Wachsfigurenkabinett
Der Tag war für Bertrand sehr trübe und eintönig gewesen, ehe er das Wachsfigurenkabinett entdeckte. Es war einer der nebligen Tage, an denen es nicht richtig hell werden wollte, einer der Tage, an denen Bertrand mit Vorliebe ziellos durch die schmutzigen Gassen der Ufergegend streifte. Dennoch entsprachen solche Tage Bertrands Mentalität am besten. Er fand eine gewisse Freude daran, den scharfen Graupelregen auf seinem Gesicht zu spüren; und es übte einen prickelnden Reiz auf ihn aus, daß er durch den Nebel alles nur verschwommen und schemenhaft erkennen konnte. Der dichte Nebel ließ die schmutzigen Häuser und die engen, winkligen Gassen unwirklich und grotesk erscheinen. Die verwitterten Gebäude wurden zu riesigen grauen vorgeschichtlichen Ungeheuern, die sich zur Ruhe gelegt hatten und erstarrt waren.
So kam es wenigstens Bertrand in seiner blühenden Phantasie vor. Denn Bertrand war ein Poet. Bei genauer Betrachtung allerdings war er ein schlechter Poet. Denn die Gedankengänge, die er zu Papier brachte, waren so wirr und versponnen, daß er niemanden fand, der sie abdrucken wollte. Er hauste in einer Dachkammer, ernährte sich von trockenem Brot und fühlte sich von der Welt mißverstanden. Wenn er in Selbstmitleid versank, was sehr häufig vorkam, pflegte er sein Leben mit dem des verstorbenen Francois Villon zu vergleichen. Bei diesem Vergleich verschwanden Bertrands Depressionen meist. Denn Villon war ein berüchtigter Dieb und Zuhälter gewesen – was man von Bertrand keinesfalls sagen konnte.
Bertrand war ein sehr junger ehrenwerter Mann und ein Genie. Die Leute wußten es nur noch nicht zu schätzen. Und recht geschah diesen Leuten, wenn er jetzt verhungerte! Die Nachwelt würde ihm gewiß ein Denkmal setzen. Mit diesen oder ähnlichen Gedankengängen beschäftigte sich Bertrand die meiste Zeit, und solch trübe Tage wie heute waren besonders für seine stummen Monologe geeignet.
Fast widerwillig mußte er sich selbst eingestehen, daß seine Dachkammer mollig warm war und daß er eigentlich genug zu essen hatte. Denn seine Eltern, die in Marseille lebten und in dem Glauben waren, daß er an der Universität studierte, schickten ihm immerhin regelmäßig Geld.
Er hätte also gut an einem so öden Tag wie diesem in seiner warmen Dachkammer Zuflucht suchen und an einem seiner feinen Sonette, die er immer schreiben wollte, arbeiten können. Aber nein, er mußte durch den dichten Nebel tappen und sich seinen versponnenen Gedanken hingeben. Obwohl er abgedroschene Phrasen haßte, konnte er nicht umhin, das als seine ›romantische Ader‹ zu bezeichnen.
Aber als der junge Mann heute wohl eine Stunde lang am Kai entlanggewandert war, verlor die ›romantische Ader‹ ihren Reiz. Der naßkalte Regen hatte seinen jugendlichen Eifer beachtlich abgekühlt. Zudem bemerkte er, wie sich ein höchst unpoetischer Schnupfen anbahnte.
Aus diesem Grunde war er mehr als erfreut, als er in dieser toten Gegend ein schwaches Licht entdeckte, das ihm durch das milchige Nichts hindurch entgegenschimmerte. Beim Näherkommen entpuppte sich das Licht als eine kahle Birne über einer Tür, die zu einem Keller führte und über der das Wort ›Wachsfigurenkabinett‹ dürftig beleuchtet war.
Zunächst einmal war der junge Poet enttäuscht, denn er hatte gehofft, daß das Leuchtfeuer auf eine Kneipe hinweisen würde. Und solange noch etwas von dem monatlichen Geld seiner Eltern in seinen Taschen klimperte, stand unser Poet mit dem Alkohol auf du und du. Er zuckte resigniert die Achseln. Pech. Aber der Lichtschein deutete wenigstens auf Wärme und Geborgenheit hin – und vielleicht waren die Wachsfiguren auch interessant …
Er stieg die Stufen hinunter und stieß eine dunkle Tür auf. Eine angenehme Wärme strömte ihm entgegen.
Er befand sich in einem schwach erleuchteten Vorraum und schaute in die Richtung, aus der sich schlurfende Schritte näherten.
Ein kleiner, fetter Mann mit einer schmierigen Mütze tauchte aus dem Hintergrund auf. Er kassierte drei Francs Eintritt und drückte mit einem Achselzucken sein wortloses Erstaunen über einen Besucher zu dieser Zeit aus.
Bertrand hing seinen feuchten Mantel über einen Haken und rümpfte unbewußt die Nase. Die modrige Luft, die ihm entgegenströmte und die sich jetzt mit dem speziellen Geruch vermischte, der von feuchten Kleidungsstücken, die in einen warmen Raum kommen, ausgeht, bildete den typischen ›Museumsgeruch‹.
Als Bertrand jetzt auf die große Tür zuging, die zu der Ausstellung führte, merkte er, wie die Melancholie, die ihn im Nebel befallen hatte, nun vollends von ihm Besitz ergriff. Hier im Halbdunkel konnte er seinen Depressionen freien Lauf lassen. Er erging sich in Selbstmitleid, hilflosem Zynismus, unausgegorenen Rachegedanken und wieder in Selbstmitleid. Sein Geist sehnte sich nach etwas Morbidem, seine Gedanken schwammen in einem Meer von Einsamkeit … schwammen in einem Meer von Einsamkeit … das mußte er sich unbedingt merken. Er könnte es vielleicht einmal dichterisch verwerten …
Mit einem Wort: Unser Poet war genau in der richtigen Stimmung für ein Wachsfigurenkabinett. Und ganz besonders für dieses hier, das einen Streifzug durch die Greueltaten der Geschichte darstellte.
Als Bertrand irgendwann einmal einiges Geld beisammen gehabt hatte, hatte er in weiblicher Begleitung das berühmte Kabinett der Madame Tussaud aufgesucht. Seine Erinnerungen an diesen Besuch waren etwas verschwommen, denn er war damals mehr von dem Charme der jungen Dame als von den verblüffend ›lebendigen‹ Wachsfiguren hingerissen gewesen. Aber soweit er sich erinnerte, handelte es sich bei diesen Figuren um historische Persönlichkeiten oder Personen der Zeitgeschichte. Er glaubte sich an einige Generäle, Staatsmänner und Filmschauspieler zu erinnern. Das war bisher Bertrands einzige Bekanntschaft mit Wachsfiguren gewesen, wenn man von den abscheulichen Wachsklumpen absieht, die er in seiner weit zurückliegenden Jugendzeit einmal in einem Wanderzirkus gesehen harte (Bertrand war jetzt dreiundzwanzig).
Aber ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, daß sich diese Wachsfiguren hier von allen anderen grundsätzlich unterschieden.
Bertrand betrat einen langgestreckten, breiten Raum. Er blieb einen Augenblick verblüfft stehen, denn er hatte eine so großzügige Anlage der Ausstellung in dieser Gegend nicht vermutet. Aber der Raum war niedrig, und der Nebel, den man hinter den schmalen Fenstern sehen konnte, ließ die ohnehin schon schwache Beleuchtung noch dürftiger erscheinen. Doch dieses Schummerlicht unterstrich wirkungsvoll die düstere Atmosphäre. Eine Garde stummer weißer Figuren hob sich von den schmutzigen Wänden ab – Figuren, die ihre starren Blicke auf Bertrand gerichtet zu haben schienen, Figuren, die mumifiziert, versteinert, verknöchert und in der Bewegung eingefroren waren …
Als Bertrand hinausraste, um sich einen Katalog zu kaufen, gestand er sich selbst schuldbewußt ein, daß er das nur tat, um den ersten Eindruck, den diese Wachsfiguren auf ihn gemacht hatten, zu verdauen.
Denn die Figuren schienen nicht nur in ihrer Bewegung erstarrt zu sein; ihre Haltung drückte auch – eine unheimliche Erwartung aus. Es schien, als wären sie gerade gestorben oder als wären sie bei ihrer Tätigkeit plötzlich zu Eis erstarrt und jeden Augenblick könnte das Eis anfangen zu schmelzen.
Sie wirkten unheimlich natürlich. Und sollten sie wirklich irgendwelche Fehler haben, so würden sie durch die Lichteffekte nicht ins Auge fallen.
Bertrand straffte die Schultern und begann seinen Rundgang. Er widmete sich zuerst der linken Wand und schaute sich jede einzelne Gestalt oder Figurengruppe genau an.
Die ganze Ausstellung war eine Veranschaulichung des Grauens. Das Verbrechen war Thema Nummer eins. Und es waren die grauenvollsten und perversesten Mordfälle, die bildlich dargestellt wurden. Man konnte sehen, wie sich der Unmensch Landru nachts über seine schlafende Frau stürzte und wie der wahnsinnige Tolours im Keller mit einem blutigen Messer in der Hand seinem kleinen Sohn auflauerte. Dann gab es ein Ruderboot, in dem drei Männer waren. Einer von ihnen hatte keine Arme, keine Beine und keinen Kopf, während sich die beiden anderen an einem kannibalischen Festschmaus ergötzten … Gilles de Retz stand vor dem Altar. Er hielt eine Schale an seine Lippen, sein Bart war vom Blut rot gefärbt, und sein Opfer lag zerrissen vor seinen Füßen … Eine Frau, die man in einem Kerker an ein Rad gebunden hatte, krümmte sich halb wahnsinnig vor Angst und starrte mit glasigen Augen auf die Ratten, die sie umkreisten … Einem Mann, der am Galgen hing, wurde bei noch lebendigem Leibe die Haut abgezogen … Der Mörder Vardac wurde festgenommen. Neben ihm stand ein Koffer, aus dem ein rotes Rinnsal lief …
Die ganzen Darstellungen wiesen eine teuflische Perfektion auf.
Es überlief Bertrand ein eiskalter Schauer, als er das alles betrachtete. Es waren weniger die Szenen als solche, die ihm Unbehagen einflößten, als die naturgetreue Wiedergabe. Derjenige, der die Figuren geformt hatte, mußte die Greueltaten wahrlich echt nachempfunden haben. Außerdem mußte er sich genau informiert haben, denn jeder Handgriff, jede winzige Kleinigkeit wirkte absolut authentisch. Der Schöpfer hatte seinen Figuren etwas eingehaucht, was eine frappante Ähnlichkeit mit dem Leben hatte. Nicht nur die Haltung der Figuren wirkte so echt, sondern auch der Gesichtsausdruck. Sie starrten verschlagen, lüstern und böse, ihre Gesichter waren vor Angst oder im Todeskampf verzerrt. Ihre Augen schienen den Beschauer durchbohren zu wollen, die Haare fielen ihnen ganz natürlich ins Gesicht, und ihre Lippen schienen wie durch einen warmen Atemhauch geöffnet.
Jeder der Dargestellten lebte für alle Zeiten in der Phase des Grauens, die seine Existenz im Wachsfigurenkabinett begründete und bei der zu Lebzeiten seine Seele verdammt wurde.
Bertrand schaute sich alles genau an. Neben jeder Darstellung war ein Schild angebracht, auf dem in schwülstigen Worten der Hergang der blutigen Missetat ausführlich beschrieben wurde.
Bertrand las die ganzen Beschreibungen. Er wußte, daß das billigste Sensationsmache war. Ähnliches konnte man nur in den übelsten Revolverblättern finden, die in ihren Berichten zum Entzücken ihrer schwachsinnigen Leser im Blut wateten. Und trotzdem konnte sich Bertrand des Gefühls nicht erwehren, daß irgendwie etwas Großartiges von den schauerlichen Gestalten und Darstellungen ausging. Die Dramen strahlten eine Intensität und Hemmungslosigkeit aus, die sich im alltäglichen Leben jeder scheuen würde, zu zeigen. Er fragte sich, ob diese Zügellosigkeit nur eine weitere Attraktion für den sensationshungrigen Besucher darstellen sollte oder nicht. Vielleicht sollte dem Beschauer der Unterschied zwischen dem Verbrecherleben und seinem eigenen redlichen, aber ziemlich langweiligen Leben mit aller Deutlichkeit eingehämmert werden. Bertrand zog den Kopf ein, als ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß die dargestellten Szenen in Wirklichkeit stattgefunden hatten und daß die Figuren Nachbildungen von Personen waren, die wirklich einmal gelebt hatten. Und es gab an hundert verborgenen Orten solche Menschen heute noch! Denn die Mörder, Räuber und die wahnsinnigen Unholde waren nicht ausgestorben. Selbst jetzt, in diesem Augenblick, mochte ein Mann mit einem Messer im Nebel auf sein Opfer lauern.
Manche wurden gefaßt, andere kamen davon und konnten ungestört weitermorden …
Unser junger Poet studierte eingehend eine schauerliche Darstellung nach der anderen. Er hatte keine Eile, denn der Nebel hinter den Fenstern war noch so dicht, daß Bertrand keine Lust verspürte, sich auf den Heimweg zu machen. Er verbrachte viel Zeit damit, die Perfektion der Figuren zu bestaunen. Er näherte sich langsam der rechten Wand, die der Wiedergabe der geschichtlich erwiesenen Verbrechen gewidmet war. Darstellungen von Verbrennungen, Plünderungen, Folterkammern und Blutbädern reihten sich aneinander. Auch hier konnte Bertrand dem Schöpfer dieser Szenen seine Bewunderung nicht vorenthalten. Die historischen Kostüme waren durch und durch stilecht. Als Bertrand den Herrscher Cäsar, der sich gerade in einer Folterkammer die Zeit vertrieb, eingehend betrachtete, kam ihm in den Sinn, daß die Herstellung von Wachsfiguren bestimmt nicht einfach war, denn sie erforderte neben einem künstlerischen Geschick auch ein beträchtliches Maß an Einfühlungsvermögen und eine mehr als durchschnittliche Allgemeinbildung.
Dann sah er sie. Sie stand sehr aufrecht und wirkte ungemein anziehend. Sie vereinte alles in sich: Sie war ein Mädchen, eine Frau, gertenschlank und hatte dabei doch jene Rundungen, von denen ein Mann nachts träumt.
Bertrands Augen hefteten sich an die sichtbaren Vorzüge der Dame, aber sein poetisches Gefühl mußte für diese Vorzüge romantische Vergleiche finden. Demnach glich ihr herrliches kastanienbraunes Haar einer karmesinroten Wolke, ihr lächelndes, schmales Gesicht der Maske einer Zauberin, und ihre starren blauen Augen glichen zwei Teichen, in denen jede Seele versinken mußte. Ihre halbgeöffneten Lippen schienen Sinnlichkeit zu verheißen. Sie trug ein hauchdünnes, mit Steinen besetztes Kleid, das nur dazu diente, die Schönheit ihres vollendeten weißen Körpers zu unterstreichen.
Sie war bei genauer Betrachtung schon eine sehr hübsche rothaarige Frau – aber sie war aus Wachs. Sie war aus demselben gewöhnlichen Wachs wie zum Beispiel Jack the Ripper geformt. Sie stand auf Zehenspitzen und hielt in ihren ausgestreckten Händen eine silberne Schale. Sie stand vor König Herodes Thron. Denn sie war Salome, die weiße Hexe mit den sieben Schleiern.
Bertrand starrte in ihr verderbtes ovales Gesicht. Ihre Augen schienen seinen Blick leicht belustigt zurückzugeben. Er glaubte noch nie ein Wesen gesehen zu haben, das so schön war und ihm gleichzeitig solchen Schrecken einflößte. In der Schale, die ihre schlanken Hände umfaßten, ruhte in einer Blutlache das Haupt von Johannes dem Täufer.
Bertrand war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Er starrte nur immer die Frau an. Ihn überkam das wunderliche Verlangen, diese Frau anzusprechen. Ihr mußte sein stummer, glotzender Blick flegelhaft vorkommen, denn ihr Gesicht schien Spott auszudrücken. So rede doch endlich! forderten ihre starren Augen.
Und er wollte reden. Er wollte ihr sagen, daß er sie liebte.
Diese blitzartige Erkenntnis traf Bertrand wie ein Peitschenhieb. Er liebte sie! Er liebte sie mit einer plötzlichen Leidenschaft, die jenseits aller Vorstellungen lag. Er begehrte diese Frau, die doch nichts weiter war als eine Wachsfigur. Ihr Anblick verursachte ihm einen fast körperlichen Schmerz, der sich ins schier Unerträgliche steigerte, als ihm klar zum Bewußtsein kam, daß sie völlig unerreichbar war.
Das war schon mehr als eine Ironie des Schicksals: Er hatte sich unsterblich in eine Wachsfigur verliebt!
Er mußte wahrlich verrückt sein! Aber irgendwie fand unser Dichter Bertrand das Ganze auch wieder ungemein romantisch. Welch gewöhnlichem Sterblichen widerfuhr schon so etwas?
Es gab natürlich einige ähnlich gelagerte Fälle in der Menschheitsgeschichte. Er hatte schon von mehreren effektvoll aufgebauschten Variationen dieses Themas, das so alt wie Leda und der Schwan war, gehört.
Aber Bertrand stellte mit einer gewissen Verzweiflung fest, daß es ihm gar nichts nützte, sich diese Geschichten ins Gedächtnis zu rufen. Er liebte diese Frau. Er liebte ihre Schönheit und das Grauen, das von ihr ausging. Und er würde sie für alle Zeiten lieben. Unser Dichter Bertrand gehörte nun einmal zu dieser Kategorie von Poeten!
Als er wie erwachend seinen Blick von ihr löste, stellte er mit Erstaunen fest, daß der dichte Nebel hinter den Fenstern verschwunden war und daß sich statt dessen ein paar zaghafte Sonnenstrahlen ihren Weg in diesen düsteren, gespenstisch anmutenden Raum bahnten. Wie lange mochte er hier gestanden haben?
Nachdem Bertrand einen letzten seelenvollen Blick auf den Gegenstand seiner Anbetung geworfen hatte, wandte er sich ab.
»Ich komme wieder«, flüsterte er. Dann errötete er schuldbewußt und hastete durch die Halle auf die Tür zu, die ins Freie führte.
Und er kam wieder. Am nächsten Tag, am übernächsten Tag und an den darauffolgenden Tagen.
Das aufgeschwemmte graue Gesicht des kleinen, dicken Mannes, der ständig in der Eingangshalle zu sitzen schien, wurde ihm allmählich genauso vertraut wie das ganze verstaubte Wachsfigurenkabinett selbst.
Er stellte fest, daß sich in dieses Museum nur wenige Besucher verirrten, und fand heraus, daß der Nachmittag die günstigste Zeit für seine Anbetung war.
Denn es war Anbetung, was er betrieb!
Er konnte lange Zeit schweigend vor der geheimnisvoll lächelnden Figur stehen und verzückt in ihre Augen starren, die eine unnatürliche Grausamkeit ausdrückten. Manchmal murmelte er einige Zeilen der Verse, die er sich nachts abgerungen hatte; manchmal stammelte er Liebesbeschwörungen in ihre wächsernen Ohren. Doch die rothaarige Salome starrte nur stumm zurück. Sie nahm sein Delirium lediglich mit einem unergründlichen Lächeln zur Kenntnis. Es war seltsam, aber bis zu dem Tage, an dem Bertrand mit dem kleinen, fetten Mann ins Gespräch kam, war er nie auf den Gedanken gekommen, sich über seine Angebetete eingehender zu informieren. Eines Tages schlurfte der unförmige grauhaarige Mann durch die Dämmerung auf Bertrand zu und stellte sich neben ihn.
Er unterbrach Bertrands Träumereien so unsanft, daß unser liebeskranker Poet erschrocken zusammenfuhr und den Störenfried mißbilligend anschaute.
»Ganz hübsch, nicht?« begann der Grauhaarige das Gespräch. Er hatte jene vulgäre Stimme, die solch gefühllosen Tölpeln im allgemeinen zu eigen ist. »Ich habe sie nach dem Ebenbild meiner Frau geformt, müssen Sie wissen.«
Seiner Frau! Dieses hinreißende Wesen sollte die Frau dieses armseligen fetten Würstchens sein? Bertrand glaubte nun wirklich, den Verstand zu verlieren; doch die folgenden Worte des Alten beruhigten ihn wieder ein wenig.
»Natürlich vor vielen Jahren, müssen Sie wissen …«
Bertrand holte tief Luft. Es gab sie also wirklich! Sein Herz begann wie rasend zu hämmern. Sie lebte. Sie atmete. Sie existierte … »Ja – vor vielen Jahren … aber sie ist natürlich schon lange tot, müssen Sie wissen …«
Tot! Gestorben! Unerreichbar wie eh und je! Für ihn blieb nichts als diese leblose wächserne Hülle …
Bertrand fühlte den unwiderstehlichen Drang, mit diesem fetten Alten zu reden. Er mußte alles aus ihm herausholen. Es gab so vieles, was er wissen mußte. Doch er brauchte es gar nicht aus dem anderen »herauszuholen«, denn die Einsamkeit hatte den kleinen Mann geschwätzig gemacht. Er redete mit seiner gewöhnlichen Stimme unaufgefordert weiter.
»Ist mir ganz gut gelungen, nicht?« fragte er stolz und legte den Kopf zur Seite. Bertrand fand den Blick, mit dem der Alte die Wachsfigur betrachtete, ausgesprochen widerwärtig. Denn der andere nahm nicht die Schönheit der Frau wahr, sondern erfreute sich nur an der Figur, die er geschaffen hatte. Er bewunderte nicht die Frau, sondern das Wachs. »Mein bestes Stück«, murmelte er selbstzufrieden.
Und zu denken, daß er sie einst besessen hatte …
Die Herzlosigkeit des Mannes erregte Bertrands Übelkeit. Doch der Alte schien das nicht zu bemerken. Er überschüttete Bertrand mit einem Wortschwall, wobei seine flinken Augen unablässig zwischen der Statue und Bertrand hin- und herwanderten.
Monsieur scheine sich für das Museum sehr zu interessieren, wie? Monsieur sei ein sehr eifriger Besucher … Alles gute Arbeit, wie? Er, Pierre Jacquelin, hätte jedes Stück selbst angefertigt. O ja, er hätte in den letzten acht Jahren das Wachsfigurengeschäft weiß Gott erlernt. Mitarbeiter wären ihm immer zu teuer gewesen; er hätte sie sich darum nicht leisten können. Und darum hätte er alles alleine gemacht. Aber die Mühe hätte sich gelohnt. Viele Leute hätten ihm schon gesagt, daß sich seine Wachsfiguren mit denen von Madame Tussaud messen könnten. Der Ansicht wäre er natürlich selber auch, aber man hört so etwas gern von anderen, wie? Er könnte selbstverständlich seine Figuren und Gruppen bei Madame Tussaud unterbringen, aber er würde es vorziehen, sein eigenes ruhiges Geschäft zu führen. Auf diese Weise würde er zwar nicht weltberühmt werden … aber man könnte doch nicht abstreiten, daß die Figuren gut wären, wie? Seine medizinischen Kenntnisse würden ihm dabei zustatten kommen … o ja, er hätte medizinische Kenntnisse, denn vor langer Zeit wäre er einmal Dr. Jacquelin gewesen …
Monsieur bewundere seine Frau, wie? Nun ja, das wäre nicht sehr verwunderlich, denn das hätten andere vor ihm auch schon getan. Sie wären auch regelmäßig gekommen.
Er hob beschwichtigend die Hände. Monsieur brauchte das nicht abzustreiten. Er, Jacquelin, wäre nicht so töricht, auf eine Wachsfigur eifersüchtig zu sein. Aber es wäre trotzdem eigenartig, daß so viele Männer zu ihr kämen; von denen einige noch nicht einmal etwas über das Verbrechen zu wissen schienen …
Das Verbrechen? Bertrand horchte auf. Irgend etwas lag bei der Erwähnung des Verbrechens in der Stimme des alten Mannes, das Bertrand veranlaßte, Fragen zu stellen.
Und der Alte war nur zu gern bereit, die Antwort zu geben.
»Sollte es möglich sein, daß Sie davon nichts wissen?« fragte er mit leichtem Erstaunen in der Stimme. Doch dann fuhr er rasch fort: »Aber natürlich – die Zeit vergeht, und die Presseberichte von damals geraten in Vergessenheit. … Die ganze Geschichte war alles andere als erfreulich … Als alles vorbei war, wollte ich nichts weiter als meine Ruhe haben. Das gelang mir auch prächtig, weil man mich zwang, meine Praxis aufzugeben. Daraufhin habe ich alle Brücken hinter mir abgebrochen und … nun ja, so landete ich schließlich hier. Ihr habe ich das alles zu verdanken …«
Er deutete mit dem Kopf auf die Statue und verzog seinen Mund.
»Sie nannten es damals den Jacquelin-Fall. Wegen meiner Frau, müssen Sie wissen. Ich hatte bis zur Gerichtsverhandlung nicht die leiseste Ahnung. Als ich sie heiratete, war sie noch sehr jung und zudem sehr allein in Paris. Ich wußte nichts von ihrer Vergangenheit. Ich hatte eine Praxis, die den größten Teil meiner Zeit in Anspruch nahm. Mir war niemals auch nur der kleinste Verdacht gekommen, daß mit ihr etwas nicht stimmen könnte … Sie hatte eine krankhafte Veranlagung, Monsieur, müssen Sie wissen. Mir als Arzt hätten gewisse Kleinigkeiten auffallen müssen … Aber ich war nicht ihr Arzt, sondern ihr Mann. Ich liebte sie und dachte mir nichts weiter.
Dann brachte ich eines Tages einen meiner Patienten ins Haus. Einen alten Mann, der sehr krank war. Sie pflegte ihn mit aufopfernder Fürsorge … Aber als ich eines Nachts spät nach Hause kam, war er tot. Sie hatte seine Kehle mit einem Operationsmesser durchschnitten. Wenn ich nicht lautlos hinter sie getreten wäre und mich auf sie gestürzt hätte, hätte sie weiter und weiter geschnitten … Sie wurde von der Polizei abgeholt. Bei der Gerichtsverhandlung kam dann alles heraus. Das von dem jungen Burschen, den sie in Brest um die Ecke gebracht hatte, und das von den beiden Ehemännern, die sie in Lyon und Liege ins Jenseits befördert hatte. Sie gab noch zwei weitere Morde zu und kam damit insgesamt auf fünf – Enthauptungen!
Für mich brach eine Welt zusammen. Das können Sie mir glauben. Ich war damals so viel jünger und unerfahren. Ich liebte sie. Und als sie zugab, daß sie mich als nächsten … da glaubte ich … doch lassen wir das. Sie wäre eine so gute Frau gewesen, müssen Sie wissen, so ruhig und sanft und lieblich … und Sie können mit ihren eigenen Augen sehen, wie schön sie gewesen ist. Und dann auf einmal zu entdecken, daß sie wahnsinnig war. Eine Mörderin!
Meine Frau – eine Mörderin! Und dann ihre Art zu morden … es war schrecklich.
Ich unternahm alles, was in meinen Kräften stand, denn – ich wollte sie immer noch. Ich liebte sie – trotz allem. Ich weiß, daß das schwer zu erklären ist. Mein Anwalt hat versucht, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Aber es war alles zwecklos. Sie wurde verurteilt und auf die Guillotine geschickt.«
Bertrand starrte den Alten an. Wie kann er die Geschichte so schlecht erzählen, dachte er. Der Stoff bietet hinreichende Möglichkeiten für eine Tragödie, und was macht er daraus? Eine Farce. Warum können die Menschen immer nur prosaisch denken?
»Meine Karriere als Arzt fand damit natürlich ein plötzliches Ende. Das war nach den Prozeßberichten in den Zeitungen auch nicht anders zu erwarten. Da ich nun einmal meine Existenz verloren hatte, mußte ich mich nach etwas Neuem umsehen. Nach einigen Überlegungen fing ich hiermit an …« Er machte mit der Hand eine weitausholende Bewegung.
»Ich hatte in den Jahren meiner Arzttätigkeit etwas Geld zurücklegen können. Aber nicht von meinem Einkommen als Arzt, sondern von meiner nebenberuflichen Betätigung. Ich stellte in meiner knappen Freizeit Wachsfiguren her, die die Universitäten für ihren medizinischen Anschauungsunterricht brauchten. Mit diesen Ersparnissen gründete ich mein Museum.
Sie können mir glauben, daß mich mein Unglück ganz schön aus dem Tritt gebracht hatte, und ich war nicht gerade in einer prächtigen Verfassung, als ich hier anfing. Da ich mich aber notgedrungen auf einmal mit dem Verbrechen habe beschäftigen müssen, nutzte ich diesen Umstand wenigstens für mich aus und blieb gleich dabei. Meine Erfolge auf diesem Gebiet können Sie hier gegen Eintrittsgeld bewundern.«
Der Alte machte den Versuch, arrogant zu lächeln, um zu demonstrieren, daß seine Gefühle, von denen er eben berichtet hatte, seit langer Zeit tot und begraben wären. Dann stieß er Bertrand in die Seite und fuhr mit betonter Lustigkeit fort:
»Und jetzt kommt das Schönste. Ich habe mir damals einen besonderen Gag ausgedacht, auf den ich heute noch stolz bin. Wollen Sie, daß ich es Ihnen erzähle, ja? Ich besorgte mir von den Behörden die Genehmigung, ins Leichenhaus gehen zu dürfen. Die Hinrichtung meiner Frau hatte sich so lange hinausgezögert, daß mein Geschäft hier inzwischen schon recht gut florierte. Ich war inzwischen mit der Technik völlig vertraut geworden. Als dann der Tag der Hinrichtung herankam und die Guillotine in Aktion getreten war, ging ich sofort ins Leichenhaus und fertigte vom Körper meiner Frau ein Modell an. Finden Sie nicht auch, daß das ein echter Gag ist, wie? Sie, die die Köpfe anderer hatte rollen lassen, war nun auch ihren eigenen losgeworden. Warum sollte ich also aus ihr nicht Salome machen? Johannes der Täufer wurde doch auch enthauptet, nicht wahr? Glauben Sie mir, das war ein köstlicher Spaß!«
Das Gesicht des kleinen Alten war eingefallen. In seine wässrigen grauen Augen trat plötzlich ein unnatürlicher Glanz.
»Aber vielleicht war es doch nicht ganz so lustig, Monsieur. Um ehrlich zu sein, muß ich sagen, daß ich es damals einzig und allein aus Revanche tat. Ich haßte sie, weil sie mein Leben zerstört hatte, ich haßte sie, weil ich sie trotz ihrer ungeheuerlichen Taten immer noch liebte. Ich fand meine damalige Handlungsweise überhaupt nicht lustig – aber sie verschaffte mir eine gewisse Genugtuung. Ich wollte meine Frau in Wachs haben! Sie sollte hier stehen, um mich immer an mein verpfuschtes Leben zu erinnern, an meine Liebe und an ihr Verbrechen.
Aber das ist alles schon so lange her. Die Welt hat es vergessen, und ich denke auch seit langem nicht mehr daran. Heute ist sie für mich nichts weiter als eine herrliche Figur. Die beste, die ich je geschaffen habe. Ich habe das Gefühl, daß ich diesen künstlerischen Höhepunkt nie wieder erreichen werde. Und Sie geben doch zu, daß es sich hierbei um Kunst handelt, nicht? Obwohl ich die Materie und die Technik von Jahr zu Jahr besser beherrsche, habe ich nie wieder solche Perfektion in der Ausführung erreicht.
Und die Männer kommen und starren sie an. Ich meine, genauso, wie Sie sie anstarren. Ich glaube, daß die wenigsten ihre Geschichte kennen. Aber ich garantiere Ihnen: Die Männer würden auch wiederkommen, wenn sie Bescheid wüßten. – Sie kommen doch auch wieder, Monsieur, nicht wahr?«
Bertrand nickte wie hypnotisiert. Dann wandte er sich brüsk ab und ließ den Alten stehen. Er rannte wie von Furien gehetzt davon. Er benahm sich wie ein Narr. Und er wußte es auch. Er verfluchte sich, als er keuchend von dem Museum und dem verhaßten alten Mann fortlief.
Er war wirklich ein Narr. Sein Herz schlug wie verrückt. Warum haßte er den Mann – ihren Mann? Und warum haßte er sie? Weil sie einmal eine Frau aus Fleisch und Blut gewesen war? Weil sie gemordet hatte? – Wenn diese Geschichte überhaupt stimmte! Aber er wußte, daß sie stimmte. Er erinnerte sich dunkel an den Fall Jacquelin. Er glaubte einige Schlagzeilen der damaligen Zeitungsberichte vor Augen zu sehen, er glaubte sich zu entsinnen, daß er als kleiner Junge die Boulevardblätter, die die Einzelheiten des Falles eingehend geschildert hatten, mit einem angenehmen Schaudern im Rücken verschlungen hatte. Und warum hatte er jetzt auf einmal das Gefühl, Folterqualen zu erleiden? Was war sie schon? Nichts weiter als die Nachbildung einer Mörderin in Wachs, die ihr kleingeistiger, gefühlloser Ehemann geschaffen hatte. Was hatte er dagegen, daß andere Männer sie ebenfalls anstarrten? Wie kam er dazu, diese anderen Männer zu hassen?
War er im Begriff, jede Kontrolle über sich zu verlieren? Sein Verhalten war schon mehr als töricht. Es war verrückt.
Nie wieder durfte er das Wachsfigurenkabinett betreten. Nie wieder! Er mußte alles über die Tote vergessen. Ihr eigener Mann dachte nicht mehr daran, und die Welt erinnerte sich auch nicht mehr. Punkt. Aus. Erledigt. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Nie wieder …
Er war sehr glücklich, daß die Halle am nächsten Tag völlig ausgestorben war, als er vor der schweigenden rothaarigen Schönheit Salomes stand und sie anbetete.
Ein paar Tage darauf stand Oberst Bertroux völlig unerwartet vor Bertrands Wohnungstür. Bertroux, der ein guter Freund der Familie war, glich eher einem derben Bauern als einem ehemaligen Offizier. Es war für Bertrand kein Kunststück, herauszufinden, daß ihm seine besorgten Eltern den Oberst auf den Hals geschickt hatten, damit er ein ›ernstes Wort‹ mit ihm reden sollte.
Das paßte zu Bertrands Eltern. Und der Oberst war genau der Typ, der solche Art Aufträge mit Freude annahm. Er war schroff, pedantisch und hielt sich für eine absolute Respektsperson. Er redete Bertrand mit ›mein lieber Junge‹ an und verschwendete keine Zeit, auf den Kernpunkt seines Besuches zu kommen. Er forderte Bertrand auf, seine ›Torheiten‹ zu unterlassen und mit ihm nach Hause zu fahren, wo er ein bürgerliches Leben beginnen sollte. Er, Bertrand, gehöre in die elterliche Metzgerei und nicht in eine Pariser Dachstube. Mit seinen poetischen Kritzeleien würde er nie auf einen grünen Zweig kommen. Das ging in dem Stil weiter, bis Bertrand der Kragen platzte. Aber er konnte machen, was er wollte, es gelang ihm nicht, den alten Moralprediger zu beleidigen. Er konnte sich nicht einmal mit ihm streiten. Der ungehobelte Klotz war zu dumm, um seine bissigen Bemerkungen zu verstehen.
Der Oberst folgte Bertrand auf Schritt und Tritt. Wenn sie zum Essen gingen, hielt er es für selbstverständlich, daß Bertrand für ihn zahlte. Er hatte zwar in einem drittklassigen Hotel in Bertrands Nähe ›Quartier bezogen‹, aber er verbrachte die erste Nacht in Bertrands Wohnung und redete ununterbrochen auf unseren Poeten ein. Er war fest davon überzeugt, daß der ›liebe Junge‹ nur auf seine Weisheiten gewartet hatte. Nach diesem nächtlichen Gespräch gab es Bertrand auf. Es hatte keinen Sinn, Bertroux mit Argumenten zu kommen – der begriff überhaupt nicht, was der Jüngere meinte.
Bertrand war am nächsten Tag gerade im Begriff, sich auf den Weg zum Wachsfigurenkabinett zu machen, als der Oberst wieder aufkreuzte. Bertrand suchte nach Ausflüchten, aber Bertroux ließ sich durch nichts davon abhalten, Bertrand zu begleiten.
Als sie das Museum betraten, überkam Bertrand wieder jene geheimnisvolle Erwartung, die er sich nicht erklären konnte, aber nach der er sich sehnte. Er nahm die idiotischen Kommentare des Oberst über die dargestellten Verbrechen überhaupt nicht zur Kenntnis. Er verfiel, wie immer, in eine Art Trancezustand.
Dann kamen sie zu ihr. Bertrand blieb wie angewurzelt vor ihr stehen und sagte keinen Ton. Dafür war die Sprache seiner Augen um so beredter. Ihr Blick schien noch spöttischer als sonst auf ihm zu ruhen. Die Minuten, während der sie sich schweigend mit den Augen duellierten, wurden zur Ewigkeit.
Irgendwann kehrte Bertrand in die Wirklichkeit zurück. Er erwachte langsam aus einem Traum, der ihn gefesselt und verzaubert hatte, und schaute sich blinzelnd um. Als sein Blick auf den Oberst fiel, riß er erstaunt die Augen auf.
Bertroux stand noch immer neben ihm und starrte in Gedanken versunken auf Salome. Bertrand war über den gebannten Blick des anderen verblüfft. Der Oberst hatte einen fremden, irgendwie fast jugendlich wirkenden Gesichtsausdruck. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß er von der weiblichen Wachsfigur fasziniert war – genauso fasziniert wie Bertrand!
Der Oberst? Das war unmöglich! Das war absurd! Dieses robuste Rauhbein stand doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit! Aber trotzdem fühlte Bertrand, daß er sich nicht täuschte. Der Oberst war ihr auch verfallen!
Bertrands erste Reaktion war, laut zu lachen. Aber als er einen zweiten Blick in das alte verzückte Gesicht warf, war er eher den Tränen nahe. Er verstand. Von der Frau ging etwas aus, das im Herzen jedes Mannes, gleichgültig ob jung oder alt, Träume und geheime Sehnsüchte und Wünsche erweckte. Sie war so fern, so unerreichbar und doch so fatal begehrenswert.
Bertrand warf wieder einen Blick auf sie. Alles war wie immer: ihre vorgetäuschte Zerbrechlichkeit, ihre verlogene Zärtlichkeit und ihre unnachahmliche Grazie, mit der sie dastand und in ihren ausgestreckten Händen den scheußlichen abgeschlagenen Kopf hielt … Bertrand hielt den Atem an. Etwas war nicht wie immer. Der scheußliche Kopf – er war anders als sonst! Es war nicht das schwarzhaarige Haupt mit den starrenden blauen Augen, das er von seinen Besuchen her kannte. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Hand berührte seine Schulter. Er fuhr herum. Hinter ihm stand der kleine grauhaarige Besitzer des Wachsfigurenkabinetts und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Sie haben es schon bemerkt, wie?« murmelte er. »Der alte Kopf ist durch einen bedauerlichen Zwischenfall in die Brüche gegangen. Einer ihrer – ihrer Herren hat versucht, sie mit seinem Schirm anzustoßen. Dabei ist der Kopf leider heruntergefallen. Während ich ihn repariere, habe ich diesen Kopf hier als Ersatz genommen. Aber er beeinträchtigt den Gesamteindruck, wie?«
Als Oberst Bertroux seinen Blick langsam von der Statue löste, wandte sich der kleine grauhaarige Mann eilfertig an ihn.
»Ganz hübsch, nicht?« begann er. »Ich habe sie nach dem Ebenbild meiner Frau geformt, müssen Sie wissen.«
Dann folgte in aller Ausführlichkeit die ganze Schauergeschichte, die er Bertrand vor einer Woche erzählt hatte. Er verkaufte sie genauso schlecht und gebrauchte praktisch dieselben Worte.
Bertrand beobachtete, wie das Gesicht des Oberst im Verlaufe der Erzählung immer mehr Abscheu und eine aufkommende Übelkeit ausdrückte. Er fragte sich, ob er vor einer Woche denselben Gesichtsausdruck gehabt haben mochte.
Als der kleine Grauhaarige seine Geschichte beendet hatte, benahm sich der Oberst genauso, wie er, Bertrand, sich verhalten hatte. Er machte auf den Hacken kehrt und verließ eilig die Halle. Als Bertrand ihm folgte, spürte er den spöttischen Blick des kleinen Grauhaarigen in seinem Nacken. Sie gelangten auf die Straße und gingen schweigend nebeneinander her. Bertroux Gesicht hatte immer noch einen versonnenen Ausdruck. Als sie vor Bertrands Haus standen, wandte ihm der Oberst sein Gesicht zu. Seine Stimme klang tonlos.
»Ich fange an, dich zu verstehen, mein Junge. Ich werde dir mit meinen wohlgemeinten Ratschlägen nicht mehr auf die Nerven fallen. Ich fahre wieder zurück.«
Er drehte sich brüsk um und entfernte sich. Bertrand blickte dem Oberst, der eine betont aufrechte Haltung angenommen hatte, nachdenklich nach.
Er hatte mit keinem Wort das Wachsfigurenkabinett erwähnt. Keine Bemerkung über die Frau. Und doch wußte Bertrand, daß der Oberst sie ebenfalls liebte. Seltsam. Aber war nicht die ganze Sache mehr als seltsam? Fuhr der Oberst wirklich nur zurück – oder floh er?
Der fette Alte hatte seine Geschichte so heruntergerasselt, als hätte er sie auswendig gelernt. Ob das Ganze vielleicht nichts anderes als ein ausgemachter Schwindel war? Ein fauler Trick des Besitzers des Wachsfigurenkabinetts, um eine bestimmte Art Besucher zum Wiederkommen zu veranlassen?
Ja, so mußte es sein. Irgend jemand hatte dem Alten diese Wachsfigur verkauft, und er hatte sofort die Wirkung erkannt, die ihre lebensnahe Schönheit auf einsame Männer ausübt. Er hatte dann die Schauergeschichte von der krankhaft veranlagten Mörderin ausgetüftelt, damit die Anwesenheit dieser Frauenfigur in seinem Gruselkabinett gerechtfertigt war. Den Fall als solchen mochte es einmal gegeben haben, aber der grauhaarige Alte sah nicht so aus, als wenn er jemals der Ehemann einer Mörderin gewesen wäre. Nicht ihr Ehemann! Diese Geschichte war nichts weiter als ein Köder, um die Männer immer wieder anzulocken, damit sie ihr Geld bei ihm ließen. Als Bertrand mit seinen Überlegungen bei diesem Punkt angelangt war, rechnete er im Geist die Francs zusammen, die er innerhalb der letzten Wochen in das Museum getragen hatte. Es kam eine beachtliche Summe zusammen. Der Alte war gar nicht so dumm!
Dennoch, die eigentliche Attraktion ging von der Figur selbst aus. Sie war so atemberaubend schön, so lebendig und so verlockend, trotz oder gerade wegen ihrer Schlechtigkeit. Salome war eine rothaarige Hexe; aber Bertrand fühlte, daß er dicht davor stand, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Er würde sehr bald ihr Lächeln und die Verzauberung, die sie auf ihn ausübte, verstehen.
Mit diesen Gedanken ging er schlafen. In den nächsten Tagen fing er an zu arbeiten. Er begann ein überschwengliches Gedicht, das hauptsächlich von überraschenden Versprechungen und Erfüllungen handelte. Er schrieb ohne Pause.
Er war froh, daß der Oberst abgefahren war, und er war dankbar, daß sie ihm half. Sie schien ihn zu verstehen. Sie mußte einfach wirklich sein! Vielleicht hatte sie sein wildes Gestammel vernommen, das er in schlaflosen Nächten zu den Sternen geschickt hatte. Vielleicht wartete sie als Fee Morgana auf einer Insel Avalon für Poeten oder vielleicht harrte sie seiner im Fegefeuer für Poeten. Er würde sie finden …
Er versprach es ihr, als er am nächsten Tag bei ihr war, und er dankte ihr, daß sie Oberst Bertroux vertrieben hatte. Als er ihr einige Zeilen seines Sonetts vortrug, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß die Augen des alten Grauhaarigen, der am Eingang der Halle stand, auf ihm ruhten.
Bertrand hielt in seinem Gemurmel inne und wurde knallrot vor Scham. Spionierte ihm der Alte nach? Wie oft mochte er sich schon ins Fäustchen gelacht haben, wenn er die Pein der armen Teufel sah, die ihrer Schönheit verfallen waren? Verschrumpelter alter Zwerg! Bertrand knirschte in ohnmächtiger Wut lautlos mit den Zähnen.
Er bemühte sich, nicht zu dem Alten zu sehen, und betrachtete eingehend den neuen Kopf von Johannes dem Täufer. Ersatzkopf – na schön. Er fragte sich, wie es gekommen sein mochte, daß das Original zerbrochen war. Der Alte hatte irgend etwas von einem Narr mit einem Regenschirm gemurmelt. Er hatte sie berühren wollen. Warum auch nicht? Sie war so wirklich und gegenwärtig, daß dieser Wunsch eines Mannes naheliegend war. Bertrand bezwang nur seinen aufkommenden Ärger, daß es ein anderer Mann gewesen war …
Aber der Ersatzkopf war gar nicht so übel. Er war sauber gearbeitet und wirkte so natürlich wie der erste. Die geschlossenen Augen des blonden Jünglings wirkten fast noch schauerlicher als der starre Blick des anderen. Es war halt nur nicht mehr Johannes der Täufer. Hm. Nun ja.
Der kleine Grauhaarige starrte unverwandt zu ihm herüber.
Bertrand fluchte leise und wandte sich von Salome ab. Heute war ihm bei ihr keine Ruhe vergönnt. Als er auf den Ausgang zuging, bemühte er sich, den Eindruck zu erwecken, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Er schaute angestrengt auf seine Armbanduhr, um nicht den starrenden Alten anblicken zu müssen. Dabei prallte er allerdings gegen einen eintretenden Besucher. Er murmelte ›Verzeihung‹ und ging hastig weiter.
Aber schon nach zwei Schritten blieb er ruckartig stehen und schaute sich um. Er starrte mit weitaufgerissenen Augen auf den breiten Rücken des Mannes, den er eben angerempelt hatte.
War er total verrückt oder war das wirklich Oberst Bertroux, der jetzt in die Halle ging?
Aber Bertroux war doch abgefahren – oder vielleicht nicht? Hatte sie ihn zum Bleiben gezwungen? Betete der Oberst sie jetzt heimlich an? So wie er, Bertrand? Wie so viele andere? Würde der fette Alte jetzt den Oberst anstarren? Hatte Salome ein neues Opfer gefunden, das ihr verfallen war? Bertrand machte sich langsam und sehr nachdenklich auf den Weg nach Hause. In den nächsten Tagen ging er, in der Hoffnung, den Oberst zu treffen, zu höchst ungewöhnlichen Zeiten in das Wachsfigurenkabinett. Er brannte vor Neugier. Er wollte mit dem Älteren reden, wollte von ihm erfahren, ob er wirklich ebenfalls von einer Wachsfigur betört wäre.
Bertrand hätte sich natürlich bei dem kleinen, grauhaarigen Museumsbesitzer nach seinem Freund erkundigen können, aber seine gefühlsmäßige Abneigung gegen den Alten hielt ihn davon ab. Diese Abneigung steigerte sich allmählich zu Haß. Wenn die ganze Geschichte ein Schwindel war, haßte er den Alten wegen des Betruges; wenn sie stimmte, haßte er ihn, weil er eine Schönheit in den Armen gehalten hatte, für die Bertrand sein Leben gegeben hätte, um sie zu besitzen.
Als unser Poet heute das Wachsfigurenkabinett verließ, schlugen seine seelischen Qualen in haushohen Wellen über ihm zusammen. Er haßte das Museum, haßte den Besitzer mehr denn je, und er haßte sie, weil sie ihn unerbittlich an sich fesselte. Hatte er das nötig, jeden Tag in dieses dunkle Verlies zu gehen? Mußte er dahinvegetieren, um nur in den Augenblicken aufzuleben, in denen er ihre starre Schönheit bewundern durfte? Sollte er sich ein Leben lang an eine Hoffnung klammern, die niemals erfüllt werden konnte? Mußte er unbedingt das Bildnis einer Mörderin lieben? Wie lange sollte das so weitergehen? Ein Seufzen entrang sich seiner Brust. Du lieber Gott, wie lange noch?
Er schleppte sich die Treppen zu seinem Dachzimmer empor. Der Schlüssel drehte sich quietschend im Schloß, und die Tür sprang knarrend auf. Als Bertrand eintrat, starrte er verblüfft auf seinen Besucher – Oberst Bertroux.
Der alte Mann saß in dem einzigen Sessel der Behausung und hatte seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt.
»Entschuldige mein gewaltsames Eindringen«, murmelte der Oberst. »Ich habe mir mit einem Dietrich Zutritt verschafft, mein Junge. Ich hätte natürlich auch draußen auf dich warten können, aber ich zog es vor, in einem abgeschlossenen Raum zu sein. Nimm es mir bitte nicht übel.«
Bertrouxs Gesicht war so ernst und seine Stimme so eindringlich, daß Bertrand es für angebracht hielt, erstaunte Fragen über den unerwarteten Besuch zu unterdrücken.
Dennoch bemühte sich Bertrand, die Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, in Worte zu fassen. Er wollte natürlich von dem Oberst hören, warum er die Stadt nicht verlassen hatte und ob er wirklich derjenige gewesen wäre, den Bertrand neulich beim Verlassen des Museums zu erkennen geglaubt hatte.
Der Ältere fühlte die unausgesprochenen Fragen und hob mit einer müden Bewegung die Hände. Er deutete Bertrand an, auf der Couch Platz zu nehmen. Sein Gesicht trug Züge der Erschöpfung, und seine blauen Augen lagen tief in den Höhlen.
»Ich bin gerne bereit, mein Eindringen hier zu erklären, mein Junge«, begann er. »Aber ich möchte zuerst ein paar Fragen an dich richten, die du mir ehrlich beantworten mußt. Von deiner Ehrlichkeit hängt alles ab, mein Junge.«
Bertrand, der von dem Ernst seines Besuchers einigermaßen beeindruckt war, nickte feierlich.
»Als allererstes möchte ich wissen, wie lange du schon zu dem Wachsfigurenkabinett gehst.«
»Seit ungefähr einem Monat. Um genau zu sein: Morgen vor einem Monat habe ich es zum erstenmal aufgesucht.«
»Wie kamst du überhaupt auf den Gedanken, in eine solche – Ausstellung zu gehen?«
Bertrand berichtete von seinem damaligen Spaziergang im Nebel, wie ihn die Kälte plötzlich beschlichen hätte und wie das Licht, das er dann gesehen hätte, für ihn gleichbedeutend mit Wärme und Geborgenheit gewesen wäre.
Der Oberst hörte ihm interessiert zu.
»Hat der Besitzer gleich beim ersten Besuch mit dir gesprochen?«
»Nein.«
Der Oberst geriet mit seinen Fragen ins Stocken. Er schien die Anwesenheit des Jüngeren für einen Augenblick zu vergessen, schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin: »Seltsam … von dieser Wachsfigur geht eine verborgene Kraft aus … und dabei habe ich diesen Quatsch von dämonischen, übernatürlichen Kräften niemals ernstgenommen …«
Dann wurde ihm die Gegenwart des anderen wieder bewußt, und er riß sich zusammen. Er warf Bertrand einen langen Blick zu, zögerte und fragte dann sehr langsam:
»Dann war es also – sie –, die dich wieder hingetrieben hat?«
Es lag etwas in Bertrouxs Stimme, das Bertrand veranlaßte, die volle Wahrheit zu sagen. Er fing stockend an zu berichten, redete immer hastiger, bis die ganze Geschichte aus ihm hervorbrach. Er beschönigte nichts, und er verschwieg nichts. Als er erschöpft am Ende war, seufzte der Oberst schwer. Er starrte auf den Boden. Dann räusperte er sich. »Ich habe mir das fast so gedacht, mein Junge«, sagte er. »Deine Familie hat mich hierhergeschickt, weil sie befürchtete, daß dich hier irgend etwas oder irgendwer festhält. Es war mir klar, daß es sich um eine Frau handeln müßte, aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, daß es eine Frau aus Wachs sein könnte. Aber als ich mit dir in das Wachsfigurenkabinett ging und sah, wie du die Statue mit deinen Blicken verschlungen hast, da wußte ich Bescheid. Und nachdem ich die Figur selber eingehend betrachtet hatte, verstand ich dich noch viel besser. Als dann noch der Besitzer der Wachsfiguren seine Schauergeschichte zum besten gab, fing ich an, mir ernstlich Gedanken zu machen – soweit ich dazu überhaupt in der Lage war, denn mein Geist war durch die teuflische Schönheit der verfluchten Wachsfigur beachtlich in Unordnung gekommen.
Als ich mich dann von dir verabschiedete, hatte ich wirklich die Absicht, schleunigst abzufahren. Ich muß ehrlich zugeben, daß ich bei diesem Entschluß nicht so sehr auf dein Seelenleben, sondern auf meins bedacht war. Ja, ich gebe es offen zu, daß ich vor mir selbst Angst hatte. Du hast am eigenen Leibe erfahren, Bertrand, welche Macht diese eigenartige Figur auf dich ausübt. Und wenn man dem Besitzer glauben darf, sind ihr auch noch andere Männer verfallen. Ich war zu Tode erschrocken, als ich fühlte, daß sie ihre Macht auch bei mir erproben wollte, bei mir, einem alten Mann, der Liebesempfindungen nur noch vom Hörensagen kennt. Diese rote Hexe will alle, ohne Unterschied, in die Knie zwingen.«
Bertrand blickte den Oberst unverwandt an. Aber der schien das gar nicht zu bemerken und fuhr fort:
»Ich bin also nicht nach Hause gefahren. Dafür bin ich am nächsten Morgen wieder in das Wachsfigurenkabinett gegangen und habe alleine vor ihr gestanden. Ich habe sie genauso angestarrt, wie du sie anstarrst. Als ich mich nach etwa einer Stunde von ihr abwandte, war mein Geist mehr denn je verwirrt. Aber trotz dieser Verwirrung konnte ich die warnende Stimme in meinem Unterbewußtsein nicht überhören. Welche Kraft auch immer von der Statue ausgehen mag: Sie kann weder gut noch richtig sein; und sie hat schon gar nichts mit dem gesunden Menschenverstand zu tun.
Ich habe auf diese warnende Stimme in meinem Innern sehr impulsiv reagiert. Ich rekapitulierte noch einmal in Gedanken die Geschichte des Museumsbesitzers – dieses Mannes mit dem Namen Jacquelin. Dann bin ich zu einer Tageszeitung gegangen und habe das Archiv durchstöbert. Nach langem Suchen bin ich auf den bewußten Fall gestoßen.
Jacquelin hat bei seiner Geschichte erwähnt, daß die Ereignisse viele Jahre zurückliegen. Er hat aber niemals gesagt, wie viele Jahre. Mein lieber Junge, diese Mordaffäre liegt mehr als dreißig Jahre zurück!«
Bertrand schnappte nach Luft. Aber ehe er ein Wort hervorbringen konnte, redete der Oberst schon weiter.
»Aber ansonsten ist alles wahr, absolut wahr. Es gab damals einen Mord, und die Frau von Doktor Jacquelin wurde der Tat überführt. Im Laufe der Verhandlung stellte sich heraus, daß sie unter anderem Namen fünf ähnliche Verbrechen begangen hatte. Die Zeitungen schlachteten damals diesen Prozeß, der unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt wurde, enorm aus. In den Verhandlungen fiel oft das Wort ›Hexerei‹. Es fehlte nicht an Andeutungen und Vermutungen, daß Madame Jacquelin eine Hexe wäre, dem Opferwahnsinn verfallen, der sie zu ihren rasenden Metzeleien antrieb. Der alte Kult um die Mondgöttin Hekate wurde erwähnt; und die Anklagevertretung hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die rothaarige Frau die Priesterin einer Sekte gewesen wäre, deren Gottesdienst aus Opferungen bestand. Die Opferung von Menschenblut zu Ehren irgendeiner heidnischen Gottheit war im Falle Jacquelin eine vage Vermutung und konnte vor Gericht nicht als Beweis anerkannt werden; aber es gab genug andere Beweise, die ausreichten, um die Frau mehrerer Morde zu überführen.
Darüber hinaus entdeckte ich in den alten Zeitungen Dinge, die der alte Jacquelin nicht erwähnt hat. Die Theorie mit der Hexerei war zwar vom Gericht nicht offiziell anerkannt worden, aber sie kostete im Endeffekt doch den Arzt seine Praxis. Es stellte sich nämlich als erwiesen heraus, daß der gute Doktor, wenn auch in kleinerem Ausmaß, begann in die Fußstapfen seiner Frau zu treten. Bei Blutuntersuchungen nahm er seinen Patienten ein wenig mehr Blut als erforderlich ab, bei Operationen entfernte er ein paar Zentimeter mehr Fleisch … und hin und wieder entwendete er aus den Leichenhallen menschliche Organe. Das scheint mir der wahre Grund dafür zu sein, daß er nach der Verhandlung und der Hinrichtung seine Praxis aufgeben mußte.
Nicht eine einzige Zeitung berichtet davon, daß er nach der Hinrichtung die Leiche seiner Frau zu Modellzwecken bekommen hätte, wohl aber davon, daß die Leiche gestohlen wurde. Und Jacquelin verließ sofort nach der Hinrichtung Paris. Vor siebenunddreißig Jahren!«
Bertrouxs Stimme war heiser geworden.
»Du kannst dir vorstellen, wie diese Entdeckung auf mich wirkte.
Ich bin dann die Zeitungen Jahr für Jahr durchgegangen, um eine Spur von dem Mann zu finden. Den Namen Jacquelin fand ich nirgends. Aber hin und wieder tauchten kurze Meldungen über eine fahrende Wachsfigurenausstellung auf. Unter dem Namen Pallidi zog diese Ausstellung 1916 durch die baskischen Provinzen. Und als der Wagen eine der Städte verlassen hatte, fand man unter dem Platz, auf dem das Zelt aufgeschlagen gewesen war, die Leichen von zwei jungen Männern. Beiden fehlte der Kopf.
Bei der Show eines gewissen George Balto passierte 1924 in Antwerpen fast der gleiche Zwischenfall. Eines Tages wurde in einer Straße in der Nähe der Wachsfigurenausstellung die Leiche eines verstümmelten Mannes gefunden. George Balto wurde festgenommen und ins Kreuzverhör genommen. Man hatte aber keine Handhabe gegen ihn und mußte ihn wieder auf freien Fuß setzen. Die Namen des Besitzers wechselten, aber im Laufe der Jahre gab es noch einige Leichen, die zufällig in der Nähe der fahrenden Ausstellung gefunden wurden. Bei zwei weiteren Fällen beschreibt die Presse aber übereinstimmend den Besitzer der Show als einen ›kleinen, grauhaarigen Mann‹.
Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hat. Meine erste Reaktion war, mich an die Kriminalpolizei zu wenden. Aber dann sagte ich mir, daß die Polizei meine wilden Theorien nur belächeln würde. Ich muß noch viel mehr herausbekommen, um irgend etwas zu beweisen. Meiner Meinung nach ist der Kernpunkt des Geheimnisses die Frage: Was veranlaßt die Männer, diese Frauenfigur anzustarren und ihr zu verfallen? Worin liegt ihre Macht? Ich habe mir den Kopf über eine plausible Erklärung zerbrochen. Eine Zeitlang glaubte ich, daß der Besitzer seine einsamen männlichen Besucher hypnotisieren will und dabei die Figur als Medium benutzt. Aber warum? Welchen Sinn sollte das haben? Außerdem warst weder du noch ich hypnotisiert. Nein, das konnte es nicht sein. Es geht etwas von der Frauenfigur selbst aus, irgendeine geheime Macht, die – ich kann es nicht leugnen – an Zauberei grenzt. Sie gleicht einer jener Zauberinnen, über die wir früher in Märchenbüchern gelesen haben. Man kann ihr nicht entrinnen.
Auch ich nicht. Nachdem ich an jenem Nachmittag die Zeitungsredaktion verlassen hatte, ging ich in das Museum zurück. Ich redete mir ein, daß ich das nur tat, um mit dem kleinen grauhaarigen Mann zu reden, um das Geheimnis zu lüften. Aber in meinem Innern wußte ich es besser. Ich schob den Alten beiseite, als ich das Gebäude betrat, und eilte zu ihr. Und wieder einmal starrte ich schweigend in ihr Gesicht. Die unheimliche Wirkung ihrer verderbten Schönheit überwältigte mich. Ich versuchte, ihr Geheimnis zu ergründen, aber statt dessen las sie mir meins von den Augen ab. Ich fühlte, daß sie meine Gefühle für sie erkannte, und ich spürte, daß sie sich über mich lustig machte und daß es ihr Freude bereitete, ihre kalte Macht an mir zu erproben.
Ich ging benommen nach Hause. Als ich abends im Hotel saß und versuchte vernünftig über alles nachzudenken und mich bemühte, einen Schlachtplan gegen sie zu entwerfen, überkam mich plötzlich das dringende Verlangen, zurückzugehen. Dieser Wunsch war so übermächtig, daß ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich tat, Sekunden später auf der Straße stand und die Richtung zum Wachsfigurenkabinett einschlug. Als ich dort ankam, lag das Gebäude im Dunkeln, und ich ging unverrichteterdinge wieder ins Hotel zurück. Aber die Sehnsucht und das Verlangen blieben. Ehe ich einschlief, hatte ich das Gefühl, ich müßte unbedingt die Tür verriegeln.«
Der Oberst schaute Bertrand mit flackerndem Blick an, als er flüsterte:
»Du bist jeden Tag freiwillig zu ihr gegangen, mein Freund. Deine Qual, daß sie für alle Zeiten unerreichbar sein wird, ist kaum zu vergleichen mit meiner, denn ich habe mich mit jeder Faser meines Herzens gegen die Verzauberung gewehrt. Und weil ich nicht gewillt war, freiwillig zu ihr zu gehen, hat sie mich gezwungen. Die peinigende Erinnerung an sie verfolgte mich bis in meine Träume. Als ich mich heute morgen auf den Weg zu dir machte, zwang sie mich, meine Schritte in das Museum zu lenken. Ich weiß jetzt, daß die Männer einfach zu ihr kommen müssen. Entweder gehen sie freiwillig, wie du, und beten sie unaufgefordert an oder aber, wenn sie nicht freiwillig zu ihr kommen, zwingt sie sie. Als ich dich vor ein paar Tagen dort sah, schämte ich mich plötzlich. Aber ich konnte mich sträuben, soviel ich wollte, es trieb mich wieder und wieder zu ihr.
Als ich heute dort war, überfiel mich plötzlich die Angst, und ich rannte davon. Ich kam hierher. Als ich dich nicht antraf, beschloß ich zu warten. Ich habe die Tür gewaltsam geöffnet, damit ich mich einschließen konnte. Damit wollte ich mich selber zwingen, nicht wieder fortzulaufen, sondern auf dich zu warten. Ich mußte einfach mit dir reden. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, etwas dagegen zu unternehmen.«
»Was schlagen Sie vor?« fragte Bertrand. Er war über sich selbst erstaunt, wie ernst er die Geschichte des anderen nahm. Aber er wußte, daß er alleine nicht die Kraft hatte, von der Angebeteten loszukommen – mochte sie so böse sein, wie sie wollte. Doch seine Vernunft sagte ihm, daß er gegen die Sirenenklänge der wächsernen Figur kämpfen mußte – auch wenn ihm das Herz bei diesem Gedanken blutete. Er wußte. daß der Oberst auf seiner Seite war, ganz einfach, weil es ihn genauso gepackt hatte. Darum schaute er den Älteren jetzt so erwartungsvoll an.
»Wir werden morgen beide in das Museum gehen«, sagte der Oberst. »Zusammen sind wir stark genug, um gegen die geheime Macht oder Suggestion, oder wie immer du es nennen willst, zu kämpfen. Wir werden sehr offen mit Jacquelin sprechen und ihn aushorchen. Wenn er sich weigert zu reden, werden wir zur Polizei gehen. Ich bin überzeugt davon, daß an der ganzen Sache etwas Unnatürliches ist. Gleichgültig, ob es sich um Mord, Hypnose, Magie oder simple Einbildung handelt: Wir müssen der Sache sehr schnell auf den Grund gehen. Ich habe sowohl um dich als auch um mich Angst. Diese verfluchte Statue will mich an sich ketten und versucht mich immer wieder in ihren Bann zu ziehen. Laß uns die Angelegenheit gleich morgen klären. Es ist gefährlich, länger zu warten, denn es könnte eines Tages zu spät sein.«
»Ja«, murmelte Bertrand schwerfällig.
»Also gut. Ich werde dich morgen mittag um eins abholen. Ist dir das recht?«
Bertrand nickte, und der Oberst verschwand.
Unser Poet arbeitete den ganzen Abend über an seinem neuen Gedicht. Auf der einen Seite wollte er es vermeiden, immerfort an Bertroux’ seltsame Geschichte zu denken, und auf der anderen Seite hatte er das Gefühl, er dürfe nicht eher ruhen, bis er das Gedicht zu Ende gebracht hätte. Er spürte in seinem Unterbewußtsein den dumpfen Verdacht, daß er schnell arbeiten müßte, weil sich die Ereignisse in den nächsten Tagen so zuspitzen würden, daß Eile einfach geboten war.
Beim Morgengrauen ließ er erschöpft den Bleistift sinken. Als er ins Bett sank, war er so müde, daß er hoffte, traumlos schlafen zu können. Er wollte von der rothaarigen Frauenfigur, die ihm sonst den Schlaf raubte, verschont bleiben und nicht an seine gräßliche Abhängigkeit von einer Wachsfigur denken.
Er schlief tief und fest, während sich die Sonnenstrahlen vorsichtig über die Scheiben seines Mansardenfensters tasteten. Als er irgendwann aufwachte und sich erhob, ahnte er, daß die Mittagsstunde längst vorbei war, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Sonne verblaßt und einem gelben Nebel gewichen war, der vor seinen Fensterscheiben dichter und dichter wurde.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte Bertrands Ahnung. Es war schon drei Uhr vorbei.
Bertrand zuckte zusammen. Wo blieb der Oberst? Er war sicher, daß die Concierge ihn wachgetrommelt hätte, wenn sich ein Besucher bei ihr gemeldet hätte. Es gab keinen Zweifel: Der Oberst war nicht gekommen! Und das konnte nur einen Grund haben. Er hatte dem Zwang nicht widerstehen können, Salomes Sirenenklängen zu folgen.
Bertrand kleidete sich in fliegender Hast an und raste zur Tür.
Er klemmte sich das Manuskript mit dem fertigen Gedicht unter den Arm und stürmte die Treppen hinunter. Er bahnte sich seinen Weg durch den dichten, kriechenden Nebel.
Der Tag glich dem vor einem Monat haargenau, nur mit dem Unterschied, daß Bertrand nicht durch die Straßen irrte, sondern zielbewußt auf das Wachsfigurenkabinett zustrebte, um zu seinem qualvollen, unvermeidlichen Stelldichein zu kommen.
Er hatte vollständig vergessen, daß er losgerannt war, um den Oberst zu suchen. Er dachte nur an sie, als er durch den grauen Nebel hastete, um zu dem grauen Gebäude und dem grauhaarigen Mann und dem scharlachroten Feuer ihrer Haare zu gelangen …
Das schwache Licht über dem Eingang leuchtete ihm durch den Nebel entgegen. Er raste die Stufen hinunter und trat ein. Das ganze Museum wirkte wie ausgestorben. Weit und breit war keine Spur von dem kleinen, fetten Besitzer zu sehen. In Bertrands Herz schlich sich ein unbestimmter Argwohn ein, den er aber in seinem unwiderstehlichen Verlangen, Salome zu sehen, unterdrückte.
Die Luft in der Halle war schwüler und drückender als je zuvor. Sie schien mit der Vorahnung auf eine bevorstehende Katastrophe angefüllt zu sein. Die vielen Mörder starrten Bertrand verwundert und leicht spöttisch an, als er durch die Halle stürmte.
Bertroux war nicht da.
Bertrand blieb keuchend vor ihr stehen. Ihre Schönheit war noch nie so strahlend und aufreizend wie heute gewesen. In dem herrschenden Dämmerlicht hatte Bertrand das Gefühl, daß sie sich bewege und voller Leben sei. Ihre Augen funkelten einladend, und ihre glänzenden, halbgeöffneten Lippen schimmerten verheißungsvoll.
Bertrand beugte sich vor, um ihrem unergründlichen, zeitlosen, bösen Gesicht nahe zu sein. Er starrte sie atemlos an.
Irgend etwas an ihrem wissenden, zufriedenen Lächeln zwang ihn, hinunterzuschauen; hinunterzuschauen auf die silberne Schale, in der das abgeschlagene Haupt Johannes des Täufers ruhte. Die starren, weitaufgerissenen Augen glotzten ihn an.
Es war der Kopf von Oberst Bertroux!
Nach dem ersten Schock schaute Bertrand abwechselnd auf das spöttische Lächeln Salomes und auf das Blut, das um den abgeschlagenen Kopf herum eine Lache gebildet hatte. Und ihm fiel es wie Schuppen von den Augen.
Das war wahrlich realistische Kunst! Der erste Kopf vor einem Monat, der nächste in der vergangenen Woche und jetzt der von Bertroux, der nicht widerstehen konnte, ihrem Ruf zu folgen.
Bertrand fand jetzt einen Zusammenhang zwischen den jungen Männern, die es immer wieder magisch anzog, ihre Schönheit zu bewundern, und den Zeitungsberichten von Morden, bei denen die Opfer zerstückelt wurden. Die schöne Mörderin, die Hexe, die ihre Liebhaber enthauptet hatte, um sie ihren Göttern zum Opfer zu bringen, stand in einem verlassenen Wachsfigurenkabinett und verlangte nach immer neuen Opfern! Wie oft mochte im Laufe der Zeit der Kopf ausgewechselt worden sein?
Bertrand hatte nicht bemerkt, daß sich der kleine grauhaarige Mann an ihn herangeschlichen hatte. In seinen Augen funkelte ein unheimliches Feuer. Seine Hand umklammerte ein Operationsmesser. Er lächelte sie an, als er murmelte:
»Warum nicht? Sie lieben sie. Ich liebe sie. Sie war nicht so wie andere Frauen – sie war eine Hexe. O ja, sie hat zu Lebzeiten getötet, denn sie liebte das Blut der Männer und den Blick ihrer gebrochenen Augen, die dazu verdammt waren, für alle Zeiten ihre Schönheit anzubeten. Wir haben gemeinsam ihrer Göttin Hekate gedient und sie angebetet. Dann haben sie meine Frau enthauptet. Ich habe ihre Leiche gestohlen, um ihr Bildnis der Nachwelt zu erhalten. Ich wurde ihr Priester. Männer kamen und begehrten sie. Ich habe diesen Männern das geschenkt, was ich Ihnen jetzt schenke. Weil die Männer sie liebten, habe ich ihnen den Wunsch erfüllt, der in meiner Macht stand. Ich schenkte ihnen die Möglichkeit, ihre gepeinigten Häupter in ihren Händen ruhen zu lassen. Es mögen nur Wachshände sein, aber sie sind von ihrem Geist beseelt. Sie haben alle die Nähe ihres Geistes gespürt; deshalb kamen sie auch und beteten sie an. Mir erscheint ihr Geist jede Nacht und bittet mich, neue Liebhaber herbeizuschaffen. Wir, sie und ich, sind viele Jahre zusammen herumgereist, und jetzt sind wir nach Paris zurückgekehrt, um neue Anbeter zu finden. Die Köpfe müssen in ihren Händen liegen. Sie müssen unverwandt und voller Liebe in ihr Gesicht starren. Sobald sie eines Gesichtes überdrüssig wird, verschaffe ich ihr einen neuen Bewunderer.
Als der Oberst heute morgen kam und ich ihm das erzählte, was ich Ihnen jetzt sage, stimmte er mir zu. Das tun sie alle. Sie sollten auch einwilligen, mein Freund. Aber ich bin sicher, daß sie es tun werden. Stellen Sie sich nur einmal vor: in ihren blassen weißen Händen zu ruhen und den Blick nie von ihr abwenden zu müssen. Zu sterben und dabei ihre Schönheit vor Augen zu haben! Sie werden ihr das Opfer bringen, nicht wahr? Keine Menschenseele wird je etwas davon erfahren. Niemand wird auch nur den leisesten Verdacht schöpfen. Sie wollen Johannes der Täufer sein, nicht wahr? Sie wollen, daß ich es jetzt gleich tue, nicht wahr? Sie wollen, daß ich –«
Hypnose. Also doch Hypnose! Bertrand versuchte vergeblich, sich von der Stelle zu rühren, als der Alte eindringlich auf ihn einredete und gleichzeitig ihre starren Augen bittend auf ihn herabschauten.
Der kalte Stahl des Messers liebkoste Bertrands Kehle. Die Klinge begann, wehzutun. Durch einen grauen Nebel drangen Worte an sein Ohr, und durch einen scharlachroten Nebel hindurch starrte er in ihr Gesicht. Sie war eine Hexe, die Opfer forderte. Wie würde es sein, in ihren Armen zu ruhen, ihr nahe zu sein und sie so anzubeten, wie es schon andere vor ihm getan hatten? Wäre das nicht ein Tod, der wie für einen Dichter geschaffen war? Er könnte sie anschauen, bis er in ewiger Dunkelheit versunken war. Sein Kopf würde in wenigen Sekunden in der Silberschale ruhen, die ihre schmalen Hände umschlossen. Was hätte es für einen Sinn, weiterzuleben, wenn er sie doch niemals besitzen konnte? Warum sollte er also nicht im Bewußtsein ihrer Schönheit sterben? Es war so einfach. Ihr Mann kannte sich aus, und er war so nett zu Bertrand. So nett. Das Messer tat weh. Bertrand riß die Hände hoch. Er war plötzlich von panischer Angst erfüllt. Er schlug wild um sich und rang mit dem kleinen, schreienden, verrückten Mann. Das Messer fiel klirrend auf die Erde. Die beiden rangen keuchend. Als Bertrand wie rasend in das aufgeschwemmte Gesicht des anderen schlug und ihm fast die glasigen Augen auskratzte, fielen beide zu Boden.
Irgend etwas in Bertrands Innerem war wieder durchgebrochen. Vielleicht seine Jugend, vielleicht sein Wille zu leben oder vielleicht ganz einfach der gesunde Menschenverstand. Seine Finger preßten sich zusammen, als er den Kopf des Grauhaarigen auf den Boden schlug. Seine Hände umklammerten in rasender Wut die Kehle des anderen und drückten sie langsam zu.
Dann hörte seine Raserei plötzlich auf. Der Griff seiner Hände lockerte sich, und der Kopf des Verrückten fiel leblos zur Seite. Der fette Jacquelin war tot!
Bertrand erhob sich taumelnd und warf einen Blick auf seine teilnahmslose Göttin. Ihr Lächeln war unverändert. Als er auf ihre teuflische Schönheit starrte, begann seine Seele erneut ins Wanken zu geraten. Aber als seine Hand in die Manteltasche fuhr, kehrten sein Mut und seine Entschlußkraft zurück.
Er schleuderte ihr das zerknitterte Manuskript vor die Füße – das vollendete Gedicht an Salome.
Sehr langsam holte er die Streichhölzer hervor.
Er nahm das Manuskript wieder in die Hand und zündete es an. Als es brannte, hielt er es an ihre flammenden Haare. Und während sich Feuer mit Feuer vermischte, hörte sie nicht auf, Bertrand in einer Art anzustarren, die er immer noch nicht verstanden hatte; in der schrecklichen, durchdringenden Art, mit der sie ihn und all die anderen Männer verhext und ins Verderben gestürzt hatte.
Und noch immer hielt sie ihn in ihrem Bann. Er nahm Salome in seine Arme. Er preßte die brennende Salome, die unter den Flammen wie ein echtes Lebewesen zuckte und sich wand, an sich. Er hielt sie einen Augenblick in den Armen und stellte sie dann, als die Flammen um sich griffen, auf ihren Platz zurück. Sie verbrannte unheimlich schnell.
Hexen wurden schon immer verbrannt …
Und wie bei allen Hexen, so änderte sich auch ihr Gesichtsausdruck im Sterben. Er schmolz zu einer abscheulichen Fratze. Dann war ihr Gesicht nur noch ein gelber, unförmiger Wachsklumpen, aus dem ihre Glasaugen wie zwei blaue Tränen fielen. Ihr Körper wand sich im Todeskampf, als ihre wächsernen Gliedmaßen dahinschmolzen. Sie wirkte so echt und wirklich und gepeinigt. Ihre Qual war genauso groß wie die Bertrands, der ihren Todeskampf verfolgte.
Dann war alles vorüber.
Bertrand blickte versonnen auf den Mann, der still und tot auf dem Boden lag, während sich das Feuer langsam ausbreitete. In Kürze würde es das ganze Museum ausgelöscht haben. An keinem Mann würde sich die grauenhafte Wiederholung eines früheren Verbrechens vollziehen. Das Feuer würde dem allem ein Ende bereiten.
Bertrands Blick wanderte wieder zu dem zischenden und blubbernden gelben Wachshaufen, der noch vor wenigen Minuten Salome dargestellt hatte.
Er erstarrte.
Dann betete er, daß sich das Feuer rasch ausbreiten möge. Das Grauen saß ihm im Nacken, denn auf einmal verstand er alles. Das Geheimnisvolle, das von ihr ausgegangen war, das unheimlich Rätselhafte, das jeden in ihren Bann gezogen hatte, war plötzlich kein Geheimnis mehr für ihn.
Der wahnsinnige Mörder, der jetzt tot am Boden lag, hatte die Figur nach dem toten Körper seiner Frau geformt. Das hatte er Bertrand erzählt. Aber Bertrand sah jetzt mehr. Und er konnte sich die böse, verhängnisvolle Macht erklären. Von dem toten Körper einer Hexe geht eine schädliche Ausdünstung aus …
Bertrand wandte sich ab und rannte schluchzend aus der verwüsteten Halle, die jetzt in hellen Flammen stand. Er flüchtete vor dem Anblick des gelben, blubbernden, zerschmolzenen Wachshaufens, aus dem das verkohlte Skelett einer Frau, das dem Wachs Halt gegeben hatte, herausragte.