Rückkehr zum Sabbat
Ich kenne keinen meiner Kollegen, der so eine Geschichte gerne schreiben würde. Es ist keine jener Schnulzen, die die Presseagenturen nur zu gerne verbreiten. Würde ich doch für das Public-Relations-Büro der Filmgesellschaft arbeiten, hätte ich diese Geschichte auch gar nicht erst niedergeschrieben, denn ich hätte doch keine Zeitung gefunden, die sie abdruckt.
Wir Männer, die wir für Hollywood die Reklametrommel rühren, müssen diese Filmstadt als einen heiteren, fröhlichen Ort präsentieren, als eine Welt voller Ruhm und Herrlichkeit und eitel Sonnenschein. Wir dürfen nur die Lichtseiten von Hollywood zeigen. Aber jeder weiß, daß da, wo Licht ist, auch Schatten sein muß. Ich habe jahrelang davon gelebt, dem Publikum die Lichtseiten in den glänzendsten Farben zu schildern. Aber die Ereignisse, über die ich Ihnen jetzt berichten möchte, waren zu einschneidend, als daß man über sie hinweggehen könnte. Denn der Schatten, den dieser Zwischenfall warf, war nicht mehr menschlich.
Diese ganze Affäre lastete so sehr auf meiner Seele, daß ich danach meiner gewohnten Arbeit nicht mehr nachgehen konnte. Ich nehme an, das war auch der Grund, warum ich dann meinen Posten bei der Filmgesellschaft aufgegeben habe. Ich wollte vergessen. Der Himmel mag wissen, ob mir das jemals gelingt. Ich habe irgendwie das Gefühl, daß ich mich wohler fühlen werde, wenn ich mir die ganze Geschichte von der Seele geschrieben habe. Vielleicht kann ich dann eines Tages Karl Jorlas Augen vergessen …
Diese Affäre liegt jetzt drei Jahre zurück.
Sie begann an einem Abend im September …
Les Kincaid und ich schlenderten über die Hauptstraße in Los Angeles. Les ist ein Hilfsregisseur des Studios, und wir schlenderten an diesem späten Abend nicht zum schieren Vergnügen über die Hauptstraße in Los Angeles. Er brauchte für den Gangsterfilm, den er gerade drehte, noch ein paar Statisten, die realistisch wirken sollten, so echt ›aus dem Leben gegriffen‹. Les war in diesem Punkt sehr eigen. Er engagierte lieber ein paar finstere Gestalten von der Straße weg als die auf echt getrimmten Imitationen an der Filmbörse.
Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Wir waren an den engen Gassen des Chinesenviertels vorbeigekommen, hatten dann die Touristenfalle – ich meine die Olvera Street – abgegrast und landeten schließlich bei den schäbigen Hotels und Etablissements am Ende der endlos langen Hauptstraße, wo uns unschuldig blickende Philippinos wie zufällig folgten.
Wir hatten das Ganze langsam satt. Ich glaube, das war auch der Grund, daß uns das kleine, schmutzige, düstere Theater plötzlich ins Auge stach.
»Laß uns hineingehen und ein bißchen ausruhen«, schlug Les vor. »Ich bin todmüde.«
Nun gibt es selbst bei der übelsten Show Stühle, und ich hatte ebenfalls das dringende Bedürfnis, meine Beine auszustrecken und ein kleines Nickerchen zu machen. Die Bilder im Schaukasten versprachen nicht gerade umwerfende Darbietungen, aber das war mir gleichgültig, und ich stimmte Les’ Vorschlag zu.
Nachdem wir unsere Eintrittskarten gekauft hatten, betraten wir das enge, muffige Lokal und setzten uns. Wir ließen zwei Striptease-Tänze, einen uralten Sketch und das ›Große Finale‹ über uns ergehen. Danach ist es in solchen Lokalen üblich, daß sich die Bühne verdunkelt und eine Leinwand heruntergezogen wird.
Damit war der Augenblick gekommen, wo wir in Ruhe unser Nickerchen machen konnten. Bei den Filmen, die in diesen Häusern gezeigt werden, handelt es sich meist um uralte Schinken, die als Füller gezeigt werden; mit denen man die Gäste, die doch nichts mehr bestellen, hinausekelt, um für neue Kunden Platz zu schaffen. Bei den ersten plärrenden Musiklauten, die den Titel des Meisterwerks untermalten, schloß ich die Augen, rutschte tiefer in meinen Stuhl und versank in Morpheus Armen.
Ein kräftiger Hieb in die Rippen riß mich höchst unsanft aus meinem friedlichen Schlummer. Es war Les, der mir den Stoß versetzt hatte und sich jetzt flüsternd zu mir beugte.
»Schau dir das an«, murmelte er, »hast du so etwas schon einmal gesehen?«
Ich richtete meinen müden Blick auf die Leinwand. Ich kann heute nicht mehr sagen, was ich in diesem Augenblick erwartet hatte zu sehen; aber was ich sah – war das nackte Grauen. Ich wurde sehr schnell völlig munter.
Ich schaute auf einen ländlichen Friedhof mit alten dunklen Bäumen, durch die das Mondlicht schimmerte. Es war ein sehr alter Friedhof. Verwaschene Grabsteine und vermoderte Holzkreuze ragten grotesk winklig zum mitternächtlichen Himmel.
Dann schwenkte die Kamera auf ein frisch zugeschaufeltes Grab, das zwischen verfallenen Hügeln lag. Die unterlegte Musik schwoll an und wies damit auf einen Höhepunkt hin. Aber ich vergaß die Kamera und die ganze Filmtechnik, als ich gebannt auf die Leinwand starrte. Das Grab war irgendwie wirklich.
Das Grab bewegte sich!
Die Erde vor dem Grabstein hob sich in leichten, unregelmäßigen Bewegungen; so als ob jemand graben würde. Aber nicht von oben, sondern von unten! Es war schrecklich, wie langsam die Erde aufgewühlt wurde. Kleine Steine und Erdklumpen fielen zur Seite. Das Gras über der Erde schien zu leben und zu pulsieren.
Langsam, aber stetig brach die Erde im Mondlicht auf. Irgend etwas arbeitete sich von unten durch den Erdhügel durch!
Dieses Etwas mußte jeden Augenblick hervorkommen. Ich muß gestehen, daß ich es mit der Angst zu tun bekam. Ich wollte nicht sehen, was sich da von unten her zum Mondlicht durchkämpfte. Es konnte nichts Natürliches sein. Und es konnte nichts Menschliches im Sinn haben!
Und trotzdem brachte ich es nicht fertig, meinen Blick abzuwenden. Ich mußte es – oder ihn – oder sie – auftauchen sehen! Nachdem jenes Etwas einen großen Erdklumpen mit Rasen beiseite gestoßen zu haben schien, starrte ich vom Rand des Grabes aus in das schwarze Loch hinunter, das mir im Mondlicht entgegenklaffte.
Und irgend etwas bewegte sich.
Irgend etwas glitt durch den offenen Spalt und klammerte sich an der aufgeworfenen Erde des Hügels fest. In dem unheimlichen Schein dieses dämonischen Mondes konnte ich erkennen, daß es eine menschliche Hand war. Oder fast eine menschliche Hand. Es war eine dürre, bleiche Totenhand, an der noch ein paar Fleischfetzen hingen; die Klaue eines Skeletts … Eine zweite Kralle griff in die aufgeworfene Erde, und langsam, ganz langsam kamen zwei gräßliche Arme zum Vorschein. Nackte, fleischlose Arme. Mir stockte der Atem, als diese Arme wie zwei aussätzige weiße Schlangen über das Erdreich tasteten. Und diese Arme gehörten zu einer Leiche, einer Leiche, die sich langsam erhob.
In diesem Augenblick schob sich eine Wolke vor den Mond. Das Licht verblaßte; und das Grab lag im Schatten, als sich jetzt die Schultern und ein dürrer Schädel erhoben. Aber in wenigen Sekunden würde das Gesicht sichtbar werden. Das Gesicht des Wesens aus dem Grabe, die Visage, die durch den Tod längst verfault sein müßte. Was würde ich um Gottes willen zu sehen bekommen?
Der Schatten verschwand. Die ganze Gestalt hatte sich jetzt aus dem Grabe erhoben und drehte mir ihr Gesicht zu. Ich erstarrte und sah –
Nun, Sie waren sicher auch schon in Gruselfilmen. Sie wissen, was man da normalerweise zu sehen bekommt. Den ›Affenmenschen‹ oder den ›Irren‹ oder den ›Totenschädel‹. Sie kennen diese Meisterleistungen der Papiermache-Industrie.
Ich sah nichts dergleichen. Was ich sah, war das nackte Grauen. Zuerst dachte ich, es wäre das Gesicht eines Kindes. Aber nein, das stimmte nicht, nicht das Gesicht eines Kindes, sondern eines Mannes mit einer kindlichen Seele. Vielleicht war es das glatte, ruhige Gesicht eines Poeten. Lange Haare umrahmten eine hohe Stirn, halbmondförmige Augenbrauen wölbten sich über den geschlossenen Lidern. Die Nase und der Mund waren schmal und edel geschnitten. Von dem ganzen Gesicht ging ein überirdischer Friede aus. Man konnte fast meinen, einen Schlafwandler vor sich zu haben. Aber dann wurde das Gesicht größer und der Mondschein heller, und ich sah – mehr.
Die Spuren der Vergänglichkeit zeichneten sich deutlich ab. Die dünnen Lippen waren von Würmern angefressen, die Nasenlöcher waren ausgefranst, und Teile der Stirn waren der Fäulnis zum Opfer gefallen und durchlöchert. Das schwarze Haar war stumpf und mit Schlamm verkrustet, und auf den eingefallenen Wangen zeichneten sich dunkle Schatten ab.
Die fleischlosen Arme hoben sich jetzt, und die Knochenfinger strichen über diese toten Narben. Dann flatterten die vermoderten Lider, und – die Augen öffneten sich.
Sie waren groß, starr und lodernd – und in ihnen war das Grab. Es waren Augen, die sich beim Tod geschlossen und sich im Sarg unter der Erde wieder geöffnet hatten. Diese Augen hatten gesehen, wie der Körper langsam verfaulte und die Seele entschwand. Diese Augen hatten ein eigenes Leben weitergeführt, das so furchtbar gewesen sein mußte, daß sie den halbverfaulten Körper zwangen, das Grab wieder zu verlassen. Es waren hungrige Augen, die jetzt triumphierten, als sie auf das Mondlicht über dem Friedhof starrten. Sie hungerten nach der Welt, wie nur ein Toter nach dem Leben hungern kann. Und sie loderten mit eisiger Freude in dem totenblassen Gesicht.
Dann setzte sich die Leiche in Bewegung. Sie taumelte zwischen den Gräbern, stolperte über alte Steinplatten und stieß gegen morsche Holzkreuze. Sie schlurfte durch den nächtlichen Wald, bis sie die Straße erreicht hatte. Dann schlich sie unendlich langsam diese Straße entlang.
Und als die Lichter der Stadt unten aufleuchteten, leuchtete auch der Hunger in diesen Augen wieder auf. Der Tod war im Begriff, sich unter die Lebenden zu mischen.
Ich saß die ganze Zeit über wie versteinert da. Obwohl das Ganze nur ein paar Minuten gedauert hatte, glaubte ich, daß unzählige Jahre verstrichen wären.
Der Film ging weiter. Les und ich wechselten kein Wort, aber wir schauten weiter zu.
Der nun folgende Ablauf der Handlung war nichts weiter als eine einfache Routinesache. Der Tote war ein Naturwissenschaftler gewesen, dem ein junger Arzt seine Frau weggenommen hatte. Als der Naturwissenschaftler krank wurde, hatte ihn der junge Arzt behandelt und ihm unwissentlich ein zu starkes Betäubungsmittel gegeben, das den Tod zur Folge hatte.
Der Dialog war in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Alle Schauspieler waren mir unbekannt. Die Aufmachung und Kameratechnik war reichlich ungewöhnlich und die ganze Handlung so unglaubwürdig wie in ›Das Kabinett des Dr. Caligari‹ und anderen Filmen dieser Art.
Es folgte dann eine Szene, in der der lebendig-tote Mann bei einer Schwarzen Messe zum Hauptpriester der Zeremonie ernannt wurde. Man reichte ihm ein kleines Kind … Seine Augen, als er mit dem Messer zustach …!
Er blieb während des ganzen Films die halbverfaulte Leiche … Die Anhänger der Schwarzen Messe betrachteten ihn als einen Sendboten des Satans … Als Opfer für seine Wiederauferstehung entführten sie seine Frau …
Dann sah man, wie seine Frau einen hysterischen Anfall bekam, als sie ihm gegenübergestellt wurde und in ihm ihren Ehemann erkannte, und man hörte sein böses, heiseres Flüstern, als er ihr sein Geheimnis enthüllte …
Dann kam noch eine Versammlung der Teufelsanbeter vor einem großen Felsaltar in den Bergen … und schließlich der zweite Tod des Wiederauferstandenen.
Der Tote, nunmehr ein vollständiges Skelett, krümmte sich, als er von den Geschossen des jungen Arztes und seiner Nachbarn durchlöchert wurde, und sackte auf dem Altar zusammen. Und als seine Augen im zweiten Tod erstarrten, betete er mit dröhnender Stimme zum Teufel.
Dann kroch die Leiche über den Boden zu dem rituellen Feuer, richtete sich schmerzverzerrt auf und wankte dann in die Flammen. Dort stand sie einen Moment wie erstarrt. Ihre Lippen formten Worte, die für den Teufel bestimmt waren, und die Augen flehten nicht den Himmel, sondern die Hölle an. Dann öffnete sich mit einem gewaltigen Flammenblitz die Erde, und die verkohlte Leiche versank …
Das Ganze wirkte grotesk und abgedroschen. Als der Film abgelaufen war und die Kapelle lärmend den Beginn einer neuen ›Fleisch-Schau‹ ankündigte, kehrten Les und ich in die Wirklichkeit zurück und wurden uns unserer Umgebung bewußt. Wir richteten uns auf und schauten in die Runde. Die restlichen Besucher schienen genauso betäubt zu sein wie wir selbst. Japaner starrten mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit, Philippinos tuschelten heimlich miteinander, und sogar die betrunkenen Arbeiter vergaßen, den Beginn der Show mit dem sonst üblichen unflätigen Gejohle zu begrüßen.
So abgedroschen und grotesk die Handlung des Films auch gewesen sein mochte, der Hauptdarsteller hatte seine Rolle mit einem gespenstischen Realismus gespielt. Er hatte sie im eigentlichen Sinne nicht gespielt, denn er war tot gewesen und seine Augen wußten. Und seine Stimme war die eines Auferstandenen.
Ohne daß wir uns darüber unterhielten, spürten wir beide, Les und ich, das gleiche. Ich folgte ihm schweigend, als er die Stufen zum Büro des Managers hinaufging.
Edward Reich schaute verdrießlich von seinem Tisch auf, als wir hineintaumelten. Er war über unseren Besuch alles andere als erfreut. Als Les ihn fragte, woher er den Film für den heutigen Abend bekommen hätte und wie der Titel lautete, öffnete Edward Reich seinen Mund und ließ eine Tirade von Flüchen los.
Wir erfuhren, daß er ›Rückkehr zum Sabbat‹ von einer billigen Agentur aus Inglewood bekommen hätte, daß er einen Western bestellt und man ihm aus Versehen diesen ›verdammten ausländischen Mist‹ geschickt hätte. Ein Drecksfilm wäre das für eine Striptease-Show! Statt sich an nackten Mädchen zu erfreuen, bekämen die Besucher nichts weiter als eine Gänsehaut. Und verstehen würden sie auch nichts, weil der Streifen noch nicht einmal in englisch wäre. Diese stinkigen importierten Filme!
Es dauerte eine geraume Zeit, bis wir dem tobenden Manager den Namen der Agentur entreißen konnten. Als wir ihn endlich erfahren hatten, hängte sich Les Kincaid sofort ans Telefon und sprach mit dem Chef dieser Agentur, und eine Stunde darauf saßen wir schon in dessen Büro. Am nächsten Morgen redete Kincaid auf die hohen Tiere der Filmgesellschaft ein, und am folgenden Tag erhielt ich den Auftrag, eine Pressemeldung zu schreiben, daß man Karl Jorla, den österreichischen Star für Gruselfilme, per Kabel in das Studio bestellt hätte und daß sich Karl Jorla schon auf dem Weg in die Vereinigten Staaten befände.
Ich baute diese Meldung zusammen und gab ihr so viel Würze, wie ich nur konnte. Aber nachdem diese erste Ankündigung erschienen war, hieß es, daß ich vorerst keine weiteren Meldungen herausgeben sollte. Das Ganze war einfach zu überstürzt in Angriff genommen worden, und bei genauer Betrachtung wußten wir eigentlich überhaupt nichts über diesen Karl Jorla. Die Telegramme, die wir nach Österreich und Deutschland jagten, um etwas über das Privatleben dieses Burschen zu erfahren, verhalfen uns nicht zu den gewünschten Informationen. Im Gegenteil, die Antworten waren für uns vernichtend. Er hatte offensichtlich vor ›Rückkehr zum Sabbat‹ in keinem einzigen Film mitgespielt und war völlig unbekannt. Dieser Film wäre auch nie offiziell exportiert worden, und es wäre lediglich ein Versehen, daß die Inglewooder Agentur eine Kopie hätte, die sie hier in den Vereinigten Staaten laufen ließ. Darüber hinaus wäre dieser Streifen in keinem Filmregister eingetragen. Da der Film weder in Österreich noch in Deutschland öffentlich zu sehen gewesen wäre, gäbe es über ihn auch keine Besprechungen und Kritiken.
Ich hätte vor Wut platzen können! Da hatten wir nun die ›Entdeckung des Jahres‹, und ich bekam kein Material zusammen, um es groß herauszubringen!
Der einzige Trost war, daß wir in vierzehn Tagen mit Karl Jorlas Ankunft rechneten. Ich sollte ihn dann sofort bearbeiten und ausquetschen und die Nachrichtenagenturen mit Geschichten überfluten. Drei unserer besten Autoren schrieben schon eifrig an einem Drehbuch für Jorla; und ›der Alte‹ kümmerte sich höchstpersönlich um dieses Drehbuch. Die Handlung sollte so ähnlich werden wie die in dem ausländischen Film, denn die »Vom-Tode-auferstehen« Szenen wollte man sich keinesfalls entgehen lassen.
Jorla kam am siebenten Oktober an und zog in ein Hotel. Das Studio schickte ihm das übliche Begrüßungskomitee. Man brachte ihn zu formellen Probeaufnahmen ins Atelier, und dann wurde er mir ›übergeben‹.
Zum ersten Male stand ich diesem Mann in der kleinen Garderobe, die man ihm zugewiesen hatte, gegenüber. Ich werde den Nachmittag, an dem ich ihn kennenlernte, nie vergessen, diesen Augenblick, als ich die Tür zu seiner Garderobe aufmachte und ihn zum ersten Male sah.
Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartet hatte; aber was ich dann sah, verblüffte mich doch einigermaßen. Denn Karl Jorla war auch im Leben der lebendig-tote Mann, den er im Film dargestellt hatte.
Natürlich war sein Gesicht nicht zerfressen und angefault. Aber er war sehr groß und fast so skelettartig dünn wie in seiner Rolle. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen waren von dunklen Rändern umgeben. Und die Augen waren die toten Augen aus dem Film, die unergründlichen, wissenden Augen!
Er begrüßte mich mit seiner dröhnenden Stimme in stockendem Englisch. Seine Lippen lächelten über meine offensichtliche Verwirrung, aber der fremde, eigentümliche Ausdruck in seinen Augen blieb. Ich habe auch später nie erlebt, daß sich dieser Blick änderte.
Ich kam ein wenig ins Stottern, als ich ihm erklärte, wer ich sei und was ich von ihm wolle.
»Keine Publicity«, sagte er mit stark fremdländischem Akzent. »Ich will nicht, daß die Leute etwas davon erfahren, was nur meine rein persönliche Angelegenheit ist.«
Ich kam ihm mit den üblichen Gegenargumenten. Ich weiß nicht, inwieweit er mich verstand, aber er blieb felsenfest bei seinem Vorsatz. Was ich dann aus ihm herausholte, war wahrlich dürftig genug.
Ich erfuhr, daß er in Prag geboren war, bis zu den umwälzenden Ereignissen in Europa im Wohlstand gelebt hatte und die bewußte Filmrolle nur übernommen hätte, um seinem Freund, einem Filmregisseur, einen Gefallen zu tun. Dieser Regisseur hätte den Film, in dem Jorla spielte, nur für Privatvorführungen gedreht. Durch ein dummes Mißgeschick wäre aber eine Kopie zwischen andere Filmrollen gerutscht und dadurch in den allgemeinen, öffentlichen Umlauf gekommen. Das wäre ein schrecklicher Fehler, der aber nicht rückgängig zu machen sei. Das amerikanische Filmangebot wäre ihm, Karl Jorla, jedoch sehr gelegen gekommen, weil er Österreich sowieso unverzüglich verlassen wollte.
»Als der Film erscheinen tat, bin ich gekommen in ein sehr schlechtes Licht bei meinen Freunden«, erklärte er sehr langsam und nach Worten suchend. »Sie wollten nicht, daß sie gezeigt wird, die Zeremonie.«
»Die Zeremonie?« fragte ich verblüfft. »Sie meinen die Schwarze Messe?« Ich zögerte. »… das sind Ihre Freunde?«
»Ja. Die Anbetung von Luzifer … die war echt, müssen Sie wissen.« Ich starrte ihn an. Wollte er sich mit mir einen Scherz erlauben? Doch nein – an der Aufrichtigkeit dieses Mannes war nicht zu zweifeln. In diesen Augen war kein Platz für einen Scherz. Und dann begriff ich, was er meinte. Ich verstand, was er da wie beiläufig enthüllte. Er war selber ein Teufelsanbeter gewesen – er und jener Filmregisseur. Sie hatten diesen Film nur gedreht, um ihn in ihren eigenen okkulten Zirkeln vorzuführen. Es war kein Wunder, daß er sich nach dem Mißgeschick ins Ausland zurückziehen wollte!
Meine Gedanken drehten sich im Kreise. Ich konnte es nicht fassen. Schwarze Messen in Europa! Ich erinnerte mich, irgendwann irgendwo gehört zu haben, daß es auch heutzutage noch Teufelsanbetungen in Budapest, Prag und Berlin geben sollte, aber ich hatte es nicht geglaubt. Und er, Karl Jorla, der Schreckensdarsteller, gab zu, diesem Kreise anzugehören!
»Das gibt eine prächtige Geschichte«, dachte ich höchst zufrieden, aber fast im selben Augenblick sah ich meine Felle davonschwimmen; denn diese Geschichte konnte natürlich niemals gedruckt werden. Ein Darsteller von Greuelszenen, der zugibt, an die Rollen, die er spielt, zu glauben? Unmöglich!
Alle Interviews mit Boris Karloff ergaben, daß er ein herzensguter Mann war, der seinen wahren Frieden darin fand, sich mit seinem Rasen zu beschäftigen. Lugosie wurde immer als sensibler Neurotiker geschildert, der Höllenqualen bei seinen Filmrollen ausstand. Und über Peter Lorre schrieb man, daß er im Leben so sanft wie ein Lamm sei und keinen größeren Wunsch hätte, als einmal in einem Lustspiel mitzuwirken.
Nein, mit der Geschichte von Jorlas Teufelsanbetung war kein Geschäft zu machen. Und über sein Privatleben schwieg sich Jorla gründlich aus. Fabelhaft!
Als ich mein unbefriedigendes Interview beendet hatte, suchte ich Les Kincaid auf. Ich erzählte ihm von meinen Schwierigkeiten und bat ihn um Rat. Er wußte einen Ausweg.
»Ganz einfach«, sagte er. »Die alte Masche. Der geheimnisumwitterte Mann. Wir sagen gar nichts über ihn und sein Leben, bis der Film herausgekommen ist. Ich habe das Gefühl, daß nachher alles von selber läuft. Der Bursche ist ein Wunder. Zerbrich dir also nicht den Kopf wegen irgendwelcher Geschichtchen, sondern warte, bis der Film abgedreht ist und läuft.« Ich unterließ also meine Bemühungen, für Karl Jorla Publicity zu machen. Heute bin ich darüber froh, denn es gibt keinen, der sich an seinen Namen erinnern könnte oder eine Ahnung von dem Grauen hätte, das sich bald darauf ereignete.
Das Drehbuch war nach einigen Änderungen fertig und fest angenommen. Der Film sollte in Halle vier gedreht werden. Die Besetzung der Rollen war fast abgeschlossen.
Jorla erschien jeden Tag im Atelier, wo ihm Les Kincaid eine Art Englischunterricht erteilte. Das war nicht sonderlich schwierig, denn erstens waren bei Jorlas Rolle nicht viele Sätze vorgesehen und zweitens erwies er sich, laut Les, als ein großartiger Schüler.
Aber trotzdem schien Les mit allem nicht so zufrieden zu sein, wie man es eigentlich annehmen sollte. Ungefähr eine Woche vor dem ersten Drehtag kam er zu mir und schüttete mir sein Herz aus. Er versuchte zwar das, was er sagte, als Bagatelle hinzustellen, aber ich wußte, daß er sich ernstliche Sorgen machte.
Der Kernpunkt der Geschichte war sehr einfach und läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Jorla fing an, sich seltsam zu benehmen.
Zuerst einmal bekam er Streit mit der Verwaltung. Es hatte sich herausgestellt, daß er einige Tage nach seiner Ankunft in Hollywood aus dem Hotel wieder ausgezogen war, aber er weigerte sich, im Studio seine derzeitige Adresse anzugeben.
Aber das war nicht alles.
Er wollte sich nicht über seine Rolle unterhalten und dachte nicht daran, irgendwelche Vorschläge für die Interpretation zu machen. Der ganze Film schien ihn nicht zu interessieren, und er gab Kincaid gegenüber unumwunden zu, daß er den Vertrag nur unterzeichnet hätte, um die Möglichkeit zu haben, Europa zu verlassen.
Er erzählte Kincaid das, was er mir gesagt hatte – die Sache mit der Teufelsanbetung. Und er erging sich in finsteren Andeutungen. Er murmelte etwas von ›Verfolgung‹, ›Rächern‹ und ›Jägern, die auf der Lauer lagen‹. Er schien das Gefühl zu haben, daß die Anbeter der Schwarzen Messe auf ihn zornig waren, weil er ihr Geheimnis verletzt hatte und weil sie ihn offensichtlich für die Freigabe von ›Rückkehr zum Sabbat‹ verantwortlich machten. Aus diesem Grund, fuhr Jorla fort, könnte er weder seine Adresse angeben noch für eine Veröffentlichung etwas aus seiner Vergangenheit erzählen. Aus demselben Grund müßte er auch in dem Film ein Make-up bekommen, das sein Äußeres völlig veränderte. Er hatte häufig das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden. Hier in Hollywood wären so viele Ausländer … zu viele Ausländer.
»Was, zum Teufel, soll ich mit so einem Mann machen?« schnaubte Kincaid, als er mir das alles erzählt hatte.
»Er ist entweder ein Wahnsinniger oder ein Narr!« fuhr er fort. »Und ich muß gestehen, daß er der Gestalt in seinem Film zu sehr ähnelt, als daß ich ihn sympathisch finden könnte. Und diese verdammt beiläufige Art zu bekennen, daß er in die Teufelsanbetung und den ganzen Zauberkram hineingeschlittert wäre. Er glaubt also an diesen ganzen Kram und – ja, um die Wahrheit zu sagen, ich bin eigentlich wegen der letzten Sache, von der er gesprochen hat, zu dir gekommen …
Karl Jorla ist heute in mein Büro gekommen. Ich habe ihn zuerst gar nicht erkannt. Und das lag nicht nur an der dunklen Sonnenbrille und dem dicken Schal, den er sich bis über das Kinn hochgezogen hatte. Er selbst hat sich verändert. Er zitterte am ganzen Körper und ging gebeugt. Und als er sprach, klang seine Stimme wie ein Stöhnen. Er zeigte mir – dieses hier.«
Kincaid reichte mir einen Zeitungsausschnitt. Es handelte sich um eine Meldung aus der Londoner ›Times‹, die über eine europäische Presseagentur in die hiesigen Zeitungen gekommen war und die besagte, daß Fritz Ohmmen, der österreichische Filmregisseur, ums Leben gekommen war. Man hatte ihn erwürgt in einer Pariser Mansarde gefunden, und seine Leiche war grauenhaft verstümmelt. In der Meldung wurde weiterhin erwähnt, daß der oder die Täter dem Opfer ein auf den Kopf gestelltes Kreuz auf die Brust über den aufgeschlitzten Eingeweiden eingebrannt hatten. Die Mörder würden noch von der Pariser Polizei gesucht …
Ich reichte Les den Zeitungsausschnitt zurück. »Na und?« fragte ich, obwohl ich mir seine Antwort schon denken konnte.
Kincaid räusperte sich. »Fritz Ohmmen war der Regisseur des Films, in dem Karl Jorla gespielt hat, der Regisseur, der – genauso wie Jorla – die Teufelsanbeter kannte. Jorla behauptet, daß sein Freund nach Paris geflohen ist und daß sie ihn ausfindig gemacht haben.«
Ich schwieg.
»Verdammter Mist«, grunzte Kincaid. »Ich habe Jorla polizeilichen Schutz angeboten, aber er hat ihn abgelehnt. Was soll ich da machen? Solange er sich hier im Studio aufhält, ist er sicher, aber sonst … Er hat eine Heidenangst. Und ich kriege sie langsam auch.« Les erhob sich und ging. Ich konnte ihm auch nicht helfen. Ich saß da und dachte über Karl Jorla nach, der an Teufelsmächte glaubte; sie erst anbetete und dann verriet. Ich könnte über diese ganze alberne Geschichte überheblich lächeln, wenn ich den Mann nicht auf der Leinwand gesehen und seine unheimlichen, wissenden Augen beobachtet hätte. Ich war in diesem Augenblick sehr froh, daß wir keinen Rummel um Karl Jorla gemacht hatten.
In den nächsten Tagen bekam ich Jorla kaum zu Gesicht. Dafür drangen aber die verschiedensten Gerüchte zu mir. Vor den Toren des Filmgeländes hatten sich viele neugierige Ausländer versammelt. Ein paar hatten in einem Rennwagen versucht die Barrieren zu durchbrechen. Bei einem Statisten einer Massenszene, die in Halle sechs gedreht wurde, hatte man unter der Weste einen geladenen Revolver gefunden. Man hatte den Statisten festgenommen. Er hatte sich dadurch verdächtig gemacht, daß er vor den Fenstern von Studio vier herumlungerte und auf irgend etwas zu lauern schien. Bis zum jetzigen Zeitpunkt weigerte sich der Mann immer noch, zu sprechen. Es war ein Deutscher … Jorla ließ sich jetzt immer in einem geschlossenen Wagen ins Atelier fahren. Er war bis zu den Augen vermummt. Er zitterte unaufhörlich. Seine Fortschritte in der englischen Sprache waren erbärmlich. Er sprach mit keinem Menschen. Er hatte zwei Männer angestellt, die ihn auf Schritt und Tritt begleiteten. Sie waren bewaffnet.
Nach ein paar Tagen drang die Nachricht zu mir, daß der deutsche Statist sein Schweigen gebrochen hatte. Er war offensichtlich ein pathologischer Fall … nachdem man ihn zum Reden gebracht hatte, plapperte er wild drauf los und faselte irgend etwas von einem ›Schwarzen Luzifer-Kult‹, der hier in der Stadt viele ausländische Anhänger hatte. Es handelte sich um eine geheime Sekte, die angeblich den Teufel anbetete und mit gleichartigen Sekten in den betreffenden Heimatländern in Verbindung stand. Man hatte ihn, den Deutschen, dazu ›auserwählt‹, den Abtrünnigen und Verräter zu vernichten. Weitere Einzelheiten wagte der Deutsche nicht zu sagen. Aber man brachte ihn noch dazu, eine Adresse zu nennen, wo die Polizei vielleicht die Zentrale der Sekte finden könnte. Wie jedoch nicht anders zu erwarten, fand die Polizei das Nest, ein verkommenes altes Gebäude in Glendale, verlassen vor. Sie entdeckte unter diesem sonderbaren Haus lediglich einen Geheimgang, der zu einem Keller führte, aus dem offensichtlich in großer Eile alles Verdächtige entfernt worden war. Der Deutsche wurde weiterhin festgehalten. Man wollte nunmehr einen Psychiater zu ihm schicken.
Mich überkamen böse Vorahnungen, als ich diesen Bericht hörte. Mir war einiges von der fremdartigen ausländischen Bevölkerung von Los Angeles und Hollywood bekannt. Der Himmel mochte wissen, warum, aber Südkalifornien hatte schon immer auf Okkultisten und Mystiker eine unerklärliche Anziehungskraft ausgeübt. Mir waren sogar Gerüchte zu Ohren gekommen, denen zufolge einige unserer bekanntesten Stars Beziehungen zu diesen widerwärtigen Geheimsekten haben sollten; eine Tatsache, die jedoch niemand zu veröffentlichen wagen würde. Und Jorla hatte Angst!
Ich hatte das Gefühl, daß ich nicht tatenlos herumsitzen dürfte. Darum klemmte ich mich eines Nachmittags hinter Jorlas schwarzen Wagen und wollte ihm bis zu seinem mysteriösen Haus folgen. Aber Jorlas Fahrzeug war schneller als meins, und ich verlor es in den windigen Serpentinen des Topanga Canyons aus den Augen. Sein Wagen war auf einmal in der Dämmerung, die über den purpurroten Hügeln lag, verschwunden. Pech. Da konnte ich nichts machen. Sollten die Männer, die Jorla zu seinem Schutz angeheuert hatte, versagen, würden wir vom Studio keine Möglichkeit haben, ihm zu helfen.
Das war der Abend, an dem Jorla verschwand.
Zumindest erschien er am nächsten Morgen entgegen seiner Gewohnheit nicht im Atelier. Und die Dreharbeiten für seinen Film sollten in zwei Tagen anfangen! Der ›Alte‹ und Les Kincaid bekamen einen Tobsuchtsanfall. Die Polizei wurde alarmiert. Ich tat mein möglichstes, um die ganze Geschichte nach außen hin zu vertuschen.
Als Jorla auch am darauffolgenden Morgen nicht erschien, ging ich zu Kincaid und sagte ihm, daß ich Jorlas Wagen bis zum Topanga Canyon verfolgt hatte.
Die Polizei arbeitete fieberhaft!
Für den nächsten Tag war der Drehbeginn angesetzt!
Wir verbrachten eine schlaflose Nacht, die uns jedoch keinen Schritt weiterbrachte. Wir hörten kein Wort, weder von Jorla selbst noch über seinen Verbleib. Als der Morgen graute, hob Kincaid den Kopf und schaute mich schweigend an. Aber in seinen Augen stand eine unausgesprochene Befürchtung. Acht Uhr. Wir standen auf und gingen wortlos nebeneinander über das Filmgelände zur Kantine. Wir hatten das dringende Bedürfnis nach starkem Kaffee. Die Polizei hatte uns seit Stunden keinen Bericht durchgegeben. Auf unserem Weg kamen wir an Halle vier vorbei, wo die Kulissenarbeiter schon eifrig am Werk waren. Das emsige Hämmern kam uns wie der reinste Hohn vor. Wir hatten das sichere Gefühl, daß Jorla heute bestimmt nicht vor der Kamera stehen würde, wenn überhaupt jemals …
Bleskind, der Regisseur des Grusel-Meisterwerkes, das bis jetzt noch keinen Titel hatte, kam aus der Halle geschossen, als er uns vorbeigehen sah.
Sein fetter Wanst wabbelte vor Aufregung, als er Kincaids Arm umklammerte, und er krächzte: »Was Neues?«
Kincaid schüttelte langsam den Kopf.
Bleskinds Zigarre rutschte von einem Mundwinkel in den anderen. »Wir müssen anfangen«, ächzte er. »Wir werden alles um Jorla herum in den Kasten bringen. Wenn die Szenen, in denen er nicht auftritt, abgedreht sind und er ist dann immer noch nicht aufgekreuzt, müssen wir eben einen anderen Schauspieler nehmen. Aber wir können unmöglich länger warten.« Der kleine, dicke Regisseur watschelte mit einer Schnelligkeit, die man ihm bei seiner Körperfülle nicht zugetraut hätte, in die Halle zurück.
Kincaid folgte einer plötzlichen Eingebung, als er mich beim Arm packte und mit mir hinter dem watschelnden Dicken in die Halle stürzte.
»Wir wollen zusehen, wenn die erste Klappe fällt«, sagte er rasch. »Ich möchte doch mal wissen, wie sie die Geschichte für Jorla aufziehen.«
Halle vier hatte sich in ein gotisches Schloß verwandelt, in den Stammsitz von Baron Ulmo. Wir schauten in eine dunkle, unheimliche Gruft, die schon zehn Meilen gegen den Wind nach Greueltaten roch. Der Staub breitete sich wie ein riesiges Leichentuch aus, und die vielen Spinngewebe deuteten darauf hin, daß seit ewigen Zeiten kein menschliches Lebewesen diese Gruft betreten hatte. Tagsüber war sie den Ratten überlassen, und nachts kroch das Grauen über die kalten Steine. In der Mitte der Gruft war ein Altar errichtet, ein Altar des Satans. Es war ein großer schwarzer Stein, an dem sich einst Baron Ulmo mit Gleichgesinnten dem Teufelskult ergeben hatte, vor dem sie Luzifer anbeteten und ihm Opfer darbrachten. Jetzt lag der Baron unter dem Altar begraben. Das war in etwa die Legende.
Laut Drehbuch hatte jetzt Sylvia Channing, die Heldin der Geschichte, zu erscheinen. Sie hatte das alte Schloß geerbt, war mit ihrem jungen Ehemann eingezogen und durchstöberte nun jeden Winkel des alten Gemäuers.
In dieser Szene sollte sie den Altar zum erstenmal sehen und die verwaschene Inschrift lesen. Sie konnte natürlich nicht ahnen, daß diese Inschrift unter gewissen Bedingungen zu einer Art Anruf werden konnte, der zur Folge hatte, daß sich das Grab öffnete und Baron Ulmo von den Toten erweckt wurde. Die Leiche hatte sich aus dem Grab zu erheben und zu wandeln. An diesem Punkt sollten die Dreharbeiten – wegen Jorlas Abwesenheit – erst einmal unterbrochen werden.
Ich mußte anerkennend feststellen, daß die Kulissen und die ganze Aufmachung großartig gelungen waren.
Auf ein Zeichen Regisseurs Bleskinds setzten sich Les Kincaid und ich neben ihn. Die Scheinwerfer flammten auf, Sylvia Channing trat in die Kulissen, und die Kamera lief.
Das Ganze war zu Anfang eine Pantomime. Sylvia ging über den mit Spinngeweben bedeckten Steinboden. Sie entdeckte den Altar und untersuchte ihn neugierig. Vor der Inschrift blieb sie stehen und las sie aufmerksam. Dann wiederholte sie flüsternd die Worte.
Ein Dröhnen und Pfeifen erfüllte die Gruft, als sich der Mechanismus automatisch in Bewegung setzte. Der Steinaltar schob sich ächzend zur Seite, und eine große schwarze klaffende Grube wurde sichtbar.
Die Kamera schwenkte auf Sylvias Gesicht. Sie hatte voller Entsetzen in die Grube zu starren, und ich muß sagen, es gelang ihr vortrefflich. Im fertigen Film würde sie dann auf Jorlas Gestalt starren.
Bleskind war im Begriff, das Zeichen zum Abbrechen zu geben. Aber da –
Irgend etwas erhob sich aus dem Grab!
Es war tot, dieses Etwas, dieses Grauen mit der Maske gesichtslosen Fleisches. Um seinen Körper hingen vermoderte Lumpen, und auf seiner Brust leuchtete ein blutiges, auf den Kopf gestelltes Kruzifix, das aus dem toten Fleisch herausgeschnitten worden war. Seine Augen loderten ekelhaft. Es war Baron Ulmo, der von den Toten auferstand. Und es war Karl Jorla!
Das Make-up war einmalig. Seine Augen waren so tot wie in dem anderen Film. Seine Lippen schienen wieder angefressen zu sein. Aber sein Mund wirkte fast noch abscheulicher als damals, denn er war geöffnet und legte ein pechschwarzes Loch frei. Die Wirkung, die von dem blutenden Kruzifix ausging, war so eindrucksvoll, daß sie sich nicht beschreiben läßt.
Bleskind verschluckte beinahe seine Zigarre, als Jorla erschien. Aber er war geistesgegenwärtig genug, den erstarrten Kameraleuten das Zeichen zum Weiterdrehen zu geben.
Wir saßen weit vorgebeugt und verfolgten angestrengt jede Bewegung. Aber ich sah in Les Kincaids Augen dasselbe ungläubige Staunen, das mich erfüllte.
Jorla spielte wie nie zuvor.
Er bewegte sich so langsam, wie man es von einer Leiche erwartete. Als er sich mühsam aus dem Grab aufrichtete, schien ihm jede kleinste Anstrengung Pein zu bereiten. Die ganze Szene verlief lautlos. Sylvia war in Ohnmacht gefallen. Als sich dann aber Jorlas Lippen bewegten, hörten wir ein schwaches geflüstertes Gemurmel, das das Grauen nur noch unterstrich. Inzwischen hatte sich sein schrecklicher Körper fast zur Hälfte aus dem Grab erhoben. Er schien sich unter gräßlichen Qualen weiter aufzurichten, wobei er mit seinem Gemurmel fortfuhr. Das blutende, ins Fleisch eingeschnittene Kruzifix glühte dunkelrot auf seiner Brust. Dabei fiel mir das Kreuz ein, das man bei seinem ermordeten Freund, dem österreichischen Regisseur Fritz Ohmmen, vorgefunden hatte. Jetzt war mir klar, wie Karl Jorla auf diese Idee gekommen war.
Die Leiche richtete sich auf … sie war im Begriff, sich zu erheben … aber dann wurde sie mit einem plötzlichen Ruck steif und sank in das Grab zurück.
Ich weiß nicht, wer den ersten Schrei ausstieß. Aber nachdem die Bühnenarbeiter zu dem Grab gestürzt waren um nachzusehen, was darin lag, hörte das Schreien überhaupt nicht mehr auf.
Ich raste nach vorn. Und ich schrie ebenfalls, als ich am Rand des Grabes stand.
Denn das Grab war leer.
Ich wünschte, daß ich damit die Geschichte beenden könnte. Die Zeitungen haben nie etwas davon erfahren. Die Polizei gab keinen Bericht heraus. Die Leute, die bei den Dreharbeiten anwesend waren, sagten sowieso kein Wort. Die Herstellung des Filmes wurde unverzüglich eingestellt. Aber die Geschichte hörte damit leider noch nicht auf. Das Ungeheuerliche, das sich auf der Bühne zugetragen hatte, hatte noch ein Nachspiel.
Kincaid und ich starrten Bleskind an, dessen Mund auf- und zuklappte, ohne daß er einen Ton hervorbrachte. Was sollte er auch sagen? Wie sollte es für das, was wir eben gesehen hatten, eine vernünftige Erklärung geben?
Jorla war seit Tagen verschwunden gewesen. Keiner hatte ihn in das Atelier gelassen, und niemand hatte ihm das Make-up gemacht. Kein Mensch hatte gesehen, daß er sich in das Grab gelegt hatte. Tatsache war aber: Er war in der Szene erschienen und dann wieder verschwunden. Und das Grab war leer.
Als im Studio noch allgemeines Entsetzen und Ratlosigkeit herrschten, raffte sich Kincaid als erster zusammen und sagte Bleskind, was zu tun wäre.
Der Film wurde sofort entwickelt, obwohl zwei der Techniker dabei ohnmächtig wurden. Dann saßen wir drei in einem der kleinen Vorführräume und sahen uns das rohgefaßte Muster an. Auf unseren Wunsch hatte man auch in Eile den Ton unterlegt.
Die Szene lief noch einmal vor unseren Augen ab. Sylvia ging umher und las die Inschrift, das Grab öffnete sich und – o Gott! – nichts erschien!
Nichts – außer einer großen roten Wunde, die mitten im Raum zu schweben schien. Es war das auf den Kopf gestellte Kruzifix, das in das blutende Fleisch eingeschnitten worden war. Von Jorla selbst war nicht das geringste zu sehen! Es gab nur das bluttriefende Kreuz in der Luft und dann das leise Gemurmel …
Jorla – das Etwas oder was immer es gewesen sein mochte – hatte ein paar Worte gestammelt, als er – oder es – sich aus dem Grab erhoben hatte. Ich hatte gar nicht gewußt, daß beim Drehen der Szene der Ton mitgelaufen war. Wir sahen nichts von Jorla. Wir sahen nur das Kruzifix. Aber wir hörten jetzt Jorlas Stimme, die aus dem Nichts kam. Wir verstanden, was er immer wiederholte, bis er in das Grab zurückfiel.
Es war eine Adresse im Topanga Canyon.
Wir empfanden es alle als eine Wohltat, als das Licht wieder anging.
Kincaid rief sofort bei der Polizei an und schickte sie zu der Adresse, die wir eben gehört hatten.
Dann saßen wir drei in Kincaids Büro und warteten auf den Anruf von der Polizei. Wir tranken, aber wir redeten kein Wort. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach, aber wir dachten wahrscheinlich alle dasselbe. Wir dachten an Karl Jorla, den Teufelsanbeter, der uns sein Schicksal verraten hatte, und an seine Angst vor der Vergeltung. Wir erinnerten uns an den ermordeten Regisseur in Paris, dem man ein Kruzifix auf die Brust gebrannt hatte, und an Jorlas Verschwinden. Und schließlich waren wir mit unseren Gedanken wieder bei dem scheußlichen Geisterwesen in der heutigen Szene angelangt. Dieses Wesen, das sich nicht auf den Film bannen ließ. Nur die flammende Wunde war auf dem Film gekommen, als Jorlas stöhnende Stimme die Adresse preisgab …
Das Telefon schrillte.
Ich hob den Hörer ab. Es war wirklich die Polizei. Als sie Bericht erstattet hatten, fiel ich in Ohnmacht.
Es dauerte einige Minuten, bis ich wieder zu mir kam, und es vergingen weitere Minuten, bevor ich sprechen konnte.
»Die Adresse, die uns Karl Jorla von der Leinwand her gegeben hat, stimmt. Sie haben dort seine Leiche gefunden«, flüsterte ich heiser. »Er hauste oben in den Bergen in einer alten Hütte und war tot, als die Polizei kam. Er ist – ermordet worden. Und in seine Brust ist wirklich ein umgedrehtes Kreuz eingeschnitten worden. Sie glauben, daß das das Werk von einigen Fanatikern ist, denn in der Hütte lagen überall Bücher über Schwarze Magie verstreut. Sie sagen –«
Ich stockte.
Kincaid sah mich durchdringend an.
»Was sagen sie?« fragte er und beugte sich angespannt vor.
Ich schluckte heftig. »Sie sagen, daß Jorla schon seit mindestens drei Tagen tot ist.«