Die süße Puppe
Irma sah nicht wie eine Hexe aus.
Sie hatte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, eine zarte Pfirsichhaut, blaue Augen und flachsblonde, glänzende Haare. Außerdem war Irma erst acht Jahre alt.
»Warum muß er sie nur immer so quälen?« schluchzte Miss Pall. »Weil er sie eine ›kleine Hexe‹ nennt, hat sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt und ist allmählich zur fixen Idee geworden.«
Sam Steever ließ sich schwer in seinen quietschenden Drehstuhl zurückfallen und faltete seine wulstigen Hände über dem dicken Bauch. Obwohl der Rechtsanwalt keine Miene verzog, fühlte er sich im höchsten Maße unbehaglich.
Frauen wie Miss Pall sollten niemals weinen, dachte er. Ihre Brillen beschlagen sich dann, ihre spitzen Nasen zucken, ihre faltigen Augenlider röten sich, ihre strohigen Haare geraten in Unordnung.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch«, sagte Sam Steever sanft. »Vielleicht könnten wir uns über die ganze Angelegenheit einmal vernünftig unterhalten …«
»Da gibt es nichts zu unterhalten.« Miss Pall schnüffelte verdächtig. »Ich werde nie wieder zurückgehen! Ich kann das nicht ertragen. Und es gibt nichts, was ich dagegen unternehmen könnte. Der Mann ist Ihr Bruder, und sie ist das Kind Ihres Bruders. Ich bin nicht verantwortlich. Ich habe wirklich alles versucht …«
»Sicher haben Sie alles versucht.« Sam Steever lächelte so milde, als wäre Miss Pall die Vorsitzende der Geschworenen. »Ich glaube Ihnen das gern. Aber ich kann trotzdem nicht verstehen, warum Sie sich so aufregen, meine Dame.«
Miss Pall nahm die Brille ab und betupfte ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch. Dann warf sie den durchnäßten Klumpen von Taschentuch in ihre Handtasche, ließ das Schloß zuschnappen, rückte ihre Brille wieder energisch zurecht und saß steif aufgerichtet da.
»Also gut, Mr. Steever«, sagte sie. »Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen genau zu erklären, warum ich den Posten bei Ihrem Bruder aufgebe.«
Sie konnte ein verspätetes Schnüffeln nicht zurückhalten. Dann fuhr sie fort:
»Wie Sie wissen, bin ich auf Grund eines Stellenangebotes als Haushälterin vor zwei Jahren zu John Steever gekommen. Ich war zuerst etwas verstört, als ich feststellte, daß ich hauptsächlich als Gouvernante für ein sechsjähriges mutterloses Kind tätig sein sollte. Ich wußte nichts über den Umgang mit Kindern.«
Sam Steever nickte. »John hatte in den ersten sechs Jahren eine Kinderschwester … Sie wissen ja, daß die Mutter bei Irmas Geburt gestorben ist.«
»Natürlich weiß ich das«, sagte Miss Pall steif. Dann fuhr sie sanfter fort: »Und natürlich schließt man ein einsames, vernachlässigtes kleines Mädchen sofort in sein Herz. Und sie war schrecklich einsam, Mr. Steever. Sie hätten sie sehen sollen, wie sie sich in den Ecken und Winkeln des großen, häßlichen alten Hauses herumdrückte, immer allein war und sich zu Tode langweilte.«
»Ich habe sie gesehen«, warf Sam Steever hastig ein, in der Hoffnung, damit einem neuen Ausbruch zuvorzukommen. »Und ich weiß genau, was Sie alles für Irma getan haben. Mein Bruder neigt dazu, gedankenlos zu sein, und ich weiß, daß er oft auch reichlich egoistisch ist. Er merkt es selber gar nicht.«
»Er ist grausam«, stieß Miss Pall mit plötzlicher Heftigkeit hervor. »Grausam und schlecht. Auch wenn er Ihr Bruder ist, muß ich sagen, daß er der schlechteste Vater ist, den man sich vorstellen kann. Als ich dort hinkam, waren die kleinen Arme blau und grün geschlagen. Er benutzte immer einen Ledergürtel, wenn er auf sie losging …«
»Ich weiß, ich weiß. Manchmal glaubte ich, daß John nie über den Schock hinwegkommen würde, den er beim Tode seiner Frau erlitten hat. Deshalb war ich auch so froh, als Sie kamen, meine liebe Miss Pall. Ich hoffte, daß sich durch Ihren günstigen Einfluß alles ändern würde.«
»Ich habe alles versucht«, wimmerte Miss Pall. »Sie wissen, daß ich alles versucht habe. Ich habe in diesen zwei Jahren niemals meine Hand gegen das Kind erhoben, obwohl mir Ihr Bruder so oft befohlen hat, Irma zu bestrafen. ›Verdreschen Sie die kleine Hexe‹, sagte er immer, ›sie braucht weiter nichts als eine anständige Tracht Prügel.‹ Aber Irma versteckte sich bei seinen Worten hinter meinem Rücken und bat mich flüsternd um Schutz. Aber sie weinte nicht, Mr. Steever. Ich habe sie in den beiden Jahren nicht ein einziges Mal weinen sehen.«
Sam Steever fing an, sich ein wenig zu langweilen, und merkte, daß er gereizt wurde. Er wünschte, daß diese alte Henne endlich mit ihrer Geschichte fertig würde. Darum lächelte er honigsüß und fragte: »Alles schön und gut, liebe Miss Pall, aber was macht Ihnen denn eigentlich Kummer?«
Miss Pall fuhr unbeirrt fort:
»Als ich dort einzog, war alles in bester Ordnung. Wir kamen prächtig miteinander aus. Ich wollte Irma das Lesen beibringen, aber ich stellte zu meiner Verblüffung fest, daß sie es schon beherrschte. Ihr Bruder behauptete, er hätte es ihr nicht beigebracht; aber es steht fest, daß sie stundenlang zusammengerollt auf dem Sofa lag und ein Buch vor der Nase hatte. ›Sie ist genau wie sie‹, pflegte er mürrisch zu sagen. ›Typisch, daß diese unnatürliche kleine Hexe nicht mit den anderen Kindern spielt. Sie ist und bleibt eben eine Hexe.‹ In dem Stil redete er immer, Mr. Steever. Als wäre Irma so etwas wie ein – ein Ungeheuer. Dabei ist sie so süß und lieb und ruhig und hübsch!
Ist es vielleicht ein Wunder, daß sie aufs Lesen verfallen war? Ich war als kleines Mädchen ebenso, weil – aber das tut nichts zur Sache.
Trotzdem glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, als ich eines Tages dazu kam, wie sie in die ›Encyclopedia Britannica‹ vertieft war. ›Was liest du denn da, Irma?‹ fragte ich sie. Sie zeigte es mir. Es war eine Abhandlung über Hexenkraft.
Sehen sie jetzt, welche krankhaften Vorstellungen Ihr Bruder in ihrem kleinen Kopf erweckt hat? Ich tat alles, was in meinen Kräften stand. Ich kaufte ihr Spielzeug – sie hatte nichts, absolut nichts, nicht einmal eine Puppe. Sie wußte gar nicht, was spielen ist. Ich versuchte sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen; aber das hatte überhaupt keinen Zweck. Die Kinder verstanden Irma nicht, und sie wußte nichts mit den anderen Kindern anzufangen. Es gab immerzu Streit. Kinder können so grausam und so gedankenlos sein. Ihr Vater weigerte sich, sie in eine öffentliche Schule zu schicken. Ich sollte sie unterrichten –
Ich kaufte ihr dann eine Knetmasse zum Modellieren. Das gefiel ihr. Sie konnte Stunden damit zubringen, nichts weiter als Gesichter zu formen. Für ihre sechs Jahre entwickelte sie dabei ein beachtliches Talent.
Wir machten zusammen kleine Puppen, und ich nähte dann Kleider für sie.
Glauben Sie mir, Mr. Steever, das erste Jahr war ausgesprochen glücklich. Ganz besonders schön waren natürlich die Monate, als Ihr Bruder in Südamerika war. Aber als er dann in diesem Jahr zurückkam – du mein lieber Gott, ich bringe es kaum übers Herz, darüber zu sprechen!«
»Bitte«, sagte Sam Steever, »Sie müssen das verstehen. John ist alles andere als ein glücklicher Mensch. Der Verlust seiner Frau, der Rückgang seines Importgeschäftes und dann sein Trinken – aber was sage ich Ihnen da? Sie wissen das ja alles selber.«
»Ich weiß nur, daß er Irma haßt«, sagte Miss Pall heftig. »Er haßt sie so sehr, daß er wünscht, sie wäre schlecht, damit er immer einen Grund hätte, sie zu verprügeln. ›Wenn Sie die kleine Hexe nicht züchtigen, werde ich es tun‹, sagt er immer. Und dann nimmt er sie nach oben und schlägt mit seinem Ledergürtel auf sie ein. Sie müssen etwas unternehmen, Mr. Steever. Wenn Sie es nicht tun, werde ich ganz bestimmt zu den maßgebenden Behörden gehen!« Diese verrückte, alte Meckerziege ist imstande und tut das wirklich, dachte Sam, also muß man ihr noch mehr Honig ums Maul schmieren. »Aber was wird dann mit Irma?« fragte er, um an ihr rührseliges Herz zu appellieren.
Miss Pall seufzte. »Ich weiß nicht. Seit ihr Vater zurück ist, hat sie sich sehr verändert. Sie will nicht mehr mit mir spielen, ja sie schaut mich kaum noch an. Sie kann mich wahrscheinlich nicht mehr leiden, weil es mir nicht gelingt, sie vor ihrem Vater zu beschützen. Und außerdem – ist sie felsenfest davon überzeugt, daß sie eine Hexe ist.«
Dieses alte Weib ist verrückt, völlig verrückt. Sam Steever setzte sich aufrecht in seinen knarrenden Stuhl.
»Sie brauchen mich gar nicht so anzustarren, als ob ich den Verstand verloren hätte, Mr. Steever. Irma wird es Ihnen selbst sagen – wenn Sie sich je entschließen können, hinzufahren.«
Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Er versuchte ihn durch ein freundliches Nicken zu mildern.
»Irma verkündete eines Tages, wenn ihr Vater so gern möchte, daß sie eine Hexe wäre, dann würde sie eben ab sofort eine Hexe sein. Und sie würde weder mit mir noch irgendeinem anderen spielen, weil Hexen nicht spielen.
Bei der letzten Kirmes hat sie mich gebeten, ihr einen Besenstiel zu geben. Man könnte darüber lachen – wenn es nicht eher zum Weinen wäre. Es ist ein Jammer, wenn man tatenlos zusehen muß, wie dieses Kind langsam seinen gesunden Menschenverstand verliert.
Vor ein paar Wochen dachte ich, es könnte vielleicht doch noch alles gut werden. An einem Sonntag bat mich Irma, mit ihr in die Kirche zu gehen. ›Ich möchte bei einer Taufe zusehen‹, sagte sie. Man stelle sich vor: Ein achtjähriges Mädchen ist an dem Taufvorgang interessiert! Sie liest einfach zuviel. Das ist es!
Also schön, wir gingen zur Kirche. Sie war so süß und lieb, wie sie nur sein kann. Sie hatte ihr neues blaues Kleid an und umklammerte meine Hand. Ich war stolz auf sie, Mr. Steever, richtig stolz;.
Aber gleich nach dem Kirchgang zog sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Entweder las sie ununterbrochen oder sie huschte in der Dämmerung durch den Garten und sprach mit sich selbst.
Vielleicht tat sie das, weil Ihr Bruder ihr das Kätzchen nicht schenken wollte, das sie sich so sehr wünschte. Als sie ihn bat, ihr eine schwarze Katze mitzubringen, fragte er, warum, und sie antwortete: ›Weil jede Hexe eine schwarze Katze hat.‹ Daraufhin nahm er Irma wieder mit nach oben.
Wie sollte ich ihn davon abhalten, Irma zu schlagen?
Das nächstemal verprügelte er sie, als das elektrische Licht versagte und wir die Kerzen nicht finden konnten. Er beschuldigte sie, daß sie die Kerzen gestohlen hätte. Man bedenke: Ein achtjähriges Kind des Kerzendiebstahls zu bezichtigen!
Das war der Anfang vom Ende. Denn als er heute seine Haarbürste nicht finden konnte …«
»Wollen Sie damit sagen, daß er das Kind auch mit der Haarbürste schlug?«
»Ja. Und sie gab zu, die Haarbürste entwendet zu haben. Sie sagte, sie hätte sie für ihre Puppe gebraucht.«
»Aber sagten Sie nicht vorhin, Irma hätte gar keine Puppen?«
»Sie hat sich selbst eine gemacht. Zumindest glaube ich, daß sie das getan hat – obwohl ich die Puppe nie zu Gesicht bekommen habe. Denn sie zeigte uns nichts mehr, und sie redete auch bei Tisch nicht mehr mit uns. Sie hatte sich so zurückgezogen, daß es einfach unmöglich geworden war, mit ihr umzugehen.
Aber ich weiß trotzdem, daß sie eine kleine Puppe hat – sie muß sie einfach selber gemacht haben, woher sollte sie sie sonst haben? –, weil sie sie manchmal unter dem Arm versteckt herumträgt. Sie redet mit der Puppe, und sie streichelt sie, aber sie will sie weder mir noch ihm zeigen. Und als er Irma heute nach der Haarbürste fragte, da sagte sie eben, daß sie sie für ihre Puppe gebraucht hätte.
Ihr Bruder bekam einen fürchterlichen Wutanfall – er hatte den ganzen Vormittag in seinem Zimmer getrunken, oh, denken Sie ja nicht, daß ich das nicht weiß –, aber Irma lächelte ihn nur an und sagte, daß sie die Bürste nicht mehr brauche und daß er sie jetzt wiederhaben könne. Sie verschwand in ihrem Zimmer, kam mit der Haarbürste zurück und reichte sie Ihrem Bruder. Ich konnte mit einem Blick feststellen, daß Irma die Bürste nicht im mindesten beschädigt hatte.
Aber kaum, daß Ihr Bruder die Haarbürste in der Hand hatte, schlug er damit heftig auf die Schultern der Kleinen ein. Dann verdrehte er ihren Arm und dann –«
Miss Pall sackte auf ihrem Stuhl zusammen und begann wieder wild zu schluchzen.
Als Sam Steever ihr beruhigend auf die Schulter klopfte, wirkte er wie ein Elefant, der einen verwundeten Kanarienvogel trösten will.
»Das ist alles, Mr. Steever«, brachte Miss Pall mühsam hervor. »Ich bin gleich zu Ihnen gekommen. Ich werde nicht einmal in das Haus gehen, um meine Sachen zu holen. Ich kann das einfach nicht mehr ertragen. Ich meine, die Art wie er sie schlägt und wie sie es hinnimmt. Sie weint nicht, sondern kichert und kichert und kichert. Ich glaube langsam wirklich, daß sie eine Hexe ist, daß er sie zu einer Hexe gemacht hat …«
Sam Steever langte nach dem Telefonhörer. Das Läuten hatte die wohltuende Stille, die nach Miss Palls eiligem Aufbruch eingetreten war, unterbrochen.
»Hallo – bist du es, Sam?«
Er erkannte die Stimme seines Bruders, der völlig betrunken sein mußte.
»Ja, John.«
»Ich schätze, daß das alte Klatschmaul auf der Stelle zu dir gerannt ist, um sich den Mund fusselig zu reden.«
»Wenn du Miss Pall meinst – ja, sie war eben hier.«
»Gib nichts auf ihr Geschwätz, Sam. Ich kann dir alles erklären.«
»Willst du, daß ich zu dir komme? Ich war schon monatelang nicht bei dir.«
»Tja – nur nicht heute. Ich habe mich für den späten Nachmittag beim Arzt angemeldet.«
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung mit dir?«
»Ich habe Schmerzen im Arm. Wahrscheinlich Rheumatismus oder so etwas. Aber ich werde dich morgen anrufen, damit wir den Unsinn aus der Welt schaffen.«
»Schön.«
Aber John Steever rief am nächsten Tag nicht an. Sam wartete bis zum späten Abend, dann wählte er Johns Nummer.
Zu seiner Überraschung meldete sich Irma am anderen Ende. Ihre dünne, piepsende kleine Stimme klang leise in seinen Ohren.
»Vati ist oben und schläft. Er ist krank.«
»Dann wollen wir ihn auch nicht stören. Was ist es denn – sein Arm?«
»Nein, jetzt ist es sein Rücken. Er muß nachher noch einmal zum Arzt.«
»Dann sage ihm, wenn er aufwacht, daß ich morgen wieder anrufe. Ist sonst alles in Ordnung, Irma? Ich meine, vermißt du nicht Miss Pall?«
»O nein. Ich bin froh, daß sie fort ist. Sie ist schrecklich dumm.«
»Aha – nun ja – ich verstehe. – Aber du rufst mich an, wenn irgend etwas los ist, ja? Und ich hoffe, daß es deinem Vater bald besser geht.«
»Ja, das hoffe ich auch«, sagte Irma und fing zu kichern an. Dann legte sie den Hörer auf.
John Steever kicherte nicht, als er am nächsten Nachmittag seinen Bruder Sam in der Anwaltspraxis anrief. Das Sprechen strengte ihn an. Aber er war nicht betrunken, sondern schien unerträgliche Schmerzen zu haben.
»Sam – um Gottes willen – komm her! Irgend etwas geschieht mit mir!«
»Was ist denn los?«
»Diese Schmerzen – sie bringen mich noch um! Ich muß dich sehen – so schnell wie möglich.«
»Im Vorzimmer wartet noch ein Besucher – aber den kann ich loswerden. Aber – Moment mal, John – warum rufst du nicht den Arzt?«
»Der Quacksalber kann mir nicht helfen. Er hat meinen Arm bestrahlt und gestern meinen Rücken.«
»Und hat es nicht geholfen?«
»Die Schmerzen ließen nach. Aber sie sind jetzt viel stärker wiedergekommen. Ich habe das Gefühl, als ob ich in der Mitte durchbreche und als ob meine Brust zerquetscht wird. Ich kriege kaum noch Luft.«
»Das klingt nach einer Brustfellentzündung. Warum rufst du nicht den Arzt an?«
»Es ist keine Brustfellentzündung. Er hat mich genau untersucht und gesagt ich wäre gesund wie ein Fisch im Wasser. O nein, mir fehlt nichts Organisches … und die wirkliche Ursache – konnte ich dem Arzt nicht sagen.«
»Die wirkliche Ursache?«
»Ja. Die Nadeln. Die Nadeln, die das kleine Ungeheuer in die Puppe, die sie selbst gemacht hat, spießt. Erst in den Arm. Dann in den Rücken. Der Himmel mag wissen, wie sie das jetzt geschafft hat.«
»John, hör zu, du darfst nicht –«
»Was hat das für einen Sinn, zu reden? Ich kann mich nicht aus dem Bett rühren. Jetzt hat sie mich. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin außerstande, hinunterzugehen, um ihr diese verdammte Puppe wegzunehmen. Und wem sollte ich es sagen? Es würde mir doch keiner glauben. Aber ich weiß, daß es diese verfluchte Puppe ist, die sie aus Kerzenwachs und den Borsten von meiner Haarbürste gemacht hat. Oh, das Reden tut so weh – diese verdammte kleine Hexe! Beeil dich, Sam. Versprich mir, daß du alles – alles – alles tun wirst, um ihr die Puppe abzunehmen – ihr die Puppe abzunehmen – ihr die Puppe abzunehmen …«
Eine halbe Stunde später betrat Sam Steever das Haus seines Bruders.
Irma öffnete ihm die Tür.
Sie stand lächelnd und ruhig da. Die blonden Haare waren aus der unschuldigen Stirn zurückgebürstet. Ihre blauen Augen in dem rosigen Gesicht leuchteten. Sie sah wie eine kleine süße Puppe aus. Eine kleine Puppe …
»Hallo, Onkel Sam.«
»Guten Tag, Irma. Dein Vater hat mich angerufen. Hat er es dir erzählt? Er hat gesagt, daß es ihm nicht so gut geht …«
»Ich weiß. Aber er fühlt sich jetzt schon viel besser. Er schläft.«
Irgend etwas ging in Sam Steever vor. Er hatte das Gefühl, daß ihm ein Eistropfen den Rücken hinunterlief.
»Er schläft?« krächzte er. »Oben?« Ehe Irma den Mund zu einer Antwort aufmachen konnte, war Sam schon auf der Treppe zum ersten Stock. Er rannte den Gang entlang, der zu Johns Schlafzimmer führte.
John lag im Bett. Er schlief. Er schlief wirklich – und nichts weiter. Sam sah, wie sich die Brust seines Bruders in regelmäßigen Atemzügen hob und senkte. Sein Gesicht war ruhig und entspannt. Der Eistropfen auf Sams Rücken verdampfte. Er atmete erleichtert auf und brummte »Unsinn« vor sich hin.
Als er wieder langsam die Treppe hinunterging, überlegte er, was zu tun wäre. Ein sechsmonatiger Urlaub wäre für seinen Bruder das Richtige, wobei man ja das Wort ›Kur‹ vermeiden konnte. Irma müßte man in ein Internat stecken, damit sie mit anderen Kindern zusammenkam. Sie mußte aus diesem alten Haus herauskommen, weg von all diesen Büchern …
Auf halber Treppe blieb Sam stehen. Als er über das Treppengeländer lugte, sah er in der Dämmerung Irma, die auf dem Sofa wie ein kleiner weißer Ball zusammengerollt lag. Sie wiegte etwas in ihren Armen hin und her und redete auf dieses Etwas ein.
Es schien also auf alle Fälle eine Puppe zu geben.
Sam stieg auf Zehenspitzen die letzten Stufen hinunter und ging leise auf Irma zu.
»Na, du –«, sagte er.
Sie zuckte erschrocken zusammen und bedeckte mit ihren Armen den Gegenstand völlig, den sie eben liebkost hatte, und preßte ihn dabei heftig an sich.
Sam Steever mußte unwillkürlich an eine Puppe denken, die auf einer Brust zerdrückt wird.
Irma blickte ihn an. Ihr Gesicht war eine unschuldige Maske. Zumindest in dem herrschenden Dämmerlicht glich ihr kleines Gesicht einer Maske. Die Maske eines kleinen Mädchens, die etwas verdeckte. Aber was … ?
»Hast du gesehen, daß es Vati wieder besser geht?« lispelte Irma. »Oh, ich glaube, es geht ihm viel besser.«
»Das wußte ich.«
»Aber ich fürchte, mein Kind, daß er wegfahren muß, um sich zu erholen. Er wird lange Zeit brauchen, bis er sich völlig erholt hat.« Ein Lächeln drang durch die Maske.
»Gut«, sagte die kleine Stimme.
»Du kannst hier natürlich nicht solange allein bleiben«, fuhr Sam eifrig fort. »Wir werden uns das noch in Ruhe überlegen. Vielleicht werden wir dich in ein Internat schicken oder in irgendein anderes Heim –«
Irma kicherte. »Oh, du brauchst dir meinetwegen nicht den Kopf zu zerbrechen«, sagte sie und rückte zur Seite, als sich Sam zu ihr auf das Sofa setzte. Als er sich zu ihr beugte, sprang sie rasch auf. Durch Irmas plötzliche Bewegung tauchten unter ihren Ellenbogen zwei kleine Beine auf, die mit Hosen bekleidet waren und an den Füßen kleine Lederstücke als Schuhe hatten.
»Was hast du da, Irma?« fragte er. »Ist das eine Puppe?«
Er streckte sehr langsam seine plumpen Hände aus.
Sie wich zurück.
»Du darfst sie nicht sehen«, meinte Irma bestimmt.
»Aber ich möchte sie gerne sehen. Miss Pall hat mir erzählt, was du für hübsche Puppen machst.«
»Miss Pall ist dumm. Und du auch. Geh weg!«
»Aber Irma«, begann Sam beschwichtigend, »was redest du denn für dummes Zeug. Komm, sei lieb, und zeig mir die Puppe.«
Während er sprach, schaute er auf den Kopf der Puppe, der durch Irmas Zurückweichen zum Vorschein gekommen war. Sam sah die dunklen Haarbüschel über dem weißen Gesicht. Das Dämmerlicht verwischte die Gesichtszüge, aber er konnte undeutlich Augen und Nase erkennen und das Kinn …
Er war aber nicht bereit, ihren bockigen Widerstand länger geduldig hinzunehmen.
»Gib mir jetzt sofort die Puppe, Irma«, sagte er barsch. »Ich weiß, was es ist – ich weiß, wer sie ist …«
Für einen Augenblick glitt die Maske von Irmas Gesicht. Sam Steever sah die nackte Angst in ihren Augen.
Sie wußte, daß er wußte …
Aber genauso schnell, wie sie verschwunden war, kehrte die Maske auf ihr Gesicht zurück.
Sie war nichts weiter als ein süßes, eigensinniges kleines Mädchen, das den Kopf schüttelte und ihren alten Onkel schalkhaft mit den großen Kinderaugen anblitzte.
»Aber Onkel Sam«, kicherte sie, »wie kannst du nur so dumm sein? Das ist wirklich keine richtige Puppe.«
»Was ist es dann?« fragte Sam grunzend.
Sie kicherte wieder und hob die Figur in die Höhe, als sie sagte: »Das ist nur eine Zuckerpuppe.«
»Eine Zuckerpuppe?«
Irma nickte kichernd. Dann steckte sie mit einer raschen Bewegung den kleinen Puppenkopf in den Mund.
Und biß ihn ab.
Von oben kam ein einziger gellender unmenschlicher Schrei, der Sam das Blut in den Adern erstarren ließ.
Während er keuchend die Stufen hinaufraste, schlüpfte die kleine Irma, die immer noch stillvergnügt kaute, durch die Vordertür und tauchte im Dunkel der Nacht unter.