, wie schön sie ge­we­sen ist. Und dann auf ein­mal zu ent­de­cken, daß sie wahn­sin­nig war. Ei­ne Mör­de­rin!

Mei­ne Frau – ei­ne Mör­de­rin! Und dann ih­re Art zu mor­den … es war schreck­lich.

Ich un­ter­nahm al­les, was in mei­nen Kräf­ten stand, denn – ich woll­te sie im­mer noch. Ich lieb­te sie – trotz al­lem. Ich weiß, daß das schwer zu er­klä­ren ist. Mein An­walt hat ver­sucht, auf Un­zu­rech­nungs­fä­hig­keit zu plä­die­ren. Aber es war al­les zweck­los. Sie wur­de ver­ur­teilt und auf die Guil­lo­ti­ne ge­schickt.«

Bert­rand starr­te den Al­ten an. Wie kann er die Ge­schich­te so schlecht er­zäh­len, dach­te er. Der Stoff bie­tet hin­rei­chen­de Mög­lich­kei­ten für ei­ne Tra­gö­die, und was macht er dar­aus? Ei­ne Far­ce. Warum kön­nen die Men­schen im­mer nur pro­sa­isch den­ken?

»Mei­ne Kar­rie­re als Arzt fand da­mit na­tür­lich ein plötz­li­ches En­de. Das war nach den Pro­zeß­be­rich­ten in den Zei­tun­gen auch nicht an­ders zu er­war­ten. Da ich nun ein­mal mei­ne Exis­tenz ver­lo­ren hat­te, muß­te ich mich nach et­was Neu­em um­se­hen. Nach ei­ni­gen Über­le­gun­gen fing ich hier­mit an …« Er mach­te mit der Hand ei­ne wei­taus­ho­len­de Be­we­gung.

»Ich hat­te in den Jah­ren mei­ner Arzt­tä­tig­keit et­was Geld zu­rück­le­gen kön­nen. Aber nicht von mei­nem Ein­kom­men als Arzt, son­dern von mei­ner ne­ben­be­ruf­li­chen Be­tä­ti­gung. Ich stell­te in mei­ner knap­pen Frei­zeit Wachs­fi­gu­ren her, die die Uni­ver­si­tä­ten für ih­ren me­di­zi­ni­schen An­schau­ungs­un­ter­richt brauch­ten. Mit die­sen Er­spar­nis­sen grün­de­te ich mein Mu­se­um.

Sie kön­nen mir glau­ben, daß mich mein Un­glück ganz schön aus dem Tritt ge­bracht hat­te, und ich war nicht ge­ra­de in ei­ner präch­ti­gen Ver­fas­sung, als ich hier an­fing. Da ich mich aber not­ge­drun­gen auf ein­mal mit dem Ver­bre­chen ha­be be­schäf­ti­gen müs­sen, nutz­te ich die­sen Um­stand we­nigs­tens für mich aus und blieb gleich da­bei. Mei­ne Er­fol­ge auf die­sem Ge­biet kön­nen Sie hier ge­gen Ein­tritts­geld be­wun­dern.«

Der Al­te mach­te den Ver­such, ar­ro­gant zu lä­cheln, um zu de­mons­trie­ren, daß sei­ne Ge­füh­le, von de­nen er eben be­rich­tet hat­te, seit lan­ger Zeit tot und be­gra­ben wä­ren. Dann stieß er Bert­rand in die Sei­te und fuhr mit be­ton­ter Lus­tig­keit fort:

»Und jetzt kommt das Schöns­te. Ich ha­be mir da­mals einen be­son­de­ren Gag aus­ge­dacht, auf den ich heu­te noch stolz bin. Wol­len Sie, daß ich es Ih­nen er­zäh­le, ja? Ich be­sorg­te mir von den Be­hör­den die Ge­neh­mi­gung, ins Lei­chen­haus ge­hen zu dür­fen. Die Hin­rich­tung mei­ner Frau hat­te sich so lan­ge hin­aus­ge­zö­gert, daß mein Ge­schäft hier in­zwi­schen schon recht gut flo­rier­te. Ich war in­zwi­schen mit der Tech­nik völ­lig ver­traut ge­wor­den. Als dann der Tag der Hin­rich­tung her­an­kam und die Guil­lo­ti­ne in Ak­ti­on ge­tre­ten war, ging ich so­fort ins Lei­chen­haus und fer­tig­te vom Kör­per mei­ner Frau ein Mo­dell an. Fin­den Sie nicht auch, daß das ein ech­ter Gag ist, wie? Sie, die die Köp­fe an­de­rer hat­te rol­len las­sen, war nun auch ih­ren ei­ge­nen los­ge­wor­den. Warum soll­te ich al­so aus ihr nicht Sa­lo­me ma­chen? Jo­han­nes der Täu­fer wur­de doch auch ent­haup­tet, nicht wahr? Glau­ben Sie mir, das war ein köst­li­cher Spaß!«

Das Ge­sicht des klei­nen Al­ten war ein­ge­fal­len. In sei­ne wäss­ri­gen grau­en Au­gen trat plötz­lich ein un­na­tür­li­cher Glanz.

»Aber viel­leicht war es doch nicht ganz so lus­tig, Mon­sieur. Um ehr­lich zu sein, muß ich sa­gen, daß ich es da­mals ein­zig und al­lein aus Re­van­che tat. Ich haß­te sie, weil sie mein Le­ben zer­stört hat­te, ich haß­te sie, weil ich sie trotz ih­rer un­ge­heu­er­li­chen Ta­ten im­mer noch lieb­te. Ich fand mei­ne da­ma­li­ge Hand­lungs­wei­se über­haupt nicht lus­tig – aber sie ver­schaff­te mir ei­ne ge­wis­se Ge­nug­tu­ung. Ich woll­te mei­ne Frau in Wachs ha­ben! Sie soll­te hier ste­hen, um mich im­mer an mein ver­pfusch­tes Le­ben zu er­in­nern, an mei­ne Lie­be und an ihr Ver­bre­chen.

Aber das ist al­les schon so lan­ge her. Die Welt hat es ver­ges­sen, und ich den­ke auch seit lan­gem nicht mehr dar­an. Heu­te ist sie für mich nichts wei­ter als ei­ne herr­li­che Fi­gur. Die bes­te, die ich je ge­schaf­fen ha­be. Ich ha­be das Ge­fühl, daß ich die­sen künst­le­ri­schen Hö­he­punkt nie wie­der er­rei­chen wer­de. Und Sie ge­ben doch zu, daß es sich hier­bei um Kunst han­delt, nicht? Ob­wohl ich die Ma­te­rie und die Tech­nik von Jahr zu Jahr bes­ser be­herr­sche, ha­be ich nie wie­der sol­che Per­fek­ti­on in der Aus­füh­rung er­reicht.

Und die Män­ner kom­men und star­ren sie an. Ich mei­ne, ge­nau­so, wie Sie sie an­star­ren. Ich glau­be, daß die we­nigs­ten ih­re Ge­schich­te ken­nen. Aber ich ga­ran­tie­re Ih­nen: Die Män­ner wür­den auch wie­der­kom­men, wenn sie Be­scheid wüß­ten. – Sie kom­men doch auch wie­der, Mon­sieur, nicht wahr?«

Bert­rand nick­te wie hyp­no­ti­siert. Dann wand­te er sich brüsk ab und ließ den Al­ten ste­hen. Er rann­te wie von Fu­ri­en ge­hetzt da­von. Er be­nahm sich wie ein Narr. Und er wuß­te es auch. Er ver­fluch­te sich, als er keu­chend von dem Mu­se­um und dem ver­haß­ten al­ten Mann fort­lief.

Er war wirk­lich ein Narr. Sein Herz schlug wie ver­rückt. Warum haß­te er den Mann – ih­ren Mann? Und warum haß­te er sie? Weil sie ein­mal ei­ne Frau aus Fleisch und Blut ge­we­sen war? Weil sie ge­mor­det hat­te? – Wenn die­se Ge­schich­te über­haupt stimm­te! Aber er wuß­te, daß sie stimm­te. Er er­in­ner­te sich dun­kel an den Fall Jac­que­lin. Er glaub­te ei­ni­ge Schlag­zei­len der da­ma­li­gen Zei­tungs­be­rich­te vor Au­gen zu se­hen, er glaub­te sich zu ent­sin­nen, daß er als klei­ner Jun­ge die Bou­le­vard­blät­ter, die die Ein­zel­hei­ten des Fal­les ein­ge­hend ge­schil­dert hat­ten, mit ei­nem an­ge­neh­men Schau­dern im Rücken ver­schlun­gen hat­te. Und warum hat­te er jetzt auf ein­mal das Ge­fühl, Fol­ter­qua­len zu er­lei­den? Was war sie schon? Nichts wei­ter als die Nach­bil­dung ei­ner Mör­de­rin in Wachs, die ihr klein­geis­ti­ger, ge­fühl­lo­ser Ehe­mann ge­schaf­fen hat­te. Was hat­te er da­ge­gen, daß an­de­re Män­ner sie eben­falls an­starr­ten? Wie kam er da­zu, die­se an­de­ren Män­ner zu has­sen?

War er im Be­griff, je­de Kon­trol­le über sich zu ver­lie­ren? Sein Ver­hal­ten war schon mehr als tö­richt. Es war ver­rückt.

Nie wie­der durf­te er das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett be­tre­ten. Nie wie­der! Er muß­te al­les über die To­te ver­ges­sen. Ihr ei­ge­ner Mann dach­te nicht mehr dar­an, und die Welt er­in­ner­te sich auch nicht mehr. Punkt. Aus. Er­le­digt. Er hat­te sei­nen Ent­schluß ge­faßt. Nie wie­der …

Er war sehr glück­lich, daß die Hal­le am nächs­ten Tag völ­lig aus­ge­stor­ben war, als er vor der schwei­gen­den rot­haa­ri­gen Schön­heit Sa­lo­mes stand und sie an­be­te­te.

 

Ein paar Ta­ge dar­auf stand Oberst Bert­roux völ­lig un­er­war­tet vor Bert­rands Woh­nungs­tür. Bert­roux, der ein gu­ter Freund der Fa­mi­lie war, glich eher ei­nem der­ben Bau­ern als ei­nem ehe­ma­li­gen Of­fi­zier. Es war für Bert­rand kein Kunst­stück, her­aus­zu­fin­den, daß ihm sei­ne be­sorg­ten El­tern den Oberst auf den Hals ge­schickt hat­ten, da­mit er ein ›erns­tes Wort‹ mit ihm re­den soll­te.

Das paß­te zu Bert­rands El­tern. Und der Oberst war ge­nau der Typ, der sol­che Art Auf­trä­ge mit Freu­de an­nahm. Er war schroff, pe­dan­tisch und hielt sich für ei­ne ab­so­lu­te Re­spekts­per­son. Er re­de­te Bert­rand mit ›mein lie­ber Jun­ge‹ an und ver­schwen­de­te kei­ne Zeit, auf den Kern­punkt sei­nes Be­su­ches zu kom­men. Er for­der­te Bert­rand auf, sei­ne ›Tor­hei­ten‹ zu un­ter­las­sen und mit ihm nach Hau­se zu fah­ren, wo er ein bür­ger­li­ches Le­ben be­gin­nen soll­te. Er, Bert­rand, ge­hö­re in die el­ter­li­che Metz­ge­rei und nicht in ei­ne Pa­ri­ser Dach­stu­be. Mit sei­nen poe­ti­schen Krit­ze­lei­en wür­de er nie auf einen grü­nen Zweig kom­men. Das ging in dem Stil wei­ter, bis Bert­rand der Kra­gen platz­te. Aber er konn­te ma­chen, was er woll­te, es ge­lang ihm nicht, den al­ten Mo­ral­pre­di­ger zu be­lei­di­gen. Er konn­te sich nicht ein­mal mit ihm strei­ten. Der un­ge­ho­bel­te Klotz war zu dumm, um sei­ne bis­si­gen Be­mer­kun­gen zu ver­ste­hen.

Der Oberst folg­te Bert­rand auf Schritt und Tritt. Wenn sie zum Es­sen gin­gen, hielt er es für selbst­ver­ständ­lich, daß Bert­rand für ihn zahl­te. Er hat­te zwar in ei­nem dritt­klas­si­gen Ho­tel in Bert­rands Nä­he ›Quar­tier be­zo­gen‹, aber er ver­brach­te die ers­te Nacht in Bert­rands Woh­nung und re­de­te un­un­ter­bro­chen auf un­se­ren Poe­ten ein. Er war fest da­von über­zeugt, daß der ›lie­be Jun­ge‹ nur auf sei­ne Weis­hei­ten ge­war­tet hat­te. Nach die­sem nächt­li­chen Ge­spräch gab es Bert­rand auf. Es hat­te kei­nen Sinn, Bert­roux mit Ar­gu­men­ten zu kom­men – der be­griff über­haupt nicht, was der Jün­ge­re mein­te.

Bert­rand war am nächs­ten Tag ge­ra­de im Be­griff, sich auf den Weg zum Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett zu ma­chen, als der Oberst wie­der auf­kreuz­te. Bert­rand such­te nach Aus­flüch­ten, aber Bert­roux ließ sich durch nichts da­von ab­hal­ten, Bert­rand zu be­glei­ten.

Als sie das Mu­se­um be­tra­ten, über­kam Bert­rand wie­der je­ne ge­heim­nis­vol­le Er­war­tung, die er sich nicht er­klä­ren konn­te, aber nach der er sich sehn­te. Er nahm die idio­ti­schen Kom­men­ta­re des Oberst über die dar­ge­stell­ten Ver­bre­chen über­haupt nicht zur Kennt­nis. Er ver­fiel, wie im­mer, in ei­ne Art Tran­ce­zu­stand.

Dann ka­men sie zu ihr. Bert­rand blieb wie an­ge­wur­zelt vor ihr ste­hen und sag­te kei­nen Ton. Da­für war die Spra­che sei­ner Au­gen um so be­red­ter. Ihr Blick schi­en noch spöt­ti­scher als sonst auf ihm zu ru­hen. Die Mi­nu­ten, wäh­rend der sie sich schwei­gend mit den Au­gen du­el­lier­ten, wur­den zur Ewig­keit.

Ir­gend­wann kehr­te Bert­rand in die Wirk­lich­keit zu­rück. Er er­wach­te lang­sam aus ei­nem Traum, der ihn ge­fes­selt und ver­zau­bert hat­te, und schau­te sich blin­zelnd um. Als sein Blick auf den Oberst fiel, riß er er­staunt die Au­gen auf.

Bert­roux stand noch im­mer ne­ben ihm und starr­te in Ge­dan­ken ver­sun­ken auf Sa­lo­me. Bert­rand war über den ge­bann­ten Blick des an­de­ren ver­blüfft. Der Oberst hat­te einen frem­den, ir­gend­wie fast ju­gend­lich wir­ken­den Ge­sichts­aus­druck. Es konn­te kein Zwei­fel dar­über be­ste­hen, daß er von der weib­li­chen Wachs­fi­gur fas­zi­niert war – ge­nau­so fas­zi­niert wie Bert­rand!

Der Oberst? Das war un­mög­lich! Das war ab­surd! Die­ses ro­bus­te Rauh­bein stand doch mit bei­den Bei­nen fest auf dem Bo­den der Wirk­lich­keit! Aber trotz­dem fühl­te Bert­rand, daß er sich nicht täusch­te. Der Oberst war ihr auch ver­fal­len!

Bert­rands ers­te Re­ak­ti­on war, laut zu la­chen. Aber als er einen zwei­ten Blick in das al­te ver­zück­te Ge­sicht warf, war er eher den Trä­nen na­he. Er ver­stand. Von der Frau ging et­was aus, das im Her­zen je­des Man­nes, gleich­gül­tig ob jung oder alt, Träu­me und ge­hei­me Sehn­süch­te und Wün­sche er­weck­te. Sie war so fern, so un­er­reich­bar und doch so fa­tal be­geh­rens­wert.

Bert­rand warf wie­der einen Blick auf sie. Al­les war wie im­mer: ih­re vor­ge­täusch­te Zer­brech­lich­keit, ih­re ver­lo­ge­ne Zärt­lich­keit und ih­re un­nach­ahm­li­che Gra­zie, mit der sie da­stand und in ih­ren aus­ge­streck­ten Hän­den den scheuß­li­chen ab­ge­schla­ge­nen Kopf hielt … Bert­rand hielt den Atem an. Et­was war nicht wie im­mer. Der scheuß­li­che Kopf – er war an­ders als sonst! Es war nicht das schwarz­haa­ri­ge Haupt mit den star­ren­den blau­en Au­gen, das er von sei­nen Be­su­chen her kann­te. Was hat­te das zu be­deu­ten?

Ei­ne Hand be­rühr­te sei­ne Schul­ter. Er fuhr her­um. Hin­ter ihm stand der klei­ne grau­haa­ri­ge Be­sit­zer des Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­netts und schau­te ihn er­war­tungs­voll an.

»Sie ha­ben es schon be­merkt, wie?« mur­mel­te er. »Der al­te Kopf ist durch einen be­dau­er­li­chen Zwi­schen­fall in die Brü­che ge­gan­gen. Ei­ner ih­rer – ih­rer Her­ren hat ver­sucht, sie mit sei­nem Schirm an­zu­sto­ßen. Da­bei ist der Kopf lei­der her­un­ter­ge­fal­len. Wäh­rend ich ihn re­pa­rie­re, ha­be ich die­sen Kopf hier als Er­satz ge­nom­men. Aber er be­ein­träch­tigt den Ge­samtein­druck, wie?«

Als Oberst Bert­roux sei­nen Blick lang­sam von der Sta­tue lös­te, wand­te sich der klei­ne grau­haa­ri­ge Mann eil­fer­tig an ihn.

»Ganz hübsch, nicht?« be­gann er. »Ich ha­be sie nach dem Eben­bild mei­ner Frau ge­formt, müs­sen Sie wis­sen.«

Dann folg­te in al­ler Aus­führ­lich­keit die gan­ze Schau­er­ge­schich­te, die er Bert­rand vor ei­ner Wo­che er­zählt hat­te. Er ver­kauf­te sie ge­nau­so schlecht und ge­brauch­te prak­tisch die­sel­ben Wor­te.

Bert­rand be­ob­ach­te­te, wie das Ge­sicht des Oberst im Ver­lau­fe der Er­zäh­lung im­mer mehr Ab­scheu und ei­ne auf­kom­men­de Übel­keit aus­drück­te. Er frag­te sich, ob er vor ei­ner Wo­che den­sel­ben Ge­sichts­aus­druck ge­habt ha­ben moch­te.

Als der klei­ne Grau­haa­ri­ge sei­ne Ge­schich­te be­en­det hat­te, be­nahm sich der Oberst ge­nau­so, wie er, Bert­rand, sich ver­hal­ten hat­te. Er mach­te auf den Ha­cken kehrt und ver­ließ ei­lig die Hal­le. Als Bert­rand ihm folg­te, spür­te er den spöt­ti­schen Blick des klei­nen Grau­haa­ri­gen in sei­nem Nacken. Sie ge­lang­ten auf die Stra­ße und gin­gen schwei­gend ne­ben­ein­an­der her. Bert­roux Ge­sicht hat­te im­mer noch einen ver­son­ne­nen Aus­druck. Als sie vor Bert­rands Haus stan­den, wand­te ihm der Oberst sein Ge­sicht zu. Sei­ne Stim­me klang ton­los.

»Ich fan­ge an, dich zu ver­ste­hen, mein Jun­ge. Ich wer­de dir mit mei­nen wohl­ge­mein­ten Ratschlä­gen nicht mehr auf die Ner­ven fal­len. Ich fah­re wie­der zu­rück.«

Er dreh­te sich brüsk um und ent­fern­te sich. Bert­rand blick­te dem Oberst, der ei­ne be­tont auf­rech­te Hal­tung an­ge­nom­men hat­te, nach­denk­lich nach.

Er hat­te mit kei­nem Wort das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett er­wähnt. Kei­ne Be­mer­kung über die Frau. Und doch wuß­te Bert­rand, daß der Oberst sie eben­falls lieb­te. Selt­sam. Aber war nicht die gan­ze Sa­che mehr als selt­sam? Fuhr der Oberst wirk­lich nur zu­rück – oder floh er?

Der fet­te Al­te hat­te sei­ne Ge­schich­te so her­un­ter­ge­ras­selt, als hät­te er sie aus­wen­dig ge­lernt. Ob das Gan­ze viel­leicht nichts an­de­res als ein aus­ge­mach­ter Schwin­del war? Ein fau­ler Trick des Be­sit­zers des Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­netts, um ei­ne be­stimm­te Art Be­su­cher zum Wie­der­kom­men zu ver­an­las­sen?

Ja, so muß­te es sein. Ir­gend je­mand hat­te dem Al­ten die­se Wachs­fi­gur ver­kauft, und er hat­te so­fort die Wir­kung er­kannt, die ih­re le­bens­na­he Schön­heit auf ein­sa­me Män­ner aus­übt. Er hat­te dann die Schau­er­ge­schich­te von der krank­haft ver­an­lag­ten Mör­de­rin aus­ge­tüf­telt, da­mit die An­we­sen­heit die­ser Frau­en­fi­gur in sei­nem Gru­sel­ka­bi­nett ge­recht­fer­tigt war. Den Fall als sol­chen moch­te es ein­mal ge­ge­ben ha­ben, aber der grau­haa­ri­ge Al­te sah nicht so aus, als wenn er je­mals der Ehe­mann ei­ner Mör­de­rin ge­we­sen wä­re. Nicht ihr Ehe­mann! Die­se Ge­schich­te war nichts wei­ter als ein Kö­der, um die Män­ner im­mer wie­der an­zu­lo­cken, da­mit sie ihr Geld bei ihm lie­ßen. Als Bert­rand mit sei­nen Über­le­gun­gen bei die­sem Punkt an­ge­langt war, rech­ne­te er im Geist die Fran­cs zu­sam­men, die er in­ner­halb der letz­ten Wo­chen in das Mu­se­um ge­tra­gen hat­te. Es kam ei­ne be­acht­li­che Sum­me zu­sam­men. Der Al­te war gar nicht so dumm!

Den­noch, die ei­gent­li­che At­trak­ti­on ging von der Fi­gur selbst aus. Sie war so atem­be­rau­bend schön, so le­ben­dig und so ver­lo­ckend, trotz oder ge­ra­de we­gen ih­rer Schlech­tig­keit. Sa­lo­me war ei­ne rot­haa­ri­ge He­xe; aber Bert­rand fühl­te, daß er dicht da­vor stand, ih­rem Ge­heim­nis auf die Spur zu kom­men. Er wür­de sehr bald ihr Lä­cheln und die Ver­zau­be­rung, die sie auf ihn aus­üb­te, ver­ste­hen.

Mit die­sen Ge­dan­ken ging er schla­fen. In den nächs­ten Ta­gen fing er an zu ar­bei­ten. Er be­gann ein über­schweng­li­ches Ge­dicht, das haupt­säch­lich von über­ra­schen­den Ver­spre­chun­gen und Er­fül­lun­gen han­del­te. Er schrieb oh­ne Pau­se.

Er war froh, daß der Oberst ab­ge­fah­ren war, und er war dank­bar, daß sie ihm half. Sie schi­en ihn zu ver­ste­hen. Sie muß­te ein­fach wirk­lich sein! Viel­leicht hat­te sie sein wil­des Ge­stam­mel ver­nom­men, das er in schlaflo­sen Näch­ten zu den Ster­nen ge­schickt hat­te. Viel­leicht war­te­te sie als Fee Mor­ga­na auf ei­ner In­sel Ava­lon für Poe­ten oder viel­leicht harr­te sie sei­ner im Fe­ge­feu­er für Poe­ten. Er wür­de sie fin­den …

Er ver­sprach es ihr, als er am nächs­ten Tag bei ihr war, und er dank­te ihr, daß sie Oberst Bert­roux ver­trie­ben hat­te. Als er ihr ei­ni­ge Zei­len sei­nes So­netts vor­trug, kam ihm plötz­lich zum Be­wußt­sein, daß die Au­gen des al­ten Grau­haa­ri­gen, der am Ein­gang der Hal­le stand, auf ihm ruh­ten.

Bert­rand hielt in sei­nem Ge­mur­mel in­ne und wur­de knall­rot vor Scham. Spio­nier­te ihm der Al­te nach? Wie oft moch­te er sich schon ins Fäust­chen ge­lacht ha­ben, wenn er die Pein der ar­men Teu­fel sah, die ih­rer Schön­heit ver­fal­len wa­ren? Ver­schrum­pel­ter al­ter Zwerg! Bert­rand knirsch­te in ohn­mäch­ti­ger Wut laut­los mit den Zäh­nen.

Er be­müh­te sich, nicht zu dem Al­ten zu se­hen, und be­trach­te­te ein­ge­hend den neu­en Kopf von Jo­han­nes dem Täu­fer. Er­satz­kopf – na schön. Er frag­te sich, wie es ge­kom­men sein moch­te, daß das Ori­gi­nal zer­bro­chen war. Der Al­te hat­te ir­gend et­was von ei­nem Narr mit ei­nem Re­gen­schirm ge­mur­melt. Er hat­te sie be­rüh­ren wol­len. Warum auch nicht? Sie war so wirk­lich und ge­gen­wär­tig, daß die­ser Wunsch ei­nes Man­nes na­he­lie­gend war. Bert­rand be­zwang nur sei­nen auf­kom­men­den Är­ger, daß es ein an­de­rer Mann ge­we­sen war …

Aber der Er­satz­kopf war gar nicht so übel. Er war sau­ber ge­ar­bei­tet und wirk­te so na­tür­lich wie der ers­te. Die ge­schlos­se­nen Au­gen des blon­den Jüng­lings wirk­ten fast noch schau­er­li­cher als der star­re Blick des an­de­ren. Es war halt nur nicht mehr Jo­han­nes der Täu­fer. Hm. Nun ja.

Der klei­ne Grau­haa­ri­ge starr­te un­ver­wandt zu ihm her­über.

Bert­rand fluch­te lei­se und wand­te sich von Sa­lo­me ab. Heu­te war ihm bei ihr kei­ne Ru­he ver­gönnt. Als er auf den Aus­gang zu­ging, be­müh­te er sich, den Ein­druck zu er­we­cken, als wä­re er mit sei­nen Ge­dan­ken ganz wo­an­ders. Er schau­te an­ge­strengt auf sei­ne Arm­band­uhr, um nicht den star­ren­den Al­ten an­bli­cken zu müs­sen. Da­bei prall­te er al­ler­dings ge­gen einen ein­tre­ten­den Be­su­cher. Er mur­mel­te ›Ver­zei­hung‹ und ging has­tig wei­ter.

Aber schon nach zwei Schrit­ten blieb er ruck­ar­tig ste­hen und schau­te sich um. Er starr­te mit wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen auf den brei­ten Rücken des Man­nes, den er eben an­ge­rem­pelt hat­te.

War er to­tal ver­rückt oder war das wirk­lich Oberst Bert­roux, der jetzt in die Hal­le ging?

Aber Bert­roux war doch ab­ge­fah­ren – oder viel­leicht nicht? Hat­te sie ihn zum Blei­ben ge­zwun­gen? Be­te­te der Oberst sie jetzt heim­lich an? So wie er, Bert­rand? Wie so vie­le an­de­re? Wür­de der fet­te Al­te jetzt den Oberst an­star­ren? Hat­te Sa­lo­me ein neu­es Op­fer ge­fun­den, das ihr ver­fal­len war? Bert­rand mach­te sich lang­sam und sehr nach­denk­lich auf den Weg nach Hau­se. In den nächs­ten Ta­gen ging er, in der Hoff­nung, den Oberst zu tref­fen, zu höchst un­ge­wöhn­li­chen Zei­ten in das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett. Er brann­te vor Neu­gier. Er woll­te mit dem Äl­te­ren re­den, woll­te von ihm er­fah­ren, ob er wirk­lich eben­falls von ei­ner Wachs­fi­gur be­tört wä­re.

Bert­rand hät­te sich na­tür­lich bei dem klei­nen, grau­haa­ri­gen Mu­se­ums­be­sit­zer nach sei­nem Freund er­kun­di­gen kön­nen, aber sei­ne ge­fühls­mä­ßi­ge Ab­nei­gung ge­gen den Al­ten hielt ihn da­von ab. Die­se Ab­nei­gung stei­ger­te sich all­mäh­lich zu Haß. Wenn die gan­ze Ge­schich­te ein Schwin­del war, haß­te er den Al­ten we­gen des Be­tru­ges; wenn sie stimm­te, haß­te er ihn, weil er ei­ne Schön­heit in den Ar­men ge­hal­ten hat­te, für die Bert­rand sein Le­ben ge­ge­ben hät­te, um sie zu be­sit­zen.

Als un­ser Poet heu­te das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett ver­ließ, schlu­gen sei­ne see­li­schen Qua­len in haus­ho­hen Wel­len über ihm zu­sam­men. Er haß­te das Mu­se­um, haß­te den Be­sit­zer mehr denn je, und er haß­te sie, weil sie ihn un­er­bitt­lich an sich fes­sel­te. Hat­te er das nö­tig, je­den Tag in die­ses dunkle Ver­lies zu ge­hen? Muß­te er da­hinve­ge­tie­ren, um nur in den Au­gen­bli­cken auf­zu­le­ben, in de­nen er ih­re star­re Schön­heit be­wun­dern durf­te? Soll­te er sich ein Le­ben lang an ei­ne Hoff­nung klam­mern, die nie­mals er­füllt wer­den konn­te? Muß­te er un­be­dingt das Bild­nis ei­ner Mör­de­rin lie­ben? Wie lan­ge soll­te das so wei­ter­ge­hen? Ein Seuf­zen ent­rang sich sei­ner Brust. Du lie­ber Gott, wie lan­ge noch?

 

Er schlepp­te sich die Trep­pen zu sei­nem Dach­zim­mer em­por. Der Schlüs­sel dreh­te sich quiet­schend im Schloß, und die Tür sprang knar­rend auf. Als Bert­rand ein­trat, starr­te er ver­blüfft auf sei­nen Be­su­cher – Oberst Bert­roux.

Der al­te Mann saß in dem ein­zi­gen Ses­sel der Be­hau­sung und hat­te sei­ne El­len­bo­gen auf den Tisch ge­stützt.

»Ent­schul­di­ge mein ge­walt­sa­mes Ein­drin­gen«, mur­mel­te der Oberst. »Ich ha­be mir mit ei­nem Diet­rich Zu­tritt ver­schafft, mein Jun­ge. Ich hät­te na­tür­lich auch drau­ßen auf dich war­ten kön­nen, aber ich zog es vor, in ei­nem ab­ge­schlos­se­nen Raum zu sein. Nimm es mir bit­te nicht übel.«

Bert­rouxs Ge­sicht war so ernst und sei­ne Stim­me so ein­dring­lich, daß Bert­rand es für an­ge­bracht hielt, er­staun­te Fra­gen über den un­er­war­te­ten Be­such zu un­ter­drücken.

Den­noch be­müh­te sich Bert­rand, die Ge­dan­ken, die ihm durch den Kopf schos­sen, in Wor­te zu fas­sen. Er woll­te na­tür­lich von dem Oberst hö­ren, warum er die Stadt nicht ver­las­sen hat­te und ob er wirk­lich der­je­ni­ge ge­we­sen wä­re, den Bert­rand neu­lich beim Ver­las­sen des Mu­se­ums zu er­ken­nen ge­glaubt hat­te.

Der Äl­te­re fühl­te die un­aus­ge­spro­che­nen Fra­gen und hob mit ei­ner mü­den Be­we­gung die Hän­de. Er deu­te­te Bert­rand an, auf der Couch Platz zu neh­men. Sein Ge­sicht trug Zü­ge der Er­schöp­fung, und sei­ne blau­en Au­gen la­gen tief in den Höh­len.

»Ich bin ger­ne be­reit, mein Ein­drin­gen hier zu er­klä­ren, mein Jun­ge«, be­gann er. »Aber ich möch­te zu­erst ein paar Fra­gen an dich rich­ten, die du mir ehr­lich be­ant­wor­ten mußt. Von dei­ner Ehr­lich­keit hängt al­les ab, mein Jun­ge.«

Bert­rand, der von dem Ernst sei­nes Be­su­chers ei­ni­ger­ma­ßen be­ein­druckt war, nick­te fei­er­lich.

»Als al­ler­ers­tes möch­te ich wis­sen, wie lan­ge du schon zu dem Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett gehst.«

»Seit un­ge­fähr ei­nem Mo­nat. Um ge­nau zu sein: Mor­gen vor ei­nem Mo­nat ha­be ich es zum ers­ten­mal auf­ge­sucht.«

»Wie kamst du über­haupt auf den Ge­dan­ken, in ei­ne sol­che – Aus­stel­lung zu ge­hen?«

Bert­rand be­rich­te­te von sei­nem da­ma­li­gen Spa­zier­gang im Ne­bel, wie ihn die Käl­te plötz­lich be­schli­chen hät­te und wie das Licht, das er dann ge­se­hen hät­te, für ihn gleich­be­deu­tend mit Wär­me und Ge­bor­gen­heit ge­we­sen wä­re.

Der Oberst hör­te ihm in­ter­es­siert zu.

»Hat der Be­sit­zer gleich beim ers­ten Be­such mit dir ge­spro­chen?«

»Nein.«

Der Oberst ge­riet mit sei­nen Fra­gen ins Sto­cken. Er schi­en die An­we­sen­heit des Jün­ge­ren für einen Au­gen­blick zu ver­ges­sen, schüt­tel­te den Kopf und mur­mel­te vor sich hin: »Selt­sam … von die­ser Wachs­fi­gur geht ei­ne ver­bor­ge­ne Kraft aus … und da­bei ha­be ich die­sen Quatsch von dä­mo­ni­schen, über­na­tür­li­chen Kräf­ten nie­mals ernst­ge­nom­men …«

Dann wur­de ihm die Ge­gen­wart des an­de­ren wie­der be­wußt, und er riß sich zu­sam­men. Er warf Bert­rand einen lan­gen Blick zu, zö­ger­te und frag­te dann sehr lang­sam:

»Dann war es al­so – sie –, die dich wie­der hin­ge­trie­ben hat?«

Es lag et­was in Bert­rouxs Stim­me, das Bert­rand ver­an­laß­te, die vol­le Wahr­heit zu sa­gen. Er fing sto­ckend an zu be­rich­ten, re­de­te im­mer has­ti­ger, bis die gan­ze Ge­schich­te aus ihm her­vor­brach. Er be­schö­nig­te nichts, und er ver­schwieg nichts. Als er er­schöpft am En­de war, seufz­te der Oberst schwer. Er starr­te auf den Bo­den. Dann räus­per­te er sich. »Ich ha­be mir das fast so ge­dacht, mein Jun­ge«, sag­te er. »Dei­ne Fa­mi­lie hat mich hier­her­ge­schickt, weil sie be­fürch­te­te, daß dich hier ir­gend et­was oder ir­gend­wer fest­hält. Es war mir klar, daß es sich um ei­ne Frau han­deln müß­te, aber ich ha­be nicht im Traum dar­an ge­dacht, daß es ei­ne Frau aus Wachs sein könn­te. Aber als ich mit dir in das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett ging und sah, wie du die Sta­tue mit dei­nen Bli­cken ver­schlun­gen hast, da wuß­te ich Be­scheid. Und nach­dem ich die Fi­gur sel­ber ein­ge­hend be­trach­tet hat­te, ver­stand ich dich noch viel bes­ser. Als dann noch der Be­sit­zer der Wachs­fi­gu­ren sei­ne Schau­er­ge­schich­te zum bes­ten gab, fing ich an, mir ernst­lich Ge­dan­ken zu ma­chen – so­weit ich da­zu über­haupt in der La­ge war, denn mein Geist war durch die teuf­li­sche Schön­heit der ver­fluch­ten Wachs­fi­gur be­acht­lich in Un­ord­nung ge­kom­men.

Als ich mich dann von dir ver­ab­schie­de­te, hat­te ich wirk­lich die Ab­sicht, schleu­nigst ab­zu­fah­ren. Ich muß ehr­lich zu­ge­ben, daß ich bei die­sem Ent­schluß nicht so sehr auf dein See­len­le­ben, son­dern auf meins be­dacht war. Ja, ich ge­be es of­fen zu, daß ich vor mir selbst Angst hat­te. Du hast am ei­ge­nen Lei­be er­fah­ren, Bert­rand, wel­che Macht die­se ei­gen­ar­ti­ge Fi­gur auf dich aus­übt. Und wenn man dem Be­sit­zer glau­ben darf, sind ihr auch noch an­de­re Män­ner ver­fal­len. Ich war zu To­de er­schro­cken, als ich fühl­te, daß sie ih­re Macht auch bei mir er­pro­ben woll­te, bei mir, ei­nem al­ten Mann, der Lie­bes­emp­fin­dun­gen nur noch vom Hö­ren­sa­gen kennt. Die­se ro­te He­xe will al­le, oh­ne Un­ter­schied, in die Knie zwin­gen.«

Bert­rand blick­te den Oberst un­ver­wandt an. Aber der schi­en das gar nicht zu be­mer­ken und fuhr fort:

»Ich bin al­so nicht nach Hau­se ge­fah­ren. Da­für bin ich am nächs­ten Mor­gen wie­der in das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett ge­gan­gen und ha­be al­lei­ne vor ihr ge­stan­den. Ich ha­be sie ge­nau­so an­ge­st­arrt, wie du sie an­starrst. Als ich mich nach et­wa ei­ner Stun­de von ihr ab­wand­te, war mein Geist mehr denn je ver­wirrt. Aber trotz die­ser Ver­wir­rung konn­te ich die war­nen­de Stim­me in mei­nem Un­ter­be­wußt­sein nicht über­hö­ren. Wel­che Kraft auch im­mer von der Sta­tue aus­ge­hen mag: Sie kann we­der gut noch rich­tig sein; und sie hat schon gar nichts mit dem ge­sun­den Men­schen­ver­stand zu tun.

Ich ha­be auf die­se war­nen­de Stim­me in mei­nem In­nern sehr im­pul­siv rea­giert. Ich re­ka­pi­tu­lier­te noch ein­mal in Ge­dan­ken die Ge­schich­te des Mu­se­ums­be­sit­zers – die­ses Man­nes mit dem Na­men Jac­que­lin. Dann bin ich zu ei­ner Ta­ges­zei­tung ge­gan­gen und ha­be das Ar­chiv durch­stö­bert. Nach lan­gem Su­chen bin ich auf den be­wuß­ten Fall ge­sto­ßen.

Jac­que­lin hat bei sei­ner Ge­schich­te er­wähnt, daß die Er­eig­nis­se vie­le Jah­re zu­rück­lie­gen. Er hat aber nie­mals ge­sagt, wie vie­le Jah­re. Mein lie­ber Jun­ge, die­se Mord­af­fä­re liegt mehr als drei­ßig Jah­re zu­rück

Bert­rand schnapp­te nach Luft. Aber ehe er ein Wort her­vor­brin­gen konn­te, re­de­te der Oberst schon wei­ter.

»Aber an­sons­ten ist al­les wahr, ab­so­lut wahr. Es gab da­mals einen Mord, und die Frau von Dok­tor Jac­que­lin wur­de der Tat über­führt. Im Lau­fe der Ver­hand­lung stell­te sich her­aus, daß sie un­ter an­de­rem Na­men fünf ähn­li­che Ver­bre­chen be­gan­gen hat­te. Die Zei­tun­gen schlach­te­ten da­mals die­sen Pro­zeß, der un­ter Aus­schluß der Öf­fent­lich­keit ge­führt wur­de, enorm aus. In den Ver­hand­lun­gen fiel oft das Wort ›He­xe­rei‹. Es fehl­te nicht an An­deu­tun­gen und Ver­mu­tun­gen, daß Ma­da­me Jac­que­lin ei­ne He­xe wä­re, dem Op­fer­wahn­sinn ver­fal­len, der sie zu ih­ren ra­sen­den Met­ze­lei­en an­trieb. Der al­te Kult um die Mond­göt­tin He­ka­te wur­de er­wähnt; und die An­kla­ge­ver­tre­tung hielt es nicht für aus­ge­schlos­sen, daß die rot­haa­ri­ge Frau die Pries­te­rin ei­ner Sek­te ge­we­sen wä­re, de­ren Got­tes­dienst aus Op­fe­run­gen be­stand. Die Op­fe­rung von Men­schen­blut zu Eh­ren ir­gend­ei­ner heid­nischen Gott­heit war im Fal­le Jac­que­lin ei­ne va­ge Ver­mu­tung und konn­te vor Ge­richt nicht als Be­weis an­er­kannt wer­den; aber es gab ge­nug an­de­re Be­wei­se, die aus­reich­ten, um die Frau meh­re­rer Mor­de zu über­füh­ren.

Dar­über hin­aus ent­deck­te ich in den al­ten Zei­tun­gen Din­ge, die der al­te Jac­que­lin nicht er­wähnt hat. Die Theo­rie mit der He­xe­rei war zwar vom Ge­richt nicht of­fi­zi­ell an­er­kannt wor­den, aber sie kos­te­te im End­ef­fekt doch den Arzt sei­ne Pra­xis. Es stell­te sich näm­lich als er­wie­sen her­aus, daß der gu­te Dok­tor, wenn auch in klei­ne­rem Aus­maß, be­gann in die Fuß­stap­fen sei­ner Frau zu tre­ten. Bei Blut­un­ter­su­chun­gen nahm er sei­nen Pa­ti­en­ten ein we­nig mehr Blut als er­for­der­lich ab, bei Ope­ra­tio­nen ent­fern­te er ein paar Zen­ti­me­ter mehr Fleisch … und hin und wie­der ent­wen­de­te er aus den Lei­chen­hal­len mensch­li­che Or­ga­ne. Das scheint mir der wah­re Grund da­für zu sein, daß er nach der Ver­hand­lung und der Hin­rich­tung sei­ne Pra­xis auf­ge­ben muß­te.

Nicht ei­ne ein­zi­ge Zei­tung be­rich­tet da­von, daß er nach der Hin­rich­tung die Lei­che sei­ner Frau zu Mo­dell­zwe­cken be­kom­men hät­te, wohl aber da­von, daß die Lei­che ge­stoh­len wur­de. Und Jac­que­lin ver­ließ so­fort nach der Hin­rich­tung Pa­ris. Vor sie­ben­und­drei­ßig Jah­ren!«

Bert­rouxs Stim­me war hei­ser ge­wor­den.

»Du kannst dir vor­stel­len, wie die­se Ent­de­ckung auf mich wirk­te.

Ich bin dann die Zei­tun­gen Jahr für Jahr durch­ge­gan­gen, um ei­ne Spur von dem Mann zu fin­den. Den Na­men Jac­que­lin fand ich nir­gends. Aber hin und wie­der tauch­ten kur­ze Mel­dun­gen über ei­ne fah­ren­de Wachs­fi­gu­ren­aus­stel­lung auf. Un­ter dem Na­men Pal­li­di zog die­se Aus­stel­lung 1916 durch die bas­ki­schen Pro­vin­zen. Und als der Wa­gen ei­ne der Städ­te ver­las­sen hat­te, fand man un­ter dem Platz, auf dem das Zelt auf­ge­schla­gen ge­we­sen war, die Lei­chen von zwei jun­gen Män­nern. Bei­den fehl­te der Kopf.

Bei der Show ei­nes ge­wis­sen Ge­or­ge Bal­to pas­sier­te 1924 in Ant­wer­pen fast der glei­che Zwi­schen­fall. Ei­nes Ta­ges wur­de in ei­ner Stra­ße in der Nä­he der Wachs­fi­gu­ren­aus­stel­lung die Lei­che ei­nes ver­stüm­mel­ten Man­nes ge­fun­den. Ge­or­ge Bal­to wur­de fest­ge­nom­men und ins Kreuz­ver­hör ge­nom­men. Man hat­te aber kei­ne Hand­ha­be ge­gen ihn und muß­te ihn wie­der auf frei­en Fuß set­zen. Die Na­men des Be­sit­zers wech­sel­ten, aber im Lau­fe der Jah­re gab es noch ei­ni­ge Lei­chen, die zu­fäl­lig in der Nä­he der fah­ren­den Aus­stel­lung ge­fun­den wur­den. Bei zwei wei­te­ren Fäl­len be­schreibt die Pres­se aber über­ein­stim­mend den Be­sit­zer der Show als einen ›klei­nen, grau­haa­ri­gen Mann‹.

Ich frag­te mich, was das al­les zu be­deu­ten hat. Mei­ne ers­te Re­ak­ti­on war, mich an die Kri­mi­nal­po­li­zei zu wen­den. Aber dann sag­te ich mir, daß die Po­li­zei mei­ne wil­den Theo­ri­en nur be­lä­cheln wür­de. Ich muß noch viel mehr her­aus­be­kom­men, um ir­gend et­was zu be­wei­sen. Mei­ner Mei­nung nach ist der Kern­punkt des Ge­heim­nis­ses die Fra­ge: Was ver­an­laßt die Män­ner, die­se Frau­en­fi­gur an­zu­star­ren und ihr zu ver­fal­len? Worin liegt ih­re Macht? Ich ha­be mir den Kopf über ei­ne plau­si­ble Er­klä­rung zer­bro­chen. Ei­ne Zeit­lang glaub­te ich, daß der Be­sit­zer sei­ne ein­sa­men männ­li­chen Be­su­cher hyp­no­ti­sie­ren will und da­bei die Fi­gur als Me­di­um be­nutzt. Aber warum? Wel­chen Sinn soll­te das ha­ben? Au­ßer­dem warst we­der du noch ich hyp­no­ti­siert. Nein, das konn­te es nicht sein. Es geht et­was von der Frau­en­fi­gur selbst aus, ir­gend­ei­ne ge­hei­me Macht, die – ich kann es nicht leug­nen – an Zau­be­rei grenzt. Sie gleicht ei­ner je­ner Zau­be­rin­nen, über die wir frü­her in Mär­chen­bü­chern ge­le­sen ha­ben. Man kann ihr nicht ent­rin­nen.

Auch ich nicht. Nach­dem ich an je­nem Nach­mit­tag die Zei­tungs­re­dak­ti­on ver­las­sen hat­te, ging ich in das Mu­se­um zu­rück. Ich re­de­te mir ein, daß ich das nur tat, um mit dem klei­nen grau­haa­ri­gen Mann zu re­den, um das Ge­heim­nis zu lüf­ten. Aber in mei­nem In­nern wuß­te ich es bes­ser. Ich schob den Al­ten bei­sei­te, als ich das Ge­bäu­de be­trat, und eil­te zu ihr. Und wie­der ein­mal starr­te ich schwei­gend in ihr Ge­sicht. Die un­heim­li­che Wir­kung ih­rer ver­derb­ten Schön­heit über­wäl­tig­te mich. Ich ver­such­te, ihr Ge­heim­nis zu er­grün­den, aber statt des­sen las sie mir meins von den Au­gen ab. Ich fühl­te, daß sie mei­ne Ge­füh­le für sie er­kann­te, und ich spür­te, daß sie sich über mich lus­tig mach­te und daß es ihr Freu­de be­rei­te­te, ih­re kal­te Macht an mir zu er­pro­ben.

Ich ging be­nom­men nach Hau­se. Als ich abends im Ho­tel saß und ver­such­te ver­nünf­tig über al­les nach­zu­den­ken und mich be­müh­te, einen Schlacht­plan ge­gen sie zu ent­wer­fen, über­kam mich plötz­lich das drin­gen­de Ver­lan­gen, zu­rück­zu­ge­hen. Die­ser Wunsch war so über­mäch­tig, daß ich, oh­ne zu wis­sen, was ich ei­gent­lich tat, Se­kun­den spä­ter auf der Stra­ße stand und die Rich­tung zum Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett ein­schlug. Als ich dort an­kam, lag das Ge­bäu­de im Dun­keln, und ich ging un­ver­rich­te­ter­din­ge wie­der ins Ho­tel zu­rück. Aber die Sehn­sucht und das Ver­lan­gen blie­ben. Ehe ich ein­sch­lief, hat­te ich das Ge­fühl, ich müß­te un­be­dingt die Tür ver­rie­geln.«

Der Oberst schau­te Bert­rand mit fla­ckern­dem Blick an, als er flüs­ter­te:

»Du bist je­den Tag frei­wil­lig zu ihr ge­gan­gen, mein Freund. Dei­ne Qual, daß sie für al­le Zei­ten un­er­reich­bar sein wird, ist kaum zu ver­glei­chen mit mei­ner, denn ich ha­be mich mit je­der Fa­ser mei­nes Her­zens ge­gen die Ver­zau­be­rung ge­wehrt. Und weil ich nicht ge­willt war, frei­wil­lig zu ihr zu ge­hen, hat sie mich ge­zwun­gen. Die pei­ni­gen­de Er­in­ne­rung an sie ver­folg­te mich bis in mei­ne Träu­me. Als ich mich heu­te mor­gen auf den Weg zu dir mach­te, zwang sie mich, mei­ne Schrit­te in das Mu­se­um zu len­ken. Ich weiß jetzt, daß die Män­ner ein­fach zu ihr kom­men müs­sen. Ent­we­der ge­hen sie frei­wil­lig, wie du, und be­ten sie un­auf­ge­for­dert an oder aber, wenn sie nicht frei­wil­lig zu ihr kom­men, zwingt sie sie. Als ich dich vor ein paar Ta­gen dort sah, schäm­te ich mich plötz­lich. Aber ich konn­te mich sträu­ben, so­viel ich woll­te, es trieb mich wie­der und wie­der zu ihr.

Als ich heu­te dort war, über­fiel mich plötz­lich die Angst, und ich rann­te da­von. Ich kam hier­her. Als ich dich nicht an­traf, be­schloß ich zu war­ten. Ich ha­be die Tür ge­walt­sam ge­öff­net, da­mit ich mich ein­schlie­ßen konn­te. Da­mit woll­te ich mich sel­ber zwin­gen, nicht wie­der fort­zu­lau­fen, son­dern auf dich zu war­ten. Ich muß­te ein­fach mit dir re­den. Viel­leicht ge­lingt es uns ge­mein­sam, et­was da­ge­gen zu un­ter­neh­men.«

»Was schla­gen Sie vor?« frag­te Bert­rand. Er war über sich selbst er­staunt, wie ernst er die Ge­schich­te des an­de­ren nahm. Aber er wuß­te, daß er al­lei­ne nicht die Kraft hat­te, von der An­ge­be­te­ten los­zu­kom­men – moch­te sie so bö­se sein, wie sie woll­te. Doch sei­ne Ver­nunft sag­te ihm, daß er ge­gen die Si­re­nen­klän­ge der wäch­ser­nen Fi­gur kämp­fen muß­te – auch wenn ihm das Herz bei die­sem Ge­dan­ken blu­te­te. Er wuß­te. daß der Oberst auf sei­ner Sei­te war, ganz ein­fach, weil es ihn ge­nau­so ge­packt hat­te. Dar­um schau­te er den Äl­te­ren jetzt so er­war­tungs­voll an.

»Wir wer­den mor­gen bei­de in das Mu­se­um ge­hen«, sag­te der Oberst. »Zu­sam­men sind wir stark ge­nug, um ge­gen die ge­hei­me Macht oder Sug­ge­s­ti­on, oder wie im­mer du es nen­nen willst, zu kämp­fen. Wir wer­den sehr of­fen mit Jac­que­lin spre­chen und ihn aus­hor­chen. Wenn er sich wei­gert zu re­den, wer­den wir zur Po­li­zei ge­hen. Ich bin über­zeugt da­von, daß an der gan­zen Sa­che et­was Un­na­tür­li­ches ist. Gleich­gül­tig, ob es sich um Mord, Hyp­no­se, Ma­gie oder sim­ple Ein­bil­dung han­delt: Wir müs­sen der Sa­che sehr schnell auf den Grund ge­hen. Ich ha­be so­wohl um dich als auch um mich Angst. Die­se ver­fluch­te Sta­tue will mich an sich ket­ten und ver­sucht mich im­mer wie­der in ih­ren Bann zu zie­hen. Laß uns die An­ge­le­gen­heit gleich mor­gen klä­ren. Es ist ge­fähr­lich, län­ger zu war­ten, denn es könn­te ei­nes Ta­ges zu spät sein.«

»Ja«, mur­mel­te Bert­rand schwer­fäl­lig.

»Al­so gut. Ich wer­de dich mor­gen mit­tag um eins ab­ho­len. Ist dir das recht?«

Bert­rand nick­te, und der Oberst ver­schwand.

Un­ser Poet ar­bei­te­te den gan­zen Abend über an sei­nem neu­en Ge­dicht. Auf der einen Sei­te woll­te er es ver­mei­den, im­mer­fort an Bert­roux’ selt­sa­me Ge­schich­te zu den­ken, und auf der an­de­ren Sei­te hat­te er das Ge­fühl, er dür­fe nicht eher ru­hen, bis er das Ge­dicht zu En­de ge­bracht hät­te. Er spür­te in sei­nem Un­ter­be­wußt­sein den dump­fen Ver­dacht, daß er schnell ar­bei­ten müß­te, weil sich die Er­eig­nis­se in den nächs­ten Ta­gen so zu­spit­zen wür­den, daß Ei­le ein­fach ge­bo­ten war.

Beim Mor­gen­grau­en ließ er er­schöpft den Blei­stift sin­ken. Als er ins Bett sank, war er so mü­de, daß er hoff­te, traum­los schla­fen zu kön­nen. Er woll­te von der rot­haa­ri­gen Frau­en­fi­gur, die ihm sonst den Schlaf raub­te, ver­schont blei­ben und nicht an sei­ne gräß­li­che Ab­hän­gig­keit von ei­ner Wachs­fi­gur den­ken.

Er schlief tief und fest, wäh­rend sich die Son­nen­strah­len vor­sich­tig über die Schei­ben sei­nes Man­sar­den­fens­ters tas­te­ten. Als er ir­gend­wann auf­wach­te und sich er­hob, ahn­te er, daß die Mit­tags­stun­de längst vor­bei war, ob­wohl zu die­sem Zeit­punkt die Son­ne ver­blaßt und ei­nem gel­ben Ne­bel ge­wi­chen war, der vor sei­nen Fens­ter­schei­ben dich­ter und dich­ter wur­de.

Ein Blick auf die Uhr be­stä­tig­te Bert­rands Ah­nung. Es war schon drei Uhr vor­bei.

Bert­rand zuck­te zu­sam­men. Wo blieb der Oberst? Er war si­cher, daß die Con­cier­ge ihn wach­ge­trom­melt hät­te, wenn sich ein Be­su­cher bei ihr ge­mel­det hät­te. Es gab kei­nen Zwei­fel: Der Oberst war nicht ge­kom­men! Und das konn­te nur einen Grund ha­ben. Er hat­te dem Zwang nicht wi­der­ste­hen kön­nen, Sa­lo­mes Si­re­nen­klän­gen zu fol­gen.

Bert­rand klei­de­te sich in flie­gen­der Hast an und ras­te zur Tür.

Er klemm­te sich das Ma­nu­skript mit dem fer­ti­gen Ge­dicht un­ter den Arm und stürm­te die Trep­pen hin­un­ter. Er bahn­te sich sei­nen Weg durch den dich­ten, krie­chen­den Ne­bel.

Der Tag glich dem vor ei­nem Mo­nat haar­ge­nau, nur mit dem Un­ter­schied, daß Bert­rand nicht durch die Stra­ßen irr­te, son­dern ziel­be­wußt auf das Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett zu­streb­te, um zu sei­nem qual­vol­len, un­ver­meid­li­chen Stell­dich­ein zu kom­men.

Er hat­te voll­stän­dig ver­ges­sen, daß er los­ge­rannt war, um den Oberst zu su­chen. Er dach­te nur an sie, als er durch den grau­en Ne­bel has­te­te, um zu dem grau­en Ge­bäu­de und dem grau­haa­ri­gen Mann und dem schar­lach­ro­ten Feu­er ih­rer Haa­re zu ge­lan­gen …

Das schwa­che Licht über dem Ein­gang leuch­te­te ihm durch den Ne­bel ent­ge­gen. Er ras­te die Stu­fen hin­un­ter und trat ein. Das gan­ze Mu­se­um wirk­te wie aus­ge­stor­ben. Weit und breit war kei­ne Spur von dem klei­nen, fet­ten Be­sit­zer zu se­hen. In Bert­rands Herz schlich sich ein un­be­stimm­ter Arg­wohn ein, den er aber in sei­nem un­wi­der­steh­li­chen Ver­lan­gen, Sa­lo­me zu se­hen, un­ter­drück­te.

Die Luft in der Hal­le war schwü­ler und drücken­der als je zu­vor. Sie schi­en mit der Vor­ah­nung auf ei­ne be­vor­ste­hen­de Ka­ta­stro­phe an­ge­füllt zu sein. Die vie­len Mör­der starr­ten Bert­rand ver­wun­dert und leicht spöt­tisch an, als er durch die Hal­le stürm­te.

Bert­roux war nicht da.

Bert­rand blieb keu­chend vor ihr ste­hen. Ih­re Schön­heit war noch nie so strah­lend und auf­rei­zend wie heu­te ge­we­sen. In dem herr­schen­den Däm­mer­licht hat­te Bert­rand das Ge­fühl, daß sie sich be­we­ge und vol­ler Le­ben sei. Ih­re Au­gen fun­kel­ten ein­la­dend, und ih­re glän­zen­den, halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen schim­mer­ten ver­hei­ßungs­voll.

Bert­rand beug­te sich vor, um ih­rem un­er­gründ­li­chen, zeit­lo­sen, bö­sen Ge­sicht na­he zu sein. Er starr­te sie atem­los an.

Ir­gend et­was an ih­rem wis­sen­den, zu­frie­de­nen Lä­cheln zwang ihn, hin­un­ter­zu­schau­en; hin­un­ter­zu­schau­en auf die sil­ber­ne Scha­le, in der das ab­ge­schla­ge­ne Haupt Jo­han­nes des Täu­fers ruh­te. Die star­ren, wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen glotz­ten ihn an.

Es war der Kopf von Oberst Bert­roux!

 

Nach dem ers­ten Schock schau­te Bert­rand ab­wech­selnd auf das spöt­ti­sche Lä­cheln Sa­lo­mes und auf das Blut, das um den ab­ge­schla­ge­nen Kopf her­um ei­ne La­che ge­bil­det hat­te. Und ihm fiel es wie Schup­pen von den Au­gen.

Das war wahr­lich rea­lis­ti­sche Kunst! Der ers­te Kopf vor ei­nem Mo­nat, der nächs­te in der ver­gan­ge­nen Wo­che und jetzt der von Bert­roux, der nicht wi­der­ste­hen konn­te, ih­rem Ruf zu fol­gen.

Bert­rand fand jetzt einen Zu­sam­men­hang zwi­schen den jun­gen Män­nern, die es im­mer wie­der ma­gisch an­zog, ih­re Schön­heit zu be­wun­dern, und den Zei­tungs­be­rich­ten von Mor­den, bei de­nen die Op­fer zer­stückelt wur­den. Die schö­ne Mör­de­rin, die He­xe, die ih­re Lieb­ha­ber ent­haup­tet hat­te, um sie ih­ren Göt­tern zum Op­fer zu brin­gen, stand in ei­nem ver­las­se­nen Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett und ver­lang­te nach im­mer neu­en Op­fern! Wie oft moch­te im Lau­fe der Zeit der Kopf aus­ge­wech­selt wor­den sein?

Bert­rand hat­te nicht be­merkt, daß sich der klei­ne grau­haa­ri­ge Mann an ihn her­an­ge­schli­chen hat­te. In sei­nen Au­gen fun­kel­te ein un­heim­li­ches Feu­er. Sei­ne Hand um­klam­mer­te ein Ope­ra­ti­ons­mes­ser. Er lä­chel­te sie an, als er mur­mel­te:

»Warum nicht? Sie lie­ben sie. Ich lie­be sie. Sie war nicht so wie an­de­re Frau­en – sie war ei­ne He­xe. O ja, sie hat zu Leb­zei­ten ge­tö­tet, denn sie lieb­te das Blut der Män­ner und den Blick ih­rer ge­bro­che­nen Au­gen, die da­zu ver­dammt wa­ren, für al­le Zei­ten ih­re Schön­heit an­zu­be­ten. Wir ha­ben ge­mein­sam ih­rer Göt­tin He­ka­te ge­dient und sie an­ge­be­tet. Dann ha­ben sie mei­ne Frau ent­haup­tet. Ich ha­be ih­re Lei­che ge­stoh­len, um ihr Bild­nis der Nach­welt zu er­hal­ten. Ich wur­de ihr Pries­ter. Män­ner ka­men und be­gehr­ten sie. Ich ha­be die­sen Män­nern das ge­schenkt, was ich Ih­nen jetzt schen­ke. Weil die Män­ner sie lieb­ten, ha­be ich ih­nen den Wunsch er­füllt, der in mei­ner Macht stand. Ich schenk­te ih­nen die Mög­lich­keit, ih­re ge­pei­nig­ten Häup­ter in ih­ren Hän­den ru­hen zu las­sen. Es mö­gen nur Wachs­hän­de sein, aber sie sind von ih­rem Geist be­seelt. Sie ha­ben al­le die Nä­he ih­res Geis­tes ge­spürt; des­halb ka­men sie auch und be­te­ten sie an. Mir er­scheint ihr Geist je­de Nacht und bit­tet mich, neue Lieb­ha­ber her­bei­zu­schaf­fen. Wir, sie und ich, sind vie­le Jah­re zu­sam­men her­um­ge­reist, und jetzt sind wir nach Pa­ris zu­rück­ge­kehrt, um neue An­be­ter zu fin­den. Die Köp­fe müs­sen in ih­ren Hän­den lie­gen. Sie müs­sen un­ver­wandt und vol­ler Lie­be in ihr Ge­sicht star­ren. So­bald sie ei­nes Ge­sich­tes über­drüs­sig wird, ver­schaf­fe ich ihr einen neu­en Be­wun­de­rer.

Als der Oberst heu­te mor­gen kam und ich ihm das er­zähl­te, was ich Ih­nen jetzt sa­ge, stimm­te er mir zu. Das tun sie al­le. Sie soll­ten auch ein­wil­li­gen, mein Freund. Aber ich bin si­cher, daß sie es tun wer­den. Stel­len Sie sich nur ein­mal vor: in ih­ren blas­sen wei­ßen Hän­den zu ru­hen und den Blick nie von ihr ab­wen­den zu müs­sen. Zu ster­ben und da­bei ih­re Schön­heit vor Au­gen zu ha­ben! Sie wer­den ihr das Op­fer brin­gen, nicht wahr? Kei­ne Men­schen­see­le wird je et­was da­von er­fah­ren. Nie­mand wird auch nur den lei­ses­ten Ver­dacht schöp­fen. Sie wol­len Jo­han­nes der Täu­fer sein, nicht wahr? Sie wol­len, daß ich es jetzt gleich tue, nicht wahr? Sie wol­len, daß ich –«

Hyp­no­se. Al­so doch Hyp­no­se! Bert­rand ver­such­te ver­geb­lich, sich von der Stel­le zu rüh­ren, als der Al­te ein­dring­lich auf ihn ein­re­de­te und gleich­zei­tig ih­re star­ren Au­gen bit­tend auf ihn her­ab­schau­ten.

Der kal­te Stahl des Mes­sers lieb­kos­te Bert­rands Keh­le. Die Klin­ge be­gann, weh­zu­tun. Durch einen grau­en Ne­bel dran­gen Wor­te an sein Ohr, und durch einen schar­lach­ro­ten Ne­bel hin­durch starr­te er in ihr Ge­sicht. Sie war ei­ne He­xe, die Op­fer for­der­te. Wie wür­de es sein, in ih­ren Ar­men zu ru­hen, ihr na­he zu sein und sie so an­zu­be­ten, wie es schon an­de­re vor ihm ge­tan hat­ten? Wä­re das nicht ein Tod, der wie für einen Dich­ter ge­schaf­fen war? Er könn­te sie an­schau­en, bis er in ewi­ger Dun­kel­heit ver­sun­ken war. Sein Kopf wür­de in we­ni­gen Se­kun­den in der Sil­ber­scha­le ru­hen, die ih­re schma­len Hän­de um­schlos­sen. Was hät­te es für einen Sinn, wei­ter­zu­le­ben, wenn er sie doch nie­mals be­sit­zen konn­te? Warum soll­te er al­so nicht im Be­wußt­sein ih­rer Schön­heit ster­ben? Es war so ein­fach. Ihr Mann kann­te sich aus, und er war so nett zu Bert­rand. So nett. Das Mes­ser tat weh. Bert­rand riß die Hän­de hoch. Er war plötz­lich von pa­ni­scher Angst er­füllt. Er schlug wild um sich und rang mit dem klei­nen, schrei­en­den, ver­rück­ten Mann. Das Mes­ser fiel klir­rend auf die Er­de. Die bei­den ran­gen keu­chend. Als Bert­rand wie ra­send in das auf­ge­schwemm­te Ge­sicht des an­de­ren schlug und ihm fast die gla­si­gen Au­gen aus­kratz­te, fie­len bei­de zu Bo­den.

Ir­gend et­was in Bert­rands In­ne­rem war wie­der durch­ge­bro­chen. Viel­leicht sei­ne Ju­gend, viel­leicht sein Wil­le zu le­ben oder viel­leicht ganz ein­fach der ge­sun­de Men­schen­ver­stand. Sei­ne Fin­ger preß­ten sich zu­sam­men, als er den Kopf des Grau­haa­ri­gen auf den Bo­den schlug. Sei­ne Hän­de um­klam­mer­ten in ra­sen­der Wut die Keh­le des an­de­ren und drück­ten sie lang­sam zu.

Dann hör­te sei­ne Ra­se­rei plötz­lich auf. Der Griff sei­ner Hän­de lo­cker­te sich, und der Kopf des Ver­rück­ten fiel leb­los zur Sei­te. Der fet­te Jac­que­lin war tot!

Bert­rand er­hob sich tau­melnd und warf einen Blick auf sei­ne teil­nahms­lo­se Göt­tin. Ihr Lä­cheln war un­ver­än­dert. Als er auf ih­re teuf­li­sche Schön­heit starr­te, be­gann sei­ne See­le er­neut ins Wan­ken zu ge­ra­ten. Aber als sei­ne Hand in die Man­tel­ta­sche fuhr, kehr­ten sein Mut und sei­ne Ent­schluß­kraft zu­rück.

Er schleu­der­te ihr das zer­knit­ter­te Ma­nu­skript vor die Fü­ße – das vollen­de­te Ge­dicht an Sa­lo­me.

Sehr lang­sam hol­te er die Streich­höl­zer her­vor.

Er nahm das Ma­nu­skript wie­der in die Hand und zün­de­te es an. Als es brann­te, hielt er es an ih­re flam­men­den Haa­re. Und wäh­rend sich Feu­er mit Feu­er ver­misch­te, hör­te sie nicht auf, Bert­rand in ei­ner Art an­zu­star­ren, die er im­mer noch nicht ver­stan­den hat­te; in der schreck­li­chen, durch­drin­gen­den Art, mit der sie ihn und all die an­de­ren Män­ner ver­hext und ins Ver­der­ben ge­stürzt hat­te.

Und noch im­mer hielt sie ihn in ih­rem Bann. Er nahm Sa­lo­me in sei­ne Ar­me. Er preß­te die bren­nen­de Sa­lo­me, die un­ter den Flam­men wie ein ech­tes Le­be­we­sen zuck­te und sich wand, an sich. Er hielt sie einen Au­gen­blick in den Ar­men und stell­te sie dann, als die Flam­men um sich grif­fen, auf ih­ren Platz zu­rück. Sie ver­brann­te un­heim­lich schnell.

He­xen wur­den schon im­mer ver­brannt …

Und wie bei al­len He­xen, so än­der­te sich auch ihr Ge­sichts­aus­druck im Ster­ben. Er schmolz zu ei­ner ab­scheu­li­chen Frat­ze. Dann war ihr Ge­sicht nur noch ein gel­ber, un­för­mi­ger Wachs­klum­pen, aus dem ih­re Glasau­gen wie zwei blaue Trä­nen fie­len. Ihr Kör­per wand sich im To­des­kampf, als ih­re wäch­ser­nen Glied­ma­ßen da­hin­schmol­zen. Sie wirk­te so echt und wirk­lich und ge­pei­nigt. Ih­re Qual war ge­nau­so groß wie die Bert­rands, der ih­ren To­des­kampf ver­folg­te.

Dann war al­les vor­über.

Bert­rand blick­te ver­son­nen auf den Mann, der still und tot auf dem Bo­den lag, wäh­rend sich das Feu­er lang­sam aus­brei­te­te. In Kür­ze wür­de es das gan­ze Mu­se­um aus­ge­löscht ha­ben. An kei­nem Mann wür­de sich die grau­en­haf­te Wie­der­ho­lung ei­nes frü­he­ren Ver­bre­chens voll­zie­hen. Das Feu­er wür­de dem al­lem ein En­de be­rei­ten.

Bert­rands Blick wan­der­te wie­der zu dem zi­schen­den und blub­bern­den gel­ben Wachs­hau­fen, der noch vor we­ni­gen Mi­nu­ten Sa­lo­me dar­ge­stellt hat­te.

Er er­starr­te.

Dann be­te­te er, daß sich das Feu­er rasch aus­brei­ten mö­ge. Das Grau­en saß ihm im Nacken, denn auf ein­mal ver­stand er al­les. Das Ge­heim­nis­vol­le, das von ihr aus­ge­gan­gen war, das un­heim­lich Rät­sel­haf­te, das je­den in ih­ren Bann ge­zo­gen hat­te, war plötz­lich kein Ge­heim­nis mehr für ihn.

Der wahn­sin­ni­ge Mör­der, der jetzt tot am Bo­den lag, hat­te die Fi­gur nach dem to­ten Kör­per sei­ner Frau ge­formt. Das hat­te er Bert­rand er­zählt. Aber Bert­rand sah jetzt mehr. Und er konn­te sich die bö­se, ver­häng­nis­vol­le Macht er­klä­ren. Von dem to­ten Kör­per ei­ner He­xe geht ei­ne schäd­li­che Aus­düns­tung aus …

Bert­rand wand­te sich ab und rann­te schluch­zend aus der ver­wüs­te­ten Hal­le, die jetzt in hel­len Flam­men stand. Er flüch­te­te vor dem An­blick des gel­ben, blub­bern­den, zer­schmol­ze­nen Wachs­hau­fens, aus dem das ver­kohl­te Ske­lett ei­ner Frau, das dem Wachs Halt ge­ge­ben hat­te, her­aus­rag­te.