Die süße Puppe

 

Ir­ma sah nicht wie ei­ne He­xe aus.

Sie hat­te ein schma­les, eben­mä­ßi­ges Ge­sicht, ei­ne zar­te Pfir­sich­haut, blaue Au­gen und flachs­blon­de, glän­zen­de Haa­re. Au­ßer­dem war Ir­ma erst acht Jah­re alt.

»Warum muß er sie nur im­mer so quä­len?« schluchz­te Miss Pall. »Weil er sie ei­ne ›klei­ne He­xe‹ nennt, hat sich die­ser Ge­dan­ke bei ihr fest­ge­setzt und ist all­mäh­lich zur fi­xen Idee ge­wor­den.«

Sam Stee­ver ließ sich schwer in sei­nen quiet­schen­den Dreh­stuhl zu­rück­fal­len und fal­te­te sei­ne wuls­ti­gen Hän­de über dem di­cken Bauch. Ob­wohl der Rechts­an­walt kei­ne Mie­ne ver­zog, fühl­te er sich im höchs­ten Ma­ße un­be­hag­lich.

Frau­en wie Miss Pall soll­ten nie­mals wei­nen, dach­te er. Ih­re Bril­len be­schla­gen sich dann, ih­re spit­zen Na­sen zu­cken, ih­re fal­ti­gen Au­gen­li­der rö­ten sich, ih­re stro­hi­gen Haa­re ge­ra­ten in Un­ord­nung.

»Bit­te, be­ru­hi­gen Sie sich doch«, sag­te Sam Stee­ver sanft. »Viel­leicht könn­ten wir uns über die gan­ze An­ge­le­gen­heit ein­mal ver­nünf­tig un­ter­hal­ten …«

»Da gibt es nichts zu un­ter­hal­ten.« Miss Pall schnüf­fel­te ver­däch­tig. »Ich wer­de nie wie­der zu­rück­ge­hen! Ich kann das nicht er­tra­gen. Und es gibt nichts, was ich da­ge­gen un­ter­neh­men könn­te. Der Mann ist Ihr Bru­der, und sie ist das Kind Ih­res Bru­ders. Ich bin nicht ver­ant­wort­lich. Ich ha­be wirk­lich al­les ver­sucht …«

»Si­cher ha­ben Sie al­les ver­sucht.« Sam Stee­ver lä­chel­te so mil­de, als wä­re Miss Pall die Vor­sit­zen­de der Ge­schwo­re­nen. »Ich glau­be Ih­nen das gern. Aber ich kann trotz­dem nicht ver­ste­hen, warum Sie sich so auf­re­gen, mei­ne Da­me.«

Miss Pall nahm die Bril­le ab und be­tupf­te ih­re Au­gen mit ei­nem Spit­zen­ta­schen­tuch. Dann warf sie den durch­näß­ten Klum­pen von Ta­schen­tuch in ih­re Hand­ta­sche, ließ das Schloß zu­schnap­pen, rück­te ih­re Bril­le wie­der ener­gisch zu­recht und saß steif auf­ge­rich­tet da.

»Al­so gut, Mr. Stee­ver«, sag­te sie. »Ich wer­de mein Bes­tes tun, um Ih­nen ge­nau zu er­klä­ren, warum ich den Pos­ten bei Ih­rem Bru­der auf­ge­be.«

Sie konn­te ein ver­spä­te­tes Schnüf­feln nicht zu­rück­hal­ten. Dann fuhr sie fort:

»Wie Sie wis­sen, bin ich auf Grund ei­nes Stel­len­an­ge­bo­tes als Haus­häl­te­rin vor zwei Jah­ren zu John Stee­ver ge­kom­men. Ich war zu­erst et­was ver­stört, als ich fest­stell­te, daß ich haupt­säch­lich als Gou­ver­nan­te für ein sechs­jäh­ri­ges mut­ter­lo­ses Kind tä­tig sein soll­te. Ich wuß­te nichts über den Um­gang mit Kin­dern.«

Sam Stee­ver nick­te. »John hat­te in den ers­ten sechs Jah­ren ei­ne Kin­der­schwes­ter … Sie wis­sen ja, daß die Mut­ter bei Ir­mas Ge­burt ge­stor­ben ist.«

»Na­tür­lich weiß ich das«, sag­te Miss Pall steif. Dann fuhr sie sanf­ter fort: »Und na­tür­lich schließt man ein ein­sa­mes, ver­nach­läs­sig­tes klei­nes Mäd­chen so­fort in sein Herz. Und sie war schreck­lich ein­sam, Mr. Stee­ver. Sie hät­ten sie se­hen sol­len, wie sie sich in den Ecken und Win­keln des großen, häß­li­chen al­ten Hau­ses her­um­drück­te, im­mer al­lein war und sich zu To­de lang­weil­te.«

»Ich ha­be sie ge­se­hen«, warf Sam Stee­ver has­tig ein, in der Hoff­nung, da­mit ei­nem neu­en Aus­bruch zu­vor­zu­kom­men. »Und ich weiß ge­nau, was Sie al­les für Ir­ma ge­tan ha­ben. Mein Bru­der neigt da­zu, ge­dan­ken­los zu sein, und ich weiß, daß er oft auch reich­lich egois­tisch ist. Er merkt es sel­ber gar nicht.«

»Er ist grau­sam«, stieß Miss Pall mit plötz­li­cher Hef­tig­keit her­vor. »Grau­sam und schlecht. Auch wenn er Ihr Bru­der ist, muß ich sa­gen, daß er der schlech­tes­te Va­ter ist, den man sich vor­stel­len kann. Als ich dort hin­kam, wa­ren die klei­nen Ar­me blau und grün ge­schla­gen. Er be­nutz­te im­mer einen Le­der­gür­tel, wenn er auf sie los­ging …«

»Ich weiß, ich weiß. Manch­mal glaub­te ich, daß John nie über den Schock hin­weg­kom­men wür­de, den er beim To­de sei­ner Frau er­lit­ten hat. Des­halb war ich auch so froh, als Sie ka­men, mei­ne lie­be Miss Pall. Ich hoff­te, daß sich durch Ih­ren güns­ti­gen Ein­fluß al­les än­dern wür­de.«

»Ich ha­be al­les ver­sucht«, wim­mer­te Miss Pall. »Sie wis­sen, daß ich al­les ver­sucht ha­be. Ich ha­be in die­sen zwei Jah­ren nie­mals mei­ne Hand ge­gen das Kind er­ho­ben, ob­wohl mir Ihr Bru­der so oft be­foh­len hat, Ir­ma zu be­stra­fen. ›Ver­dre­schen Sie die klei­ne He­xe‹, sag­te er im­mer, ›sie braucht wei­ter nichts als ei­ne an­stän­di­ge Tracht Prü­gel.‹ Aber Ir­ma ver­steck­te sich bei sei­nen Wor­ten hin­ter mei­nem Rücken und bat mich flüs­ternd um Schutz. Aber sie wein­te nicht, Mr. Stee­ver. Ich ha­be sie in den bei­den Jah­ren nicht ein ein­zi­ges Mal wei­nen se­hen.«

Sam Stee­ver fing an, sich ein we­nig zu lang­wei­len, und merk­te, daß er ge­reizt wur­de. Er wünsch­te, daß die­se al­te Hen­ne end­lich mit ih­rer Ge­schich­te fer­tig wür­de. Dar­um lä­chel­te er ho­nig­süß und frag­te: »Al­les schön und gut, lie­be Miss Pall, aber was macht Ih­nen denn ei­gent­lich Kum­mer?«

Miss Pall fuhr un­be­irrt fort:

»Als ich dort ein­zog, war al­les in bes­ter Ord­nung. Wir ka­men präch­tig mit­ein­an­der aus. Ich woll­te Ir­ma das Le­sen bei­brin­gen, aber ich stell­te zu mei­ner Ver­blüf­fung fest, daß sie es schon be­herrsch­te. Ihr Bru­der be­haup­te­te, er hät­te es ihr nicht bei­ge­bracht; aber es steht fest, daß sie stun­den­lang zu­sam­men­ge­rollt auf dem So­fa lag und ein Buch vor der Na­se hat­te. ›Sie ist ge­nau wie sie‹, pfleg­te er mür­risch zu sa­gen. ›Ty­pisch, daß die­se un­na­tür­li­che klei­ne He­xe nicht mit den an­de­ren Kin­dern spielt. Sie ist und bleibt eben ei­ne He­xe.‹ In dem Stil re­de­te er im­mer, Mr. Stee­ver. Als wä­re Ir­ma so et­was wie ein – ein Un­ge­heu­er. Da­bei ist sie so süß und lieb und ru­hig und hübsch!

Ist es viel­leicht ein Wun­der, daß sie aufs Le­sen ver­fal­len war? Ich war als klei­nes Mäd­chen eben­so, weil – aber das tut nichts zur Sa­che.

Trotz­dem glaub­te ich mei­nen Au­gen nicht zu trau­en, als ich ei­nes Ta­ges da­zu kam, wie sie in die ›En­cy­clo­pe­dia Bri­tan­ni­ca‹ ver­tieft war. ›Was liest du denn da, Ir­ma?‹ frag­te ich sie. Sie zeig­te es mir. Es war ei­ne Ab­hand­lung über He­xen­kraft.

Se­hen sie jetzt, wel­che krank­haf­ten Vor­stel­lun­gen Ihr Bru­der in ih­rem klei­nen Kopf er­weckt hat? Ich tat al­les, was in mei­nen Kräf­ten stand. Ich kauf­te ihr Spiel­zeug – sie hat­te nichts, ab­so­lut nichts, nicht ein­mal ei­ne Pup­pe. Sie wuß­te gar nicht, was spie­len ist. Ich ver­such­te sie mit den Kin­dern aus der Nach­bar­schaft zu­sam­men­zu­brin­gen; aber das hat­te über­haupt kei­nen Zweck. Die Kin­der ver­stan­den Ir­ma nicht, und sie wuß­te nichts mit den an­de­ren Kin­dern an­zu­fan­gen. Es gab im­mer­zu Streit. Kin­der kön­nen so grau­sam und so ge­dan­ken­los sein. Ihr Va­ter wei­ger­te sich, sie in ei­ne öf­fent­li­che Schu­le zu schi­cken. Ich soll­te sie un­ter­rich­ten –

Ich kauf­te ihr dann ei­ne Knet­mas­se zum Mo­del­lie­ren. Das ge­fiel ihr. Sie konn­te Stun­den da­mit zu­brin­gen, nichts wei­ter als Ge­sich­ter zu for­men. Für ih­re sechs Jah­re ent­wi­ckel­te sie da­bei ein be­acht­li­ches Ta­lent.

Wir mach­ten zu­sam­men klei­ne Pup­pen, und ich näh­te dann Klei­der für sie.

Glau­ben Sie mir, Mr. Stee­ver, das ers­te Jahr war aus­ge­spro­chen glück­lich. Ganz be­son­ders schön wa­ren na­tür­lich die Mo­na­te, als Ihr Bru­der in Süd­ame­ri­ka war. Aber als er dann in die­sem Jahr zu­rück­kam – du mein lie­ber Gott, ich brin­ge es kaum übers Herz, dar­über zu spre­chen!«

»Bit­te«, sag­te Sam Stee­ver, »Sie müs­sen das ver­ste­hen. John ist al­les an­de­re als ein glück­li­cher Mensch. Der Ver­lust sei­ner Frau, der Rück­gang sei­nes Im­port­ge­schäf­tes und dann sein Trin­ken – aber was sa­ge ich Ih­nen da? Sie wis­sen das ja al­les sel­ber.«

»Ich weiß nur, daß er Ir­ma haßt«, sag­te Miss Pall hef­tig. »Er haßt sie so sehr, daß er wünscht, sie wä­re schlecht, da­mit er im­mer einen Grund hät­te, sie zu ver­prü­geln. ›Wenn Sie die klei­ne He­xe nicht züch­ti­gen, wer­de ich es tun‹, sagt er im­mer. Und dann nimmt er sie nach oben und schlägt mit sei­nem Le­der­gür­tel auf sie ein. Sie müs­sen et­was un­ter­neh­men, Mr. Stee­ver. Wenn Sie es nicht tun, wer­de ich ganz be­stimmt zu den maß­ge­ben­den Be­hör­den ge­hen!« Die­se ver­rück­te, al­te Mecker­zie­ge ist im­stan­de und tut das wirk­lich, dach­te Sam, al­so muß man ihr noch mehr Ho­nig ums Maul schmie­ren. »Aber was wird dann mit Ir­ma?« frag­te er, um an ihr rühr­se­li­ges Herz zu ap­pel­lie­ren.

Miss Pall seufz­te. »Ich weiß nicht. Seit ihr Va­ter zu­rück ist, hat sie sich sehr ver­än­dert. Sie will nicht mehr mit mir spie­len, ja sie schaut mich kaum noch an. Sie kann mich wahr­schein­lich nicht mehr lei­den, weil es mir nicht ge­lingt, sie vor ih­rem Va­ter zu be­schüt­zen. Und au­ßer­dem – ist sie fel­sen­fest da­von über­zeugt, daß sie ei­ne He­xe ist.«

Die­ses al­te Weib ist ver­rückt, völ­lig ver­rückt. Sam Stee­ver setz­te sich auf­recht in sei­nen knar­ren­den Stuhl.

»Sie brau­chen mich gar nicht so an­zu­star­ren, als ob ich den Ver­stand ver­lo­ren hät­te, Mr. Stee­ver. Ir­ma wird es Ih­nen selbst sa­gen – wenn Sie sich je ent­schlie­ßen kön­nen, hin­zu­fah­ren.«

Der Vor­wurf in ih­rer Stim­me war nicht zu über­hö­ren. Er ver­such­te ihn durch ein freund­li­ches Ni­cken zu mil­dern.

»Ir­ma ver­kün­de­te ei­nes Ta­ges, wenn ihr Va­ter so gern möch­te, daß sie ei­ne He­xe wä­re, dann wür­de sie eben ab so­fort ei­ne He­xe sein. Und sie wür­de we­der mit mir noch ir­gend­ei­nem an­de­ren spie­len, weil He­xen nicht spie­len.

Bei der letz­ten Kir­mes hat sie mich ge­be­ten, ihr einen Be­senstiel zu ge­ben. Man könn­te dar­über la­chen – wenn es nicht eher zum Wei­nen wä­re. Es ist ein Jam­mer, wenn man ta­ten­los zu­se­hen muß, wie die­ses Kind lang­sam sei­nen ge­sun­den Men­schen­ver­stand ver­liert.

Vor ein paar Wo­chen dach­te ich, es könn­te viel­leicht doch noch al­les gut wer­den. An ei­nem Sonn­tag bat mich Ir­ma, mit ihr in die Kir­che zu ge­hen. ›Ich möch­te bei ei­ner Tau­fe zu­se­hen‹, sag­te sie. Man stel­le sich vor: Ein acht­jäh­ri­ges Mäd­chen ist an dem Tauf­vor­gang in­ter­es­siert! Sie liest ein­fach zu­viel. Das ist es!

Al­so schön, wir gin­gen zur Kir­che. Sie war so süß und lieb, wie sie nur sein kann. Sie hat­te ihr neu­es blau­es Kleid an und um­klam­mer­te mei­ne Hand. Ich war stolz auf sie, Mr. Stee­ver, rich­tig stolz;.

Aber gleich nach dem Kirch­gang zog sie sich wie­der in ihr Schne­cken­haus zu­rück. Ent­we­der las sie un­un­ter­bro­chen oder sie husch­te in der Däm­me­rung durch den Gar­ten und sprach mit sich selbst.

Viel­leicht tat sie das, weil Ihr Bru­der ihr das Kätz­chen nicht schen­ken woll­te, das sie sich so sehr wünsch­te. Als sie ihn bat, ihr ei­ne schwar­ze Kat­ze mit­zu­brin­gen, frag­te er, warum, und sie ant­wor­te­te: ›Weil je­de He­xe ei­ne schwar­ze Kat­ze hat.‹ Dar­auf­hin nahm er Ir­ma wie­der mit nach oben.

Wie soll­te ich ihn da­von ab­hal­ten, Ir­ma zu schla­gen?

Das nächs­te­mal ver­prü­gel­te er sie, als das elek­tri­sche Licht ver­sag­te und wir die Ker­zen nicht fin­den konn­ten. Er be­schul­dig­te sie, daß sie die Ker­zen ge­stoh­len hät­te. Man be­den­ke: Ein acht­jäh­ri­ges Kind des Ker­zen­dieb­stahls zu be­zich­ti­gen!

Das war der An­fang vom En­de. Denn als er heu­te sei­ne Haar­bürs­te nicht fin­den konn­te …«

»Wol­len Sie da­mit sa­gen, daß er das Kind auch mit der Haar­bürs­te schlug?«

»Ja. Und sie gab zu, die Haar­bürs­te ent­wen­det zu ha­ben. Sie sag­te, sie hät­te sie für ih­re Pup­pe ge­braucht.«

»Aber sag­ten Sie nicht vor­hin, Ir­ma hät­te gar kei­ne Pup­pen?«

»Sie hat sich selbst ei­ne ge­macht. Zu­min­dest glau­be ich, daß sie das ge­tan hat – ob­wohl ich die Pup­pe nie zu Ge­sicht be­kom­men ha­be. Denn sie zeig­te uns nichts mehr, und sie re­de­te auch bei Tisch nicht mehr mit uns. Sie hat­te sich so zu­rück­ge­zo­gen, daß es ein­fach un­mög­lich ge­wor­den war, mit ihr um­zu­ge­hen.

Aber ich weiß trotz­dem, daß sie ei­ne klei­ne Pup­pe hat – sie muß sie ein­fach sel­ber ge­macht ha­ben, wo­her soll­te sie sie sonst ha­ben? –, weil sie sie manch­mal un­ter dem Arm ver­steckt her­um­trägt. Sie re­det mit der Pup­pe, und sie strei­chelt sie, aber sie will sie we­der mir noch ihm zei­gen. Und als er Ir­ma heu­te nach der Haar­bürs­te frag­te, da sag­te sie eben, daß sie sie für ih­re Pup­pe ge­braucht hät­te.

Ihr Bru­der be­kam einen fürch­ter­li­chen Wut­an­fall – er hat­te den gan­zen Vor­mit­tag in sei­nem Zim­mer ge­trun­ken, oh, den­ken Sie ja nicht, daß ich das nicht weiß –, aber Ir­ma lä­chel­te ihn nur an und sag­te, daß sie die Bürs­te nicht mehr brau­che und daß er sie jetzt wie­der­ha­ben kön­ne. Sie ver­schwand in ih­rem Zim­mer, kam mit der Haar­bürs­te zu­rück und reich­te sie Ih­rem Bru­der. Ich konn­te mit ei­nem Blick fest­stel­len, daß Ir­ma die Bürs­te nicht im min­des­ten be­schä­digt hat­te.

Aber kaum, daß Ihr Bru­der die Haar­bürs­te in der Hand hat­te, schlug er da­mit hef­tig auf die Schul­tern der Klei­nen ein. Dann ver­dreh­te er ih­ren Arm und dann –«

Miss Pall sack­te auf ih­rem Stuhl zu­sam­men und be­gann wie­der wild zu schluch­zen.

Als Sam Stee­ver ihr be­ru­hi­gend auf die Schul­ter klopf­te, wirk­te er wie ein Ele­fant, der einen ver­wun­de­ten Ka­na­ri­en­vo­gel trös­ten will.

»Das ist al­les, Mr. Stee­ver«, brach­te Miss Pall müh­sam her­vor. »Ich bin gleich zu Ih­nen ge­kom­men. Ich wer­de nicht ein­mal in das Haus ge­hen, um mei­ne Sa­chen zu ho­len. Ich kann das ein­fach nicht mehr er­tra­gen. Ich mei­ne, die Art wie er sie schlägt und wie sie es hin­nimmt. Sie weint nicht, son­dern ki­chert und ki­chert und ki­chert. Ich glau­be lang­sam wirk­lich, daß sie ei­ne He­xe ist, daß er sie zu ei­ner He­xe ge­macht hat …«

 

Sam Stee­ver lang­te nach dem Te­le­fon­hö­rer. Das Läu­ten hat­te die wohl­tu­en­de Stil­le, die nach Miss Palls ei­li­gem Auf­bruch ein­ge­tre­ten war, un­ter­bro­chen.

»Hal­lo – bist du es, Sam?«

Er er­kann­te die Stim­me sei­nes Bru­ders, der völ­lig be­trun­ken sein muß­te.

»Ja, John.«

»Ich schät­ze, daß das al­te Klatschmaul auf der Stel­le zu dir ge­rannt ist, um sich den Mund fus­se­lig zu re­den.«

»Wenn du Miss Pall meinst – ja, sie war eben hier.«

»Gib nichts auf ihr Ge­schwätz, Sam. Ich kann dir al­les er­klä­ren.«

»Willst du, daß ich zu dir kom­me? Ich war schon mo­na­te­lang nicht bei dir.«

»Tja – nur nicht heu­te. Ich ha­be mich für den spä­ten Nach­mit­tag beim Arzt an­ge­mel­det.«

»Ist ir­gend et­was nicht in Ord­nung mit dir?«

»Ich ha­be Schmer­zen im Arm. Wahr­schein­lich Rheu­ma­tis­mus oder so et­was. Aber ich wer­de dich mor­gen an­ru­fen, da­mit wir den Un­sinn aus der Welt schaf­fen.«

»Schön.«

Aber John Stee­ver rief am nächs­ten Tag nicht an. Sam war­te­te bis zum spä­ten Abend, dann wähl­te er Johns Num­mer.

Zu sei­ner Über­ra­schung mel­de­te sich Ir­ma am an­de­ren En­de. Ih­re dün­ne, piep­sen­de klei­ne Stim­me klang lei­se in sei­nen Oh­ren.

»Va­ti ist oben und schläft. Er ist krank.«

»Dann wol­len wir ihn auch nicht stö­ren. Was ist es denn – sein Arm?«

»Nein, jetzt ist es sein Rücken. Er muß nach­her noch ein­mal zum Arzt.«

»Dann sa­ge ihm, wenn er auf­wacht, daß ich mor­gen wie­der an­ru­fe. Ist sonst al­les in Ord­nung, Ir­ma? Ich mei­ne, ver­mißt du nicht Miss Pall?«

»O nein. Ich bin froh, daß sie fort ist. Sie ist schreck­lich dumm.«

»Aha – nun ja – ich ver­ste­he. – Aber du rufst mich an, wenn ir­gend et­was los ist, ja? Und ich hof­fe, daß es dei­nem Va­ter bald bes­ser geht.«

»Ja, das hof­fe ich auch«, sag­te Ir­ma und fing zu ki­chern an. Dann leg­te sie den Hö­rer auf.

John Stee­ver ki­cher­te nicht, als er am nächs­ten Nach­mit­tag sei­nen Bru­der Sam in der An­walt­spra­xis an­rief. Das Spre­chen streng­te ihn an. Aber er war nicht be­trun­ken, son­dern schi­en un­er­träg­li­che Schmer­zen zu ha­ben.

»Sam – um Got­tes wil­len – komm her! Ir­gend et­was ge­schieht mit mir!«

»Was ist denn los?«

»Die­se Schmer­zen – sie brin­gen mich noch um! Ich muß dich se­hen – so schnell wie mög­lich.«

»Im Vor­zim­mer war­tet noch ein Be­su­cher – aber den kann ich los­wer­den. Aber – Mo­ment mal, John – warum rufst du nicht den Arzt?«

»Der Quack­sal­ber kann mir nicht hel­fen. Er hat mei­nen Arm be­strahlt und ges­tern mei­nen Rücken.«

»Und hat es nicht ge­hol­fen?«

»Die Schmer­zen lie­ßen nach. Aber sie sind jetzt viel stär­ker wie­der­ge­kom­men. Ich ha­be das Ge­fühl, als ob ich in der Mit­te durch­bre­che und als ob mei­ne Brust zer­quetscht wird. Ich krie­ge kaum noch Luft.«

»Das klingt nach ei­ner Brust­fell­ent­zün­dung. Warum rufst du nicht den Arzt an?«

»Es ist kei­ne Brust­fell­ent­zün­dung. Er hat mich ge­nau un­ter­sucht und ge­sagt ich wä­re ge­sund wie ein Fisch im Was­ser. O nein, mir fehlt nichts Or­ga­ni­sches … und die wirk­li­che Ur­sa­che – konn­te ich dem Arzt nicht sa­gen.«

»Die wirk­li­che Ur­sa­che?«

»Ja. Die Na­deln. Die Na­deln, die das klei­ne Un­ge­heu­er in die Pup­pe, die sie selbst ge­macht hat, spießt. Erst in den Arm. Dann in den Rücken. Der Him­mel mag wis­sen, wie sie das jetzt ge­schafft hat.«

»John, hör zu, du darfst nicht –«

»Was hat das für einen Sinn, zu re­den? Ich kann mich nicht aus dem Bett rüh­ren. Jetzt hat sie mich. Und ich kann nichts da­ge­gen tun. Ich bin au­ßer­stan­de, hin­un­ter­zu­ge­hen, um ihr die­se ver­damm­te Pup­pe weg­zu­neh­men. Und wem soll­te ich es sa­gen? Es wür­de mir doch kei­ner glau­ben. Aber ich weiß, daß es die­se ver­fluch­te Pup­pe ist, die sie aus Ker­zen­wachs und den Bors­ten von mei­ner Haar­bürs­te ge­macht hat. Oh, das Re­den tut so weh – die­se ver­damm­te klei­ne Hexe! Be­eil dich, Sam. Ver­sprich mir, daß du al­les – al­les – al­les tun wirst, um ihr die Pup­pe ab­zu­neh­men – ihr die Pup­pe ab­zu­neh­men – ihr die Pup­pe ab­zu­neh­men …«

 

Ei­ne hal­be Stun­de spä­ter be­trat Sam Stee­ver das Haus sei­nes Bru­ders.

Ir­ma öff­ne­te ihm die Tür.

Sie stand lä­chelnd und ru­hig da. Die blon­den Haa­re wa­ren aus der un­schul­di­gen Stirn zu­rück­ge­bürs­tet. Ih­re blau­en Au­gen in dem ro­si­gen Ge­sicht leuch­te­ten. Sie sah wie ei­ne klei­ne sü­ße Pup­pe aus. Ei­ne klei­ne Pup­pe …

»Hal­lo, On­kel Sam.«

»Gu­ten Tag, Ir­ma. Dein Va­ter hat mich an­ge­ru­fen. Hat er es dir er­zählt? Er hat ge­sagt, daß es ihm nicht so gut geht …«

»Ich weiß. Aber er fühlt sich jetzt schon viel bes­ser. Er schläft.«

Ir­gend et­was ging in Sam Stee­ver vor. Er hat­te das Ge­fühl, daß ihm ein Eis­trop­fen den Rücken hin­un­ter­lief.

»Er schläft?« krächz­te er. »Oben?« Ehe Ir­ma den Mund zu ei­ner Ant­wort auf­ma­chen konn­te, war Sam schon auf der Trep­pe zum ers­ten Stock. Er rann­te den Gang ent­lang, der zu Johns Schlaf­zim­mer führ­te.

John lag im Bett. Er schlief. Er schlief wirk­lich – und nichts wei­ter. Sam sah, wie sich die Brust sei­nes Bru­ders in re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­gen hob und senk­te. Sein Ge­sicht war ru­hig und ent­spannt. Der Eis­trop­fen auf Sams Rücken ver­dampf­te. Er at­me­te er­leich­tert auf und brumm­te »Un­sinn« vor sich hin.

Als er wie­der lang­sam die Trep­pe hin­un­ter­ging, über­leg­te er, was zu tun wä­re. Ein sechs­mo­na­ti­ger Ur­laub wä­re für sei­nen Bru­der das Rich­ti­ge, wo­bei man ja das Wort ›Kur‹ ver­mei­den konn­te. Ir­ma müß­te man in ein In­ter­nat ste­cken, da­mit sie mit an­de­ren Kin­dern zu­sam­men­kam. Sie muß­te aus die­sem al­ten Haus her­aus­kom­men, weg von all die­sen Bü­chern …

Auf hal­ber Trep­pe blieb Sam ste­hen. Als er über das Trep­pen­ge­län­der lug­te, sah er in der Däm­me­rung Ir­ma, die auf dem So­fa wie ein klei­ner wei­ßer Ball zu­sam­men­ge­rollt lag. Sie wieg­te et­was in ih­ren Ar­men hin und her und re­de­te auf die­ses Et­was ein.

Es schi­en al­so auf al­le Fäl­le ei­ne Pup­pe zu ge­ben.

Sam stieg auf Ze­hen­spit­zen die letz­ten Stu­fen hin­un­ter und ging lei­se auf Ir­ma zu.

»Na, du –«, sag­te er.

Sie zuck­te er­schro­cken zu­sam­men und be­deck­te mit ih­ren Ar­men den Ge­gen­stand völ­lig, den sie eben lieb­kost hat­te, und preß­te ihn da­bei hef­tig an sich.

Sam Stee­ver muß­te un­will­kür­lich an ei­ne Pup­pe den­ken, die auf ei­ner Brust zer­drückt wird.

Ir­ma blick­te ihn an. Ihr Ge­sicht war ei­ne un­schul­di­ge Mas­ke. Zu­min­dest in dem herr­schen­den Däm­mer­licht glich ihr klei­nes Ge­sicht ei­ner Mas­ke. Die Mas­ke ei­nes klei­nen Mäd­chens, die et­was ver­deck­te. Aber was … ?

»Hast du ge­se­hen, daß es Va­ti wie­der bes­ser geht?« lis­pel­te Ir­ma. »Oh, ich glau­be, es geht ihm viel bes­ser.«

»Das wuß­te ich.«

»Aber ich fürch­te, mein Kind, daß er weg­fah­ren muß, um sich zu er­ho­len. Er wird lan­ge Zeit brau­chen, bis er sich völ­lig er­holt hat.« Ein Lä­cheln drang durch die Mas­ke.

»Gut«, sag­te die klei­ne Stim­me.

»Du kannst hier na­tür­lich nicht so­lan­ge al­lein blei­ben«, fuhr Sam eif­rig fort. »Wir wer­den uns das noch in Ru­he über­le­gen. Viel­leicht wer­den wir dich in ein In­ter­nat schi­cken oder in ir­gend­ein an­de­res Heim –«

Ir­ma ki­cher­te. »Oh, du brauchst dir mei­net­we­gen nicht den Kopf zu zer­bre­chen«, sag­te sie und rück­te zur Sei­te, als sich Sam zu ihr auf das So­fa setz­te. Als er sich zu ihr beug­te, sprang sie rasch auf. Durch Ir­mas plötz­li­che Be­we­gung tauch­ten un­ter ih­ren El­len­bo­gen zwei klei­ne Bei­ne auf, die mit Ho­sen be­klei­det wa­ren und an den Fü­ßen klei­ne Le­der­stücke als Schu­he hat­ten.

»Was hast du da, Ir­ma?« frag­te er. »Ist das ei­ne Pup­pe?«

Er streck­te sehr lang­sam sei­ne plum­pen Hän­de aus.

Sie wich zu­rück.

»Du darfst sie nicht se­hen«, mein­te Ir­ma be­stimmt.

»Aber ich möch­te sie ger­ne se­hen. Miss Pall hat mir er­zählt, was du für hüb­sche Pup­pen machst.«

»Miss Pall ist dumm. Und du auch. Geh weg!«

»Aber Ir­ma«, be­gann Sam be­schwich­ti­gend, »was re­dest du denn für dum­mes Zeug. Komm, sei lieb, und zeig mir die Pup­pe.«

Wäh­rend er sprach, schau­te er auf den Kopf der Pup­pe, der durch Ir­mas Zu­rück­wei­chen zum Vor­schein ge­kom­men war. Sam sah die dunklen Haar­bü­schel über dem wei­ßen Ge­sicht. Das Däm­mer­licht ver­wisch­te die Ge­sichts­zü­ge, aber er konn­te un­deut­lich Au­gen und Na­se er­ken­nen und das Kinn …

Er war aber nicht be­reit, ih­ren bo­cki­gen Wi­der­stand län­ger ge­dul­dig hin­zu­neh­men.

»Gib mir jetzt so­fort die Pup­pe, Ir­ma«, sag­te er barsch. »Ich weiß, was es ist – ich weiß, wer sie ist …«

Für einen Au­gen­blick glitt die Mas­ke von Ir­mas Ge­sicht. Sam Stee­ver sah die nack­te Angst in ih­ren Au­gen.

Sie wuß­te, daß er wuß­te …

Aber ge­nau­so schnell, wie sie ver­schwun­den war, kehr­te die Mas­ke auf ihr Ge­sicht zu­rück.

Sie war nichts wei­ter als ein sü­ßes, ei­gen­sin­ni­ges klei­nes Mäd­chen, das den Kopf schüt­tel­te und ih­ren al­ten On­kel schalk­haft mit den großen Kin­derau­gen an­blitz­te.

»Aber On­kel Sam«, ki­cher­te sie, »wie kannst du nur so dumm sein? Das ist wirk­lich kei­ne rich­ti­ge Pup­pe.«

»Was ist es dann?« frag­te Sam grun­zend.

Sie ki­cher­te wie­der und hob die Fi­gur in die Hö­he, als sie sag­te: »Das ist nur ei­ne Zucker­pup­pe.«

»Ei­ne Zucker­pup­pe?«

Ir­ma nick­te ki­chernd. Dann steck­te sie mit ei­ner ra­schen Be­we­gung den klei­nen Pup­pen­kopf in den Mund.

Und biß ihn ab.

Von oben kam ein ein­zi­ger gel­len­der un­mensch­li­cher Schrei, der Sam das Blut in den Adern er­star­ren ließ.

Wäh­rend er keu­chend die Stu­fen hin­auf­ras­te, schlüpf­te die klei­ne Ir­ma, die im­mer noch still­ver­gnügt kau­te, durch die Vor­der­tür und tauch­te im Dun­kel der Nacht un­ter.