Gabriele Stegmeier
Der Gerberlehrling
Als der Meister ihn rief, hatte Hans sofort ein komisches Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Er nahm die Holzstange, mit der er gerade in der gärenden Kleiebeize rührte, aus dem Fass und ging zu dem kleinen Raum vor der Werkstatt, in dem der Meister Kunden zu empfangen pflegte. Sein Meister saß mit einem Mann in rotem Umhang am Tisch. Sie hatten Dünnbier vor sich stehen.
„Ihr werdet sehr zufrieden sein. Es ist exzellent geworden. – Ah, Hans, da bist du ja. – Hans ist mein bester Arbeiter.“ Der Mann hob den Kopf und schaute ihn direkt an. Hans sah Augen wie Milch, deren Blick in seinen Kopf zu dringen schien. Es war soweit. Der Helläugige war gekommen, es abzuholen. Ein eiskalter Klumpen füllte seinen Bauch, seine Schultern fielen nach unten, er machte einen Buckel, und sein Kopf hing nach vorne. „Dann hol mal unser Prachtstück“, wies der Meister ihn an. Zu dem Fremden gewandt, schwärmte er: „Ihr werdet begeistert sein. Es ist erstklassig geworden, eine wunderbar dichte Struktur, eine Farbe wie gereinigtes Salz …“
Mehr hörte Hans nicht. Er hatte die Stube verlassen. Er musste es holen. Wie in einem dichten Nebel schlurfte er durch die Werkstatt zur Stiege. Es war oben auf der Trockengalerie. Da war die Temperatur im Spätsommer ideal zum Aufbewahren. Zögernd setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Seine Beine wogen Zentner, und es bereitete ihm Mühe, die steile Treppe emporzusteigen.
Ihm war, als sei es erst gestern gewesen, dass der Dunkelhaarige mit dem wilden Blick die Haut gebracht hatte. Hans schüttete gerade verbrauchtes Gerbwasser in die hölzerne Rinne, die zur Pegnitz führte, als der Fremde mit langen Schritten die Gasse heraufkam. Sein unsteter Blick wanderte von rechts nach links, und immer wieder drehte er sich auch um. „He Junge, ist das die Gasse der Weißgerber?“ Hans blickte in schwarze Augen. Sie lagen in tiefen Höhlen und erweckten überschattet von dichten Brauen einen düsteren Eindruck. Das Gesicht des Fremden war von langen Koteletten, die auch einen Teil der Backen überwucherten, eingerahmt. „Ich suche Meister Siegert.“ Hans deutete hinter sich. „Er ist mein Meister.“
Der Meister hatte alle sofort aus der Werkstatt geschickt, auch ihn. Obwohl sie am Kaminloch lauschten, konnten sie nur undeutliches Gemurmel der beiden hören, bis auf die Worte „Der Helläugige würde kommen“.
Nachdem der finster blickende Mann aufgebrochen war, ging der Meister nach oben. Sie hörten, wie er den Wertkasten in der Stube auf- und wieder zuschloss. Dann scheuchte er mit barschen Worten alle Gehilfen zurück an die Arbeit, bis auf Peter, den jüngsten, den er zur Wirtschaft sandte, einen Humpen Bier holen.
Vor einem halben Jahr war Hans noch der Jüngste gewesen. Er war sehr froh, es nun nicht mehr zu sein, trotz der Schläge und Schelte, die er vom Meister bekommen hatte. Denn der war gar nicht begeistert gewesen, als Hans im Kamin stecken blieb. Sie konnten ihn auch nicht mehr rausziehen, sondern mussten an der Stelle, wo er festsaß, das Holz entfernen. Von allen Arbeiten, die dem Jüngsten zusätzlich aufgehalst wurden, war das Reinigen des Kamins die meist gehasste. Schließlich wurde man da kopfüber durch den engen, dunklen Schacht geschoben. Es war schlimmer als das Leeren der Fäkaliengrube. Die stank zwar bestialisch, aber als Gerberlehrling hatte er jahrelang die Gerüche von Kot und Urin um sich und nahm sie manchmal schon gar nicht mehr wahr. Jedenfalls war er, obwohl der Meister an seinem Essen sparte, und er oft hungrig in seinem kleinen Verschlag in einer Ecke der Werkstatt einschlafen musste, in die Höhe geschossen. Solange es das Tageslicht erlaubte, schleppte er irgendetwas: volle Eimer, schwere Tierfelle oder rührte die vollgesogenen Häute im Bottich um. Seine Schultern waren breiter geworden, und er bekam einen muskulösen Oberkörper. Und nachdem er im Kamin stecken geblieben war, und der Meister den Neuen holte, stieg er endlich in der Hierarchie eine Stufe höher. Er musste nicht mehr die Werkstatt putzen, wenn die anderen schon Feierabend hatten. Außerdem erhielt er die Erlaubnis, an einem Abend in der Woche und an einem Sonntagnachmittag ein paar Stunden auszugehen.
Damit hatte für Hans ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Nicht nur, dass er sich von dem kargen Lohn in billigen Spelunken wie dem Flamboyant riesige Mahlzeiten leisten konnte und endlich auch mal satt wurde. Auch Nürnberg, die Stadt, in die ihn sein Vater damals gebracht hatte, erforschte er jetzt nach und nach. Er lauschte Erzählungen von Händlern und Fahrensleuten, er stellte Fragen und wurde weggejagt oder geohrfeigt, aber das hielt ihn nicht ab. Manchmal hatte er auch ein paar Pfennige übrig. Mit diesem Geld besuchte er Gaukler und Geschichtenerzähler, die durch die Stadt zogen. Besonders Letztere hatten es ihm angetan. Stundenlang konnte er ihnen lauschen und träumen. Dann wusste er eines gewiss. Auch er würde in die weite Welt ziehen, und alle die fantastischen Abenteuer und Absonderlichkeiten erleben.
„Hans, nun spute dich, sonst zieh ich dir die Ohren lang!“, brüllte der Meister mit Ärger in der Stimme. „Komm ja gleich“, ohne Überlegung sprudelte er die Worte heraus. Der Meister duldete keinen Widerspruch, und bei Ungehorsam war Ohrenlangziehen noch die mildeste Bestrafung. Er hatte nicht so oft Schläge erwischt, aber der neue, Peter, lag oft wimmernd in dem kleinen Verschlag, dem er nun entwachsen war. Peter war ein wilder Bub. Er hatte nur Flausen im Kopf und drückte sich vor der Arbeit, wo er konnte. Stundenlang trieb er sich an der Pegnitz herum, wenn er ausgeschickt war, etwas zu holen. Aber die besten Ausreden für sein Zuspätkommen nutzten ihm nichts. Der Meister nahm nur wortlos seinen Gürtel, und eine Mahlzeit gab es an diesem Tag auch nicht. Mit diesen Gedanken war Hans schneller die Treppe hinaufgestiegen.
Vorsichtig nahm er das Pergament, das zwischen anderen zum Trocknen aufgehängten Lederteilen gespannt war. Wie schön es war! So hell und fast durchsichtig strahlte es in dem Sonnenstrahl, der durch die Dachluke fiel. Sanft strich er mit den Fingerkuppen darüber. Die Oberfläche fühlte sich glatt an, die einzelnen Fasern waren kaum zu spüren. Es war sein Glanzstück. All seine Liebe und Fürsorge, sein ganzes Können und seine Behutsamkeit hatte er in dieses Stück Haut gegeben. Es war seins!
Langsam, wie in Trance, stieg er die Treppe hinunter. Sie würden es ihm abnehmen. Der Mann mit den Augen wie Eisnebel würde bezahlen und mit dem Pergament gehen. Was sollte er tun? Was konnte er tun?
Dann ging alles ganz schnell. Der Meister riss ihm das Pergament aus den Händen. „Das könnt Ihr nicht tun“, stammelte er, aber keiner der beiden Männer beachtete ihn. Der Helläugige nahm es in die Hand, strich mit prüfenden Fingern darüber.
„Was stehst du hier so rum, du dummer Bub?“ Der Meister versetzte Hans einen Stoß, der ihn rückwärts in die Werkstatt fliegen ließ. Er haute sich den Kopf an einem Gerbfass an und verstauchte sich das Handgelenk. Weinend blieb er liegen und rollte sich zusammen.
Nachdenklich ging Meister Varn nach Hause. Das kostbare Pergament trug er in Tuch gehüllt vorsichtig unter dem Arm. Vorbeikommende grüßten den angesehenen Bürger und Kinder bettelten um Groschen. Aber heute sah der Herr gar nichts, und so blickten sie schnell scheu zur Seite und machten sich davon.
Meister Varn grübelte über Hans nach. Dieser Bub hatte sich gar auffallend benommen. Es schien fast, als wolle er das Pergament nicht hergeben. Dieses sehr schön gearbeitete Stück war wertvoll, ohne Zweifel. Er hatte auch ein horrendes Sümmchen an Meister Siegert bezahlt, aber das war nicht der Grund. Der Bub hatte gelitten, als er es dem Meister aushändigen musste. Ob er etwas ahnte? Ob sein dummes Hirn gar durch das Bearbeiten der Haut etwas über diese erfahren hatte?
Meister Siegert hatte ihm erzählt, wie anstellig und fähig der junge Hans war. Dass er schnell lernte und leicht neue Fertigkeiten ausführen konnte. Selbst Tätigkeiten, die er noch nicht lange machte, übte er meist besser aus als der Geselle. Deshalb habe er auch nur ihn mit der Bearbeitung der Haut beauftragt. Pergamentherstellung sei sowieso kein Handwerk mehr, seit es Papier gab, sondern eine Kunst. Hans sei der einzig Geeignete gewesen, es in dieser Kunst auch zu Kunstfertigkeit zu bringen. Er habe ihm deshalb als Erstes eingetrichtert, wie wertvoll das Stück Haut sei, und welches Vertrauen der Auftraggeber in ihn, Meister Siegert, setze. Dann erst habe er ihm die Aufgabe, aus der Haut unter seiner Anleitung das schönste Stück Pergament, das die Stadt je gesehen hatte, zu schaffen, eröffnet. Er habe nicht vergessen, ihm klar zu machen, dass die Erschaffung eines großen Kunstwerkes alles vom Künstler fordere. Seine Hingabe und Inbrunst, seinen Lebensodem und sein Blut, ja, wenn nötig müsse er das Werk mit seinem Leben schützen. Bei dem Wort Blut zuckte Varn etwas zusammen, und was den Schutz mit dem Leben anbetraf, der Gerber sei mit seinem Lehrling wohl doch etwas zu weit gegangen. Andererseits gab ihm der Erfolg recht.
Es hatte keinen Sinn, wenn er sich weiter über Hans den Kopf zerbrach. Wahrscheinlich war er nur besonders sensibel. Dermaßen instruiert durch Meister Siegert hatte er eben wirklich seine Seele in die Erschaffung des Pergaments gelegt und nie daran gedacht, dass er es nach Fertigstellung hergeben musste. Schließlich war er noch ein Kind. Kinder litten unter solchen Vorkommnissen, aber sie kamen auch schnell darüber hinweg.
Auf sein Klopfen öffnete Adva die Haustüre. „Willkommen Meister“, begrüßte er ihn feierlich, um dann herauszuplatzen: „Hast Ihr es?“ Varn nickte und zog die Rolle unter seinem Arm hervor. „Hol Elring, dann werden wir es zusammen betrachten.“
Hans kam zu sich, weil Peter nicht aufhörte, ihn an der Schulter zu rütteln. „Hansl, mach endlich die Augen auf. Ich hab schon zwei Humpen Bier geholt. Und ich hab nur einen ganz kleinen Schluck genommen, aber er hat es trotzdem gemerkt.“
„Weil du den Schaum noch auf der Oberlippe hattest, du Depp“, spottete Schorsch, der Geselle. „Und du, Hansl, reiß dich jetzt am Riemen. Der Meister ist bester Laune. Ich nehme an, er hat viel für das Pergament bekommen. Freibier gibt’s nicht so oft. Also mach schnell, bevor er es sich anders überlegt.“
Hans rappelte sich auf, wischte Tränenreste aus dem Gesicht und folgte den beiden in die Empfangsstube. Der Meister hatte schon drei Becher gefüllt. „Das muss gefeiert werden“, prostete er ihnen zu. „So eine schöne Arbeit stellen wir nicht jeden Tag fertig. Und gutes Geld hat sie auch gebracht.“ Er strahlte über sein rundes Gesicht. „Ach, was soll’s? Der Peter kriegt auch ein winziges Schlückchen heute“, er goss etwas in einen weiteren Becher. „Auch wenn er immer schon aus dem Humpen sauft, der Saubub der!“ Er deutete eine Ohrfeige an und Peter duckte sich reflexartig. Sie stießen wieder an, tranken leer, und der Meister und Schorsch rülpsten voller Wohlbehagen. Peters Versuch, es ihnen gleich zu tun, endete mit einem Hustenanfall. Der Meister füllte die Becher nach und leerte seinen gleich wieder mit einem weiteren tiefen Zug.
Benommen trank auch Hans einen Becher nach dem anderen, bis die Meisterin zum Essen rief. Der Meister aß mit der Familie im ersten Stock, während die drei Burschen sich einen gefüllten Teller in der Küche holten, und ihr Essen in der Werkstatt runterschlangen. Doch heute stocherte Hans in seinem Rübenbrei nur herum, bis er Peters begehrliche Blicke bemerkte und ihm seine Portion rüber schob. Dann stahl er sich aus dem Haus.
Er hastete die Weißgerbergasse hoch und lief am Weinmarkt entlang. Es waren noch einige Händler da, die gerade erst zusammenpackten. Er fragte sie nach Meister Varn. Die meisten schüttelten nur den Kopf, doch einer deutete mit dem Daumen hinter sich Richtung Burg. „Wisst Ihr es genauer?“
„Irgendwo beim Albrecht-Dürer-Platz. Was willst du denn von dem, Bub? Er ist unheimlich, er hat den Blick. Hüte dich vor seinen Augen, sie ziehen dir die Seele aus dem Leib.“
Doch Hans rannte schon weiter, vorbei am schwarzen Christus der Sebalduskirche und den kleinen Berg hoch zu Dürers Denkmal. Der Platz war leer. Keiner war zu dieser späten Stunde noch unterwegs. Unschlüssig lehnte Hans am Denkmal und musterte die Häuser ringsum. Sie hatten zwar Nummern, aber das war es dann auch schon. Sollte er an alle Häuser anklopfen?
Während er noch unschlüssig Fenster musterte in der Hoffnung, einen der Bewohner zu erspähen, begann es zu tröpfeln. Schnell steigerte sich der Regen und prasselte wie ein Sturzbach auf ihn ein. Er rannte zum Portal der Sebalduskirche und kauerte sich in eine Ecke, damit er etwas geschützt war. Als er da so saß und zitterte, denn mit dem Regen kühlte es auch stark ab, wurde ihm das ganze Ausmaß seines Elends bewusst. Was für ein dummer Bub er doch war! Jagte einem Mann hinterher, der sein Pergament hatte. Es war ja nicht einmal seins, es gehörte Meister Varn. Selbst wenn er ihn fand und es stehlen konnte, was dann? Sie würden ihn jagen, fangen und ihm die Hand oder sogar beide abhacken. Seine Tränen mischten sich mit dem Regenwasser. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, es sei aussichtslos, das Pergament wieder in seinen Besitz zu bekommen, sandte sein Bauch ganz andere Signale. Der eiskalte Klumpen darin schien noch mehr Kälte auszustrahlen und hinterließ, während er langsam schmolz, eine so tiefe Leere, dass Hans vor Angst geschüttelt wurde. Er musste sein Pergament haben, sonst würde er sterben. Dieser Gedanke füllte plötzlich sein Hirn aus und erschien ihm völlig klar und folgerichtig. Er hatte diese Haut bekommen, um sie zur Vollkommenheit zu führen. Sie gehörte zu ihm wie das Licht seiner Augen und die Liebe in seinem Herzen. Er hatte sie so lange in Händen gehabt, sie durch alle Stadien der Bearbeitung geführt, sie immer fühlen und liebkosen und sich an den Fortschritten erfreuen dürfen.
Zu Beginn der langwierigen Prozedur hatte er das Fell behandelt als solle es gegerbt werden. Zuerst entfernte er die Fleischreste an der Innenseite mit Schwöde. Diese bereitete er besonders sorgfältig zu, achtete peinlich genau auf das richtige Mischungsverhältnis aus Weißkalk und Wasser, bevor er sie gleichmäßig aufstrich. Es wunderte ihn ein wenig, das Fell nicht einordnen zu können. Das Stück war nicht groß, es stammte also von einem kleinen Tier, war aber weder Schaf noch Ziege. Auch für Hase, Fuchs, Katze oder irgendwelche Frühgeburten war die Form zu regelmäßig. Weder war ein Halsansatz noch eine Schwanzwurzel erkennbar, auch Vorder- und Hinterflämen oder Klauen konnte er nicht ausmachen. Verwunderlich war weiter, dass auf der Fellseite nur wenig schwarze Haare waren, die sich teilweise kringelten. Eine Befragung des Meisters ergab auch nichts. Der grummelte nur, er solle sich keine dummen Gedanken machen, sondern arbeiten, und gab ihm eine Kopfnuss.
Nachdem er das Fell so präpariert an einem warmen Ort hatte ruhen lassen, wusch er die Schwöde in der Pegnitz aus. Normalerweise gossen sie zu Gerbzwecken einfach eimerweise Wasser über Häute und Felle, aber ihm schien es angemessen, sein Fell im fließenden Wasser der Pegnitz zu reinigen. Anschließend legte er das Fell über den Scherbaum, einen längs gespaltenen Baumstamm, dessen eines Ende erhöht auf einem Block lag. Mit dem Raufholz, einem biegsamen Messer mit Griffen an jedem Ende, begann er zu enthaaren. Vorsichtig, mit gleichmäßigem Druck ließ er es in Richtung Haarwuchs nach unten gleiten, um auch die Haarwurzeln zu entfernen.
Danach drehte er das Fell und entfernte verbliebene Fleischreste. Damit die Fläche besonders sauber wurde, schärfte er das Streicheisen mit der geschwungenen Klinge ein paar Mal. Dabei schnitt er sich, und ein dicker Blutstropfen fiel auf das Fell. Schnell wischte er ihn mit der unverletzten Hand ab, damit er das zukünftige Pergament nicht verunreinige. Als er so mit der Hand über das Fell strich, fühlte er ein Bitzeln und Prickeln, das über seine Finger den Arm hinaufwanderte und sich in seinem ganzen Körper ausbreitete, ja sogar ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Er seufzte vor Wonne und konnte gar nicht mehr aufhören, das Fell zu streicheln. Plötzlich bemerkte er, dass er sein Blut nicht entfernt, sondern nur verwischt hatte. Panisch rannte er zur Pegnitz. Bis über die Knie im Fluss stehend, schwenkte er die Haut und wusch sie gründlich. Er bespritzte auch sich von oben bis unten mit dem trotz der frühsommerlichen Temperaturen noch kalten Wasser. Doch es hatte ihm nichts ausgemacht, hatte er doch die ganze Zeit das intensive Gefühl der Berührung erleben dürfen.
Plötzlich stand Schorsch vor ihm. Er zog ihn mit einem wütenden Ruck auf die Beine und schleifte ihn hinter sich her. Schorsch trug einen weiten, dunklen Umhang und eine Kappe. Er triefte von oben bis unten. „In jeder verdammten Kaschemme habe ich dich gesucht, und dann hockst du hier im Kircheneingang. Bist du jetzt total irr?“ Hans hielt den Mund, da Schorsch sowieso keine Antwort erwartete, und trottete mit gesenktem Kopf hinter ihm her. „Der Meister ist sauwütend. Da kannst du dich auf was gefasst machen!“ „Aber es war doch nur wegen meines Fells“, verteidigte sich Hans lahm. „Fell? Ja, dein Fell wird er dir über die Ohren ziehen“, höhnte der Geselle und stieß ihn ruppig in die Werkstatt.
Meister Varn hatte die Szene im Chörlein seines Hauses stehend verfolgt. Der Gerberlehrling war ihm nachgelaufen und hatte dann stundenlang im Regen gewartet. Was wollte er? Varn erinnerte sich an die Augen des Lehrlings. Wie grüne Teiche hatten sie unter der braunen Stirnlocke geblitzt, bis er in sie geblickt hatte. In diesem Augenblick war das Leuchten weg gewesen, hatte die Farbe zu einem schmutzig-dunklen Moosgrün gewechselt. Nachdenklich entrollte Varn das Pergament und ließ seine Finger prüfend darüber streichen. Er fühlte nichts, absolut nichts. Es war ein Stück Pergament mit wunderbar fein strukturierter Oberfläche. Es würde eine Freude sein, darauf zu schreiben, den Namen darauf zu schreiben. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, was den Gerberlehrling so unaufhaltsam zu der Haut zog. Es schien gerade, als seien die beiden durch ein Geheimnis verbunden.
Hans war wieder zum Dürer-Denkmal gelaufen. Heute hatte er den Nachmittag frei, sein Meister konnte ihn also nicht tadeln. Er hatte ihn geschlagen, ihn angeschrien, mit ihm geredet. Doch nichts hatte auch nur das Geringste genutzt. Was hätte er auch erklären sollen? Dass er ohne das Pergament sterben würde? Dass er schon, wenn er es nur anblickte, eines Lichts gewahr wurde, das nicht nur die Welt heller machte, sondern auch in seinem Innern leuchtete? Dass die flüchtigste Berührung des feinen Stoffes ihm ein warmes Wohlgefühl im Bauch bescherte? Kurzum, dass er einfach restlos glücklich war mit seinem Pergament?
Hans seufzte. Der Meister würde das nie verstehen. Er hatte auch nicht verstanden, dass er jeden Tag mehrmals auf die Galerie, wo die Haut zum Trocknen gespannt war, gestiegen war.
„Hast dich wieder im Trockenboden rumgetrieben, du Nichtsnutz, statt zu arbeiten“, schimpfte er, wenn er ihn beim Herunterkommen erwischte.
„Ich habe nur schnell die Holzknebel kontrolliert“, pflegte er sich dann zu rechtfertigen, „habe einige gelockert und andere nachgezogen, damit die Haut wieder ganz gleichmäßig gespannt ist.“
„So oft wie du die nachziehst, hat die Haut dazwischen ja gar keine Zeit zum Trocknen“, grummelte der Meister, ließ ihn aber machen. Denn das regelmäßige Nachjustieren der Holzknebel war wichtig für eine gleichmäßige und kontrollierte Spannung der Haut. Da diese nicht an allen Stellen gleich dick war, trocknete sie unterschiedlich schnell. Hans achtete peinlich genau darauf, dünne, trockene Stellen wieder zu befeuchten, damit sie nicht hart und durchsichtig wurden, während er dicke Stellen vorsichtig durch festeres Spannen in die Breite zog. Wenn er ganz genau hinsah, erahnte er die Stelle, die sein Blut benetzt hatte. Die Fasern dort schienen ein bestimmtes Muster zu bilden, und er zermarterte sich das Hirn, was es bedeuten könnte.
Während er grübelnd ans Denkmal gelehnt stand, schweifte sein Blick über die Sebalduskirche, blieb an den hohen Fenstern hängen, die horizontal und vertikal durch viele Streben in kleinere Abschnitte unterteilt waren, um den Butzenscheiben Halt zu geben. Er fragte sich, warum wohl jeweils in der Mitte eines solchen Vierecks, eine der Scheiben größer war. Und dann wusste er es. Er blickte zum Chörlein des Hauses auf Dürers linker Seite. Im Fensterrechteck in der Mitte waren nur am Rand Butzenscheiben, mittig enthielt es ein Quadrat mit einer größeren Scheibe. Verschwommen konnte er ein Gesicht dahinter ausmachen.
Plötzlich fügte sich in seinen Gedanken alles zusammen. Es war dieses undeutliche Muster, das sein Blut auf die Haut gemalt hatte. In diesem Haus war sein Pergament, in diesem Haus war Meister Varn! Er stand im Chörlein und beobachtete ihn. Mit großen Schritten eilte er zur Haustür und klopfte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tür geöffnet wurde.
„Ich bin hier“, sagte er statt einer Begrüßung. Die Worte kamen abgehackt, atemlos, weil sein Herz so arg gegen seine Rippen hämmerte. „Das sehe ich. Was willst du?“ „Ich will zu meiner Haut!“ „Lass ihn rein, Adva“, kam eine Stimme von oben. „Ich will mit ihm reden.“ Hans atmete auf. Es war Varns Stimme, er hatte es geschafft.
Der Diener führte Hans die Stiege hoch in einen großen Raum. Wände und Decke waren mit fast schwarzem Holz verkleidet, es war dämmrig, da wenig Licht durch die kleinen Fenster drang. Hans’ Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, bevor er Varn in seinem dunkelroten Umhang in einer Ecke sitzen sah. „Komm her Junge und teile mir mit, warum das Pergament dich nicht loslässt.“
Für einen Augenblick glaubte Hans, er müsse auf der Stelle tot umfallen. Woher wusste Varn von seinem Geheimnis? Was sollte er jetzt machen? „Ich … ich“, stotternd vor Angst brachte er kein weiteres Wort heraus, blickte Meister Varn nur entsetzt an.
„Weißt du, dass es mit der Haut eine ganz besondere Bewandtnis hat?“ Hans zuckte die Schultern. „Du ahnst es“, fuhr der Meister fort als spräche er zu sich selbst. „Du fühlst, was von ihr ausgeht. Zwischen euch ist etwas vorgefallen, das sich meiner Kenntnis entzieht, und du würdest alles tun, dich in den Besitz des Pergaments zu bringen. Aber das kann ich nicht zulassen.“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist eine Gefahr für mich. Sag mir, was ich jetzt mit dir tun soll. Dich töten?“
„Aber das könnt ihr nicht, die Haut ruft nach mir, sie braucht mich!“ Hans sprudelte die Worte heraus, ohne nachzudenken. Es war undenkbar, dass er starb, jetzt, wo er seiner Haut wieder so nahe war. Doch Meister Varn lachte nur bösartig auf. „Du glaubst, dich braucht die Haut? Du törichter Narr, sie will Blut. Das ist ihre Bestimmung.“
Bei dem Wort Blut war Hans ganz schwindlig geworden, und Varn musterte ihn nachdenklich. „Blut, das ist es. Habe ich recht? Die Haut hat dein Blut bereits getrunken und lässt dich nicht mehr los. Sie bestimmt über dich, macht dich zu ihrem Werkzeug. Du tust mir fast leid. Deshalb werde ich dich töten und erlösen.“
„Nein“, schrie Hans auf. „Das dürft Ihr nicht. Ihr braucht mich.“
„Dich brauchen? Keiner braucht dich und keiner wird dich vermissen.“ Hans spürte, wie die Haut ihn rief, und seine Gedanken waren jetzt ganz klar. Varn hatte recht, keiner würde ihn vermissen. Sein erbärmliches Leben war noch erbärmlicher geworden, seit er es mit der Haut teilte. Er musste Varn überzeugen, dass er um der Haut willen am Leben bleiben musste.
Er sah sich selbst, wie er die Haut nach dem Trocknen zum letzten Mal mit einem halbmondförmigen Messer glättete, um dem Stück auf der ganzen Fläche eine gleichmäßige Dicke zu geben. Sein Meister war hinzugekommen und hatte ihm erklärt, das Werkzeug würde Lunellum genannt von den Mönchen. Dann erklärte er ihm, dass die Oberfläche des Pergaments zum Beschreiben auch noch präpariert werden müsse, was die Mönche aber selbst machten, da jeder sein eigenes Rezept habe. Auf Hans’ neugierige Fragen erzählte er, ein Mönch habe ihm anvertraut, statt des gängigen Pergamentleims, einen Leim aus der getrockneten Schwimmblase des Störs zu verwenden. Andere rauten es mit Bimsstein auf und rieben Kreide ein, und manche schworen auf Harze vom Kirsch- oder Pflaumenbaum oder bestrichen es mit einer dünnen Eiweißlösung. Ein für besondere Zwecke vorgesehenes Pergament konnte man auch einfärben mit Safran, Grünspan oder Indigo.
Dann kam es darauf an, die für das Bindemittel oder die Farbe geeignete Tinte zu benutzen, denn nicht alle Substanzen vertrugen sich. Das war es! Natürlich, warum hatte er nur nicht früher daran gedacht?
Hans richtete sich auf und sah Varn furchtlos in die Eisaugen. „Doch Meister Varn, Ihr braucht mich. Wer sonst könnte Euch das Pergament mit dem richtigen Bindemittel zum Beschreiben vorbereiten, damit genau die Substanz, mit der Ihr darauf schreiben werdet, das vollbringt, was Ihr begehrt?“
Nachdenklich sah Varn ihn an. Er sah das Blitzen in Hans grünen Augen, die seinem Blick jetzt standhielten. Er sah weder Lüge noch Heimtücke, nur den Herzenswunsch in der Nähe der Haut bleiben zu dürfen.
„Schwörst du, der Haut und mir zu dienen und die Haut mit deinem Leben zu schützen?“
„Ja“, rief Hans. „Ich schwöre für die Haut mein Leben zu geben, wenn ich nur bei ihr bleiben darf. Ich werde ihr dienen, und Euch natürlich auch!“
„Dann soll es so sein“, entschied Meister Varn. „Adva, geh zu Meister Siegert. Teile ihm mit, dass der Bub ab jetzt in meinen Diensten steht und gib ihm eine großzügige Ablöse.“
Nachdem Adva gegangen war, erhob sich Varn. „Komm Hans“, er legte ihm schwer eine Hand auf die Schulter und führte ihn aus dem Zimmer. „Ich werde dich jetzt zur Haut bringen und dich in ihre Geheimnisse einweihen.“ Sie stiegen in den Keller des Hauses und von dort hinab in die kalten Felsengewölbe unter dem Burgberg.