Gabriele Stegmeier
Budapest
Karl erwachte in völliger Dunkelheit. Er spürte eine schmerzende Übelkeit. Hunger! Er wollte aufstehen und etwas essen, doch er stieß sofort mit dem Kopf gegen ein Holzbrett. Verwundert tastete er um sich, spürte gleich über und neben sich Holzwände. Sein Herz raste plötzlich, und er atmete keuchend. Sein Gehirn reagierte langsamer als sein Körper. Erst nach und nach wurde ihm klar, dass er in einem Sarg lag, in einem Grab, tief unter der Erde. Er war tot.
Aber er war nicht gestorben, er erinnerte sich nicht, gestorben zu sein. Es war alles ein schrecklicher Irrtum, er lebte doch. „Warum muss immer mir so etwas passieren, verdammt noch mal?“, fluchte er. Sollte Liese etwa recht behalten? Sie hatte ihm dauernd gesagt, er solle nicht fluchen, das sei gotteslästerlich. Der Herr würde sich das nicht gefallen lassen, sondern die Sünder mit seinem Schwert richten. Vorsichtig tastete er seinen Hals ab; der Kopf war noch dran. Also hatte Gott zumindest nicht sein Schwert genommen. Er gelobte inbrünstig von jetzt an ein gottgefälliges Leben zu führen, insbesondere nie mehr zu fluchen und sonntags zur Messe zu gehen, würde dieser ihm nur helfen, aus dem Grab raus zu kommen.
Mit dem Kopf, mit Händen und Füßen trommelte er wild gegen die Holzplanken des Sargs. Als nichts geschah, hielt er schluchzend inne. Tränen strömten ihm aus den Augen, Rotz lief aus der Nase und aus seiner Kehle kamen wimmernde Laute. Nur langsam beruhigte er sich, doch schließlich wischte er die letzten Spuren seines Panikanfalls aus dem Gesicht. Zu seiner Überraschung war der Sarg jetzt in ein diffuses rotes Licht getaucht. Er sah den Deckel gleich über sich und mit etwas Anstrengung konnte er das Ende der Kiste samt seinen Füßen erkennen. Sein Blick fokussierte sich auf eine Ritze zwischen Deckel und Sarg.
Jenseits dieser Spalte und über dieser Erde war die Freiheit. Er quetschte den Daumen in den Schlitz, versuchte, den Deckel hochzudrücken. Als etwas Erde nach innen rieselte, glaubte Karl, die Ritze ein bisschen vergrößert zu haben. Er schob noch andere Finger nach und spürte leicht feuchtes, körniges Erdreich. Während er noch verzweifelt überlegte, welchen Sinn es mache, wenn weiter Erde in seinen Sarg falle, er jedoch den Spalt nicht vergrößern könne, fühlte er, wie er sich verformte. Es begann bei den Fingern, die er durch den Schlitz gesteckt hatte; sie wurden länger, dünner, arbeiteten sich nach oben vor. Seine Hand rutschte wie von selbst durch den Spalt, der Arm folgte. Es war, als bestünde sein Körper nur aus einzelnen staubfeinen Partikeln. Alle diese Teilchen kannten nur ein gemeinsames Ziel: nach oben. Sie suchten den Weg des geringsten Widerstands, schlängelten sich um Hindernisse. Er ahnte, wie seine Hand die Oberfläche durchstieß, die zweite Hand folgte, dann der Kopf und der Rest seines Körpers. Er richtete sich auf, spürte, wie seine Gestalt sich wieder verdichtete, betastete fasziniert sein eigenes Fleisch.
„Liebe Jungfrau Maria, alle Heiligen, was geschieht mit mir? Helft mir!“ Doch sein Ruf verhallte ungehört auf dem nächtlichen Friedhof. Er füllte seine Lungen mit frischer Luft und wandte sein Gesicht dem tief stehenden Vollmond zu. Dann tauchte er mit erhobenen Armen in sein Licht und tankte neue Kraft.
Es war ein langer Weg vom Kerepesi Friedhof in Pest nach Buda, wo er zu Hause war. Doch die Straßen und Gassen waren menschenleer, sodass er zu laufen begann, weil sein Hunger immer überwältigender wurde. Er erinnerte sich, er war vor kurzer Zeit schon einmal so gerannt, damals allerdings nicht vor Hunger, sondern in Todesangst. Verzweifelt versuchte er, sich zu entsinnen, was geschehen war, warum er solche Angst gehabt hatte. Da war viel Palinka gewesen, sie hatten getrunken und gesungen. Als er gehen wollte, zauberte János eine weitere Flasche Palinka aus seinem Gewand und Attila überredete ihn, einen letzten Schluck zu nehmen, und noch einen, und noch einen.
Auf seinem Nachhauseweg von der Arbeit waren die beiden wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten ihn nach dem Weg zum Platz Clark Adam befragt. Sie waren ins Gespräch gekommen und schließlich standen sie alle mitten auf der Kettenbrücke, und er erklärte ihnen die Gebäude, die die Donauufer säumten.
In seiner Erinnerung zog Nebel über der Donau auf. Zuerst nur einige durchsichtige Schwaden, wabernd über den leisen Wellen des Flusses. Dann jedoch verdichteten sie sich, stiegen höher, ließen die Laternen am Donauufer trüber werden und verschlangen sie schließlich. Als der Nebel sie dann erreichte, war er so dick, dass Karl glaubte, ihn mit seiner Hand teilen zu können. Seine Finger berührten die Nebelwand und zuckten sofort zurück, so kalt war sie. Seine ganze Hand fühlte sich wie gelähmt an. Er umfasste die eiskalten Finger mit der anderen Hand und sah sich nach Attila und János um.
„Was zur Hölle …“, der Satz blieb unausgesprochen auf seine Zunge liegen, als Attilas wutverzerrte Gesichtszüge im Nebel vor ihm auftauchten. Seine Augen glühten wie feurige Kohlen, und sein Mund entblößte lange, bleiche Eckzähne umrahmt von blutroten Lippen. „Dracul, Dracul, der Teufel, der Teufel“, schrie Karl und wollte wegrennen. Er prallte jedoch gegen János, der ihn festhielt, und ineinander verkeilt stürzten beide zu Boden. Eine Zeit lang rangelten sie planlos. Karls Herz hämmerte wie ein Dampfkessel kurz vor der Explosion, und er betete immer wieder einen Satz: „Heilige Mutter Gottes, beschütze mich vor dem Teufel.“ Plötzlich wurde er hochgerissen, hing an Attilas ausgestrecktem Arm, während seine Füße verzweifelt nach Boden suchten. Dann umklammerte János ihn von hinten, lange weiße Reißzähne blitzten auf und alles wurde rot. Rot vor Blut. Sein Blut? War er verblutet?
Karl beeilte sich, die Kettenbrücke so schnell wie möglich zu überqueren. Weit und breit war kein Nebel zu sehen, die Donau lag ruhig unter einem Sternenhimmel. Trotzdem konnte er nicht vermeiden, dass sein Herz heftiger pochte und sich neben dem Hunger ein mulmiges Gefühl im Bauch breitmachte. Mehrmals sah er hinter sich, in der angstvollen Erwartung, Attila und János zu erblicken. Aber die Brücke war leer. Trotzdem war er froh, als er auf der Budaer Seite nach links an der Donau entlang laufen konnte. Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Hause. Liese würde schon warten, er war spät dran.
Die Haustür führte direkt in die gute Stube. Sie saß am Tisch, den Kopf auf eine Hand gestützt. Ihr braunes Haar war straff zurückgekämmt zu einem Knoten und mit Verwunderung bemerkte er im schwachen Licht der Petroleumlampe, dass es von silbernen Strähnen durchzogen war.
„Es tut mir leid, Liese“, setzte er an, als sie mit einem Schrei aufsprang, sich in eine Ecke der Stube drückte und ihn aus weit aufgerissenen Augen ansah.
„Karl, bist du es? Aber wir haben dich doch gestern begraben. Wieso bist du hier? Bei allen Heiligen, beschützt mich.“ Sie sank auf die Knie und hob flehentlich die Arme. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr. „Liese, meine Liebe, hab keine Angst. Ich bin hier, ich lebe. Es geht mir gut. Ich habe nur furchtbaren Hunger.“
„Bist du es wirklich, Karl? Du siehst schrecklich aus …“
„Genug der Worte, Weib, ich habe Hunger“, brüllte er. Sie sprang verschreckt auf, griff den Brotkorb und das große Brotmesser und stellte beides auf den Tisch. Dann ging sie in die Speis, brachte ein Stück Schinken, eine Salami und Butter. Karl saß schon am Tisch, hatte eine dicke Scheibe Brot abgeschnitten und biss nun in die Salami. Das Brot stopfte er sich hinterher in den Mund und kaute heftig. Im nächsten Augenblick spürte er einen ekelhaften Brechreiz, die soeben runtergeschluckten Brocken wollten wieder nach oben, und er begann zu würgen.
„Was zum Teufel – das Zeug ist ranzig, widerlich!“, er spuckte alles aus, während Liese beruhigend seinen Kopf streichelte. „Das kann nicht sein, mein Gemahl, ich habe die Sachen erst gestern gekauft.“ Er wandte sich ihr zu, sah das geliebte Antlitz und spürte eine Gier in sich, unbekannt, verwirrend, überwältigend. Sein Blut rauschte in seinem Kopf, als er sie packte und an sich zog. Sie wehrte sich kurz, gab nach, als seine Lippen die ihren fanden. Er biss sie in die Lippe, schmeckte ihr warmes, süßes Blut. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte ihn. Er zog ihren Körper noch näher an seinen. Mehr, er brauchte mehr. Wild und unkontrolliert biss er immer wieder zu, in ihre Lippen, ihre Zunge, ihre Wangen. Ihre panischen Schreie gellten in seinen Ohren und heizten sein Blut an. Wie im Rausch biss er weiter, fand ihre Halsschlagader, spürte ihr Blut sprudeln und trank gierig. Wie ein Déjà-vu zuckte es durch sein Gehirn. Zähne, die sich in seine Halsschlagader bohrten, der Schmerz als Attila zu saugen begann, dann das Gefühl, alles habe seine Richtigkeit. Er gab sein Blut für eine große Sache und werde seine Belohnung erhalten. Der Frieden, der ihn überkam, als er sich ganz Attila hingab und fühlte, wie sein Blut diesem neue Kraft verlieh.
Er nahm einen großen Schluck aus Lieses Ader, das Blut begann weniger zu werden. Als ihm klar wurde, dass er sie ausgetrunken hatte, ihr bleiches Gesicht vor seinen Augen, brüllte er in ohnmächtigem Gram. Was hatte er getan? Er hatte sein geliebtes Weib gebissen und getötet! Hatte ihr Blut getrunken und fühlte sich stark und mächtig. Er war ein Teufel, ein Dracul!
Während Karl schluchzend und unfähig zu denken seine geliebte Liese in den Armen wiegte, stürmten Attila und János auf der Suche nach ihm durch Buda. „Ich kann ihn immer noch riechen, schwach, aber sein Menschengestank ist weiterhin vorhanden.“ Attilas Nasenflügel blähten sich, als er nach links deutete. Sie hatten Karls Spur auf dem Friedhof wieder aufgenommen.
Diesmal war auch alles schief gelaufen. Zuerst mussten sie das Austrinken dieses Geschöpfes abbrechen, weil eine Horde äußerst gut gelaunter, singender Studenten die Kettenbrücke stürmte. Sie fanden Karl, lasen ihn auf und brachten ihn in die Obhut der Schwestern von St. Josef und der Heiligsten Jungfrau. Selbstverständlich wollten sie ihr Werk auch dort vollenden, doch dem Hospital war eine Kirche angegliedert, und es wimmelte nur so von Heiligen. Bei ihrem ersten Versuch einzudringen, wurden sie sofort von so einem drittklassigen Heiligen entdeckt, der gleich anfing, wie ein Idiot rumzubrüllen. Das hatte zur Folge, dass Dutzende von Heiligen aus ihren Gruften stiegen und Kreuze, Mauersteine und Weihwasserkessel auf sie warfen. Attila schwor, der heilige St. Josef höchstpersönlich habe ihm einen Dachziegel an den Kopf gedonnert. János beteuerte, die Heiligste Jungfrau habe um die Ecke gelugt, um ihm von seiner Mutter auszurichten, seine Seele sei verflucht. Er solle sofort aufhören, sich weiter mit den heulenden und blutsaugenden Geschöpfen der Nacht herumzutreiben.
Nun wussten die beiden natürlich ganz genau, dass ihre Seelen, falls sie überhaupt noch welche hatten, verflucht waren. Schließlich waren sie seit über einem Jahrhundert Vampire und hatten in Ermangelung der Verträglichkeit anderer Nahrung, Menschenblut zu sich genommen. Dennoch war dieses theoretische Wissen etwas ganz anderes, als wenn man von Oberheiligen mit Steinen beworfen oder mit erhobenem Zeigefinger gerügt wurde. János stammte aus einem winzigen Bergdorf in den Karpaten, wo Babys schon mit Rosenkranz geboren wurden, und so setzte ihm die Maßregelung der Heiligsten ordentlich zu. Aber auch Attila war so verstört, dass er Besserung gelobte und sich dem Hospital nicht mehr zu nähern traute.
Als Dracula sie mit Erde bedeckt und eng aneinandergedrückt auf halber Höhe des Bockbergs in einer Höhle fand, traute er seinen Augen nicht. Aus seinen blutrünstigen Menschenjägern waren mitleiderregende Jammerlappen geworden, die sogar vor seinem Schatten Angst hatten. Gut, sein Schatten war Furcht einflößend, aber das erschien ihm nun doch übertrieben. Er machte die beiden gehörig zur Schnecke und entzog ihnen Privilegien, wie zum Beispiel die Teilnahme an der nächsten Schlossparty. Dann hielt er ihnen einen Vortrag über das Magiergeschmeiß, das es gälte, zu beherrschen, allen voran Meister Varn, dessen erklärtes Ziel es sei, alle Vampire auszurotten. Zum Schluss sprach er noch die schlimmste Drohung aus, die ihm einfiel: „Ich will die Haut dieses Geschöpfes. Mit ihrer Hilfe werde ich Varn kontrollieren und den Genozid an unserer Rasse verhindern. Wenn ihr versagt, werde ich euch eigenhändig pfählen!“
Dracula hob bei seinen Worten theatralisch die Arme mit seinem Umhang, sodass er den Höhleneingang völlig verdunkelte. Er ließ seine Pupillen rot funkeln, zeigte seine mächtigen Eckzähne und zischte eisigen Nebel in die Höhle. Die Vorstellung verfehlte ihre Wirkung nicht. Zwar schlotterten Attila und János wieder vor Furcht, aber gegen den Zorn ihres Herrn erschienen ihnen die Flüche von hundert Heiligen wie ein lästiger Flohstich verglichen mit einem Pfahl durch ihr Herz. Panisch rannten sie zum Hospital, um zu erfahren, dass Karl gestorben und bereits beerdigt sei. Sein Grab hatten sie leer gefunden und die Verfolgung aufgenommen.
„Hier muss es sein“, Attila sog die Luft tief durch eine Haustürritze ein. Auch János schnupperte. „Es riecht nach frischem Blut. Mann, hab ich Hunger!“ Er fuhr seine Eckzähne aus und geiferte vor Verlangen. „Reiß dich zusammen“, zischte Attila. „Jetzt wird nicht getrunken. Zuerst erledigen wir unseren Auftrag.“ „Aber ich bin doch so hung …“ mitten im Wort brach János ab, als Attila ihm den Arm um den Hals schlang und zudrückte. „Wenn du nur einen Tropfen leckst, stoße ich dir eigenhändig einen Pfahl durch dein nutzloses Herz. Reiß dich zusammen! Wenn er Menschenblut getrunken hat, ist er jetzt stark. Wir werden unsere ganzen Kräfte brauchen, um ihn zu überwinden.“ „Ja doch, ja doch“, quetschte János nach Luft ringend hervor.
Attila ließ ihn los, verpasste ihm jedoch sicherheitshalber noch einen Hieb mit dem Ellbogen in die Rippen, der János japsen ließ. Dann trat Attila gegen das Schloss, die Tür sprang auf und sie stürmten in das Haus. Sofort stürzten sie sich auf Karl, der noch immer mit Liese in den Armen auf dem Boden saß. Attila umklammerte Karls Brustkorb, während János seine Beine unter Kontrolle brachte.
Bevor Karl wusste, was mit ihm geschah, hatten die beiden ihn auf den Bauch gedreht und fetzten sein Totenhemd in Stücke. Zu langsam dämmerte ihm, dass es ihm schon wieder an den Kragen gehen sollte. Als er schließlich mit einem wütenden Aufschrei seine Kräfte mobilisierte, spürte er wie ein Dolch die Haut auf seinem Rücken ritzte. „Das ist ein schönes großes Stück, zieh es ab, János.“ Der Schmerz, der nun folgte, nahm ihm Luft und Wut. Er meinte, sein Rückgrat würde Wirbel für Wirbel entfernt. Er hoffte, ohnmächtig zu werden, aber der Schmerz wurde brennender und ließ seinen ganzen Körper zittern. Als Karl glaubte, die Qual könne nicht mehr größer werden, öffnete eine neue Welle die Pforten der Hölle, und er betete schluchzend darum, sterben zu dürfen. Doch Gott erhörte seine Bitte nicht, und er wusste plötzlich, Gott würde ihn nie wieder hören. Er war verflucht!
„Geschafft!“, János hielt ein rechteckiges, bluttriefendes Hautstück in der Hand, und Attila ließ Karl los. „Das war echte Knochenarbeit“, schnaufte er. „Lass uns schnell verschwinden, bevor noch neugierige Nachbarn hier auftauchen.“ „Was machen wir mit dem da?“ „Lass ihn liegen, entweder er überlebt, oder er geht drauf“, Attila zuckte mit den Schultern.
In diesem Augenblick flog die nur angelehnte Tür auf. Ein Vampir in schwarzem Umhang, gefolgt von einem weiteren Mann, trat in die Stube. „Da habt ihr uns ja die Arbeit schon abgenommen“, ein hämisches Grinsen begleitete die Worte des Vampirs. „Hammerfall, nimm dem Trottel die Haut ab!“
Attila sprang schützend vor János. „Wage es nicht, Igostri, oder du wirst es mit deinem untoten Leben büßen. Keiner bestiehlt den Herrn aller Vampire!“
„Für dich mein lieber Attila, immer noch Graf Igostri! Und dein Herr aller Vampire wird bald der Herr aller Würmer sein.“ Igostri lachte böse. „Sobald sein Name dieses Vampyrus ziert, ist er mein Sklave!“
Während János sich bereitwillig weiter hinter Attila versteckte, schien dieser größer zu werden. Im flackernden Licht der Petroleumlampe näherte sich sein wachsender Schatten bedrohlich Graf Igostri. Dieser zischte: „Hammerfall!“ Und Hammerfall stieß ein unmenschliches Heulen aus, während aus seinen vorgestreckten Händen spitz gebogene Krallen hervor schossen und sein Gesicht sich zu einem geifernden Wolfsrachen verformte. Dann sank er, gepresst von einer unsichtbaren Kraft, auf alle viere. „Werwolf“, wimmerte János hinter Attila, der mit seinen ausgefahrenen Eckzähnen ratlos auf die Verwandlung Hammerfalls starrte.
Inzwischen war es Karl gelungen, sich auf die Knie zu stemmen. Ohne zu denken, entriss er János das Stück Rückenhaut und hetzte in dem Augenblick, in dem Hammerfall und Attila aufeinander lossprangen, mit einem riesigen Sprung durch die Tür. Dabei stieß er Graf Igostri zu Boden. Karl sprintete in Richtung Blocksberg, um sich im dunklen Wald zu verstecken.
Attila und Hammerfall krachten im Sprung zusammen und verbissen sich sofort ineinander. Graf Igostri fluchte wie ein Waschweib und rappelte sich hoch. Dann nahm er János ins Visier. Der griff in seiner Not nach Liese und hielt sie schützend vor sich. Dabei gruben sich seine Zähne in Lieses Halsschlagader, er schmeckte Blut und begann gierig zu saugen.
Attila und Hammerfall waren auf die Erde gestürzt und hatten einander losgelassen, um sich aufzurichten. Gerade als sie wieder aufeinander zu sprangen, wurde Graf Igostri zwischen sie gestoßen. Da er von beiden gleichzeitig gebissen wurde, gellte sein Schrei durch Buda, brach aber abrupt ab, als er in der offenen Tür Meister Varn erblickte.
„Was für ein Durcheinander“, seufzte dieser und gefror mit den Worten „Gela Tempus!“ die Szene ein. Hammerfall konnte noch ein Mal böse knurren, doch dann senkte sich Stille über die gute Stube. Lässig trat Meister Varn in die Stube und sah sich um. „Da frage ich mich wirklich, was ihr hier macht. Kämpft gegeneinander wegen etwas, was gar nicht mehr hier ist.“ Er trat mit dem Fuß nach János, dessen Zähne noch immer in Liese vergraben waren. „Da versteckt sich ein Held Draculas und saugt an einer leer Getrunkenen.“ Er wandte sich der Dreiergruppe in der Mitte zu. „Der große Graf Igostri, der Herr über alle Vampire sein will, hängt gebissen zwischen seinem eigenen Werwolf und einem feindlichen Vampir.“ Varn schüttelte, Traurigkeit vortäuschend, den Kopf. „Ich sollte euch so hier lassen und Dracula rufen. Er würde sich schieflachen bei eurem Anblick. Aber wir haben ja ein anderes Ziel, nicht wahr?“
„Wer würde sich schieflachen?“ Varn schnellte herum. In der Tür stand Dracula. Er war riesig, ging bis zur hohen Decke, und seine Präsenz schien Varn zerquetschen zu wollen.
„Dra … Dra … Dracula“, stotterte Varn und hob den Arm, um einen Vampirbann auszusprechen. Doch dazu kam er nicht mehr. Ein Strom von Energie aus Draculas Augen schmetterte ihn gegen die Wand und ließ seine Knochen ächzen. Dann beschrieb Dracula mit ausgestrecktem Arm einen Halbkreis, und die Zeit lief weiter.
Karl hetzte den Blocksberg hinauf. Er hatte kein Ziel, nur der Gedanke: „Weg von hier!“ beherrschte ihn. Weil er völlig kopflos durch den Wald rannte, stieß er sich öfter schmerzhaft an Bäumen. Schließlich stolperte er und schlug der Länge nach hin. Beim Aufrappeln meinte er, die Umrisse eines großen Baumstumpfes zu erahnen.
„Ich hab mich schon gefragt, wie oft du noch hier vorüber rennst“, kicherte der Baumstamm. Karl plumpste vor Schreck gleich wieder auf den Hintern. Er stierte den Stumpf mit weit aufgerissenem Mund, aus dem kein Ton kam, an. „Na, na, na“, beschwichtigte dieser. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Es rumorte ein bisschen, der Stamm öffnete sich, und ein bärtiger Mann in wallendem Gewand krabbelte heraus. Jetzt erst erkannte Karl, dass der Baumstumpf ein Holzfass war.
„Diogenes?“ Er starrte die Erscheinung fassungslos an. „Nein, nein, ich bin Giorgio di Sagredo“, stellte sich der Mann mit einer leichten Verbeugung vor. „Ich lebe hier, seit sie mich in dieser Tonne den Berg herunter gestürzt haben. Ihr kennt mich auch als Bischof Gellert. Dieser Berg war einmal nach mir benannt, Mons Sancti Gerardi, bevor die Hexen ihre Treffen hier abgehalten haben. Kann ich dir helfen, mein Sohn?“
„Oh, Pater“, sank Karl auf die Knie. „Ich bin verflucht!“ Aufsteigende Tränen verschleierten seinen Blick, und unter Schluchzen haspelte er seine Geschichte herunter. Der Bischof hörte sich alles an, unterbrach ihn kein einziges Mal und fragte zum Schluss: „Bereust du, mein Sohn?“ Karl nickte wortlos. „Dann wird auch Gott dir seine Hand reichen und dich nicht dem Satan überlassen.“ Da der Bischof in Karls Gesichtsausdruck Zweifel sah, fuhr er fort.
„Weißt du, was ich getan habe und wofür ich hier büße?“
„Ich weiß nur, dass unsere Vorfahren Euch getötet haben.“
„Das haben sie, und sie hatten recht. Ja! Schau mich nicht so verblüfft an. Ich war ein Fanatiker. Ich schreckte vor nichts zurück, um deine Vorfahren zu guten Christenmenschen zu machen. Ich predigte die Liebe Gottes mit Schwert und Erpressung. Irgendwann hatten sie dann die Nase voll. Ich hatte Jahrhunderte Zeit, darüber nachzudenken und mich zu läutern. Ich habe mir vergeben und Gott mir auch. Aber nun zu dir. Zuerst müssen wir dich dem Zugriff deiner Verfolger entziehen.“ „Ihr wollt mir immer noch helfen, Pater? Mir, einem Untoten, einem Vampir?“ „Du bist ein Geschöpf Gottes oder glaubst du, er ließe sonst die Existenz von Vampiren in seiner Schöpfung zu? Ich weiß, die offizielle Meinung der Kirche ist völlig anders, aber diese Leute sind auch nur arme Verblendete.“ Bischof Gellert drehte sich um und stieg den Berg, gefolgt von Karl, abwärts.
Als Karl schon Angst bekam, sie würden bald wieder bei der Donau anlangen, stoppte der Pater und begann eine Stelle am Waldboden von Laub und Ästen zu befreien. Darunter zeigte sich eine grob gezimmerte Holztür, die er anhob. Er entzündete eine harzige Fackel und leuchtete den Gang, der in einer runden Ausbuchtung endete, aus. „Hier kannst du erst mal bleiben, sie werden dich in diesem Versteck nicht finden. In ein paar Tagen, wenn sie alle verschwunden sind, komme ich wieder. Jetzt gib mir deine Haut. Ich werde sie draußen verbrennen, damit keiner sie jemals finden und missbrauchen kann.“
„Pater, bitte segnet mich.“ Karl kniete nieder. Bischof Gellert hielt schnell eine Hand über seinen Kopf und murmelte hastig: „Ego te abolo, in nomine patris et filii et spiritu sancti!“1 Er schlug lässig ein Kreuz und nahm ihm die Haut ab. Karl sank erschöpft, aber erlöst zu Boden.
„Wagt es bloß nicht, euch zu bewegen“, donnerte Dracula, als die Starre von den Gefrorenen abfiel. „Du“, er deutete auf Graf Igostri. „Mach dich auf und finde diesen Vampirneuling. Bring mir seine Haut oder mein Zorn wird dich treffen, dass du dir wünschst, in der Hölle gevierteilt und gebraten zu werden.“
Igostri schluckte schwer. Er rieb sich verstohlen die Bisswunden auf beiden Halsseiten. Er fühlte sich kraftlos. „Ich werde mein Bestes tun, Herr“, brachte er endlich hervor und verließ die Stube. Draculas Augen fixierten Attila. „Folge ihm“, sagte sein Blick, und Attila machte sich erleichtert lautlos davon.
„Ich könnte dich töten, Varn, aber ich könnte auch davon absehen, wenn du einen Auftrag für mich erledigst.“ Varn brachte es fertig, Dracula in die Augen zu sehen. „Ich bin schwerlich in der Lage, dir einen Wunsch abzuschlagen. So sag, welchen Auftrag du für mich hast, und ich werde ihn gewissenhaft erfüllen.“
„Natürlich wirst du das, nachdem du jede Hexe auf dem Blocksberg gefickt hast …“ „Graf Dracula …“ „Halt die Klappe, Varn! Wir wissen beide, dass das der Wahrheit entspricht. Geh zu deinen Hexen und finde heraus, wo dieser Typ sich versteckt. Ich traue Igostri nicht. Ich traue auch dir nicht, aber wir werden sehen, wer von euch beiden mit dem Leben bezahlt und wer in meiner Gunst weiter existieren darf. Geh jetzt!“ Varn verließ den Raum, und auf eine Kopfbewegung Draculas folgte ihm János ängstlich.
Übrig blieb Hammerfall, der inzwischen vor Dracula saß und leise hechelte. „Was soll ich jetzt mit dir machen? Ich liebe die Kinder der Nacht, ihr seid meine treuen Gefährten und Verbündeten. Aber du bist abtrünnig, folgst Igostri.“ Hammerfall ließ schuldbewusst den Kopf hängen, brachte es dabei aber fertig, einen reumütigen Dackelblick auf Dracula zu richten. „Gelobst du Besserung?“ Hammerfall japste mit weit heraushängender Zunge Zustimmung. „Dann lauf und bring mir diese Haut, sonst sind wir alle verloren …“
Bischof Gellert verließ Karl in der Höhle, drückte gewissenhaft die Tür auf die Öffnung und warf Laub und Äste darauf. Am Schluss wuchtete er einen mächtigen Felsbrocken über ein Eingang. In diesem Augenblick erschien der Vollmond über den Baumwipfeln und warf harte Strahlen auf die Lichtung. Bischof Gellert stand stocksteif, als er von ihnen getroffen wurde. Karls Haut fiel ihm aus der Hand, als diese sich öffnete, länger wurde und endlich eine behaarte Pfote war. Auch des Bischofs andere Knochen knackten, wurden verformt und verbogen. Seine Kutte riss und rutschte zu Boden. Als die Verwandlung zu Ende war, konnte man nur noch an den zu langen Haaren seiner Wolfsschnauze erkennen, wer er war. Mit spitzen Zähnen nahm er die Haut auf. Er musste sie sofort in Sicherheit bringen.
Als er sich umdrehte, stand ein riesiger Wolf vor ihm. Es war zu spät. Ohne den Versuch, Widerstand zu leisten, auch nur in Erwägung zu ziehen, ließ er die Haut fallen und kauerte sich demütig nieder. Hammerfall knurrte ihn an, und mit eingezogenem Schwanz rannte der bischöfliche Werwolf panisch davon. Hammerfalls triumphierendes Geheul erschallte über Budapest. Dann nahm er die Haut und lief mit mächtigen Sätzen in die nächtliche Stadt. In seinem Versteck verwandelte er sich wieder in einen Menschen. Er zog sich an und verbarg die kostbare Haut an seinem Körper. Den Bahnsteig erreichte er, als der Morgenzug nach Wien einfuhr.
1 Korrekt müsste es heißen: Ego te absolvo, in nomine patris et filii et spiritu sancti! Bischof Gellert verwendet „abolo“, was eine schludrige Aussprache von „aboleo“, ich vernichte, ist.