Gerhard Schmeußer

Schützt die Vampire!

Jeder kennt das: Man will im Supermarkt einkaufen, geht nichts ahnend durch die automatischen Glastüren und dann blockiert irgendein Informationsstand den Eingang. So ein Kasten auf Rädern mit einem Gestell oben drauf, auf dem das Logo irgendeiner Organisation prangt. Da geht es dann um herrenlose Tiere, die Verschmutzung der Meere oder Waisenkinder in Russland. Auf einem improvisierten Tresen liegen kleine Stapel mit Flugblättern, die kein Mensch mitnimmt. Normalerweise versuche ich dann immer einen Moment abzupassen, in dem jemand anderes näher an dem Stand vorbei läuft, um mich dann in dessen Deckung hastig vorbeizudrücken. Und bloß nicht angesprochen werden, denn ich kann einfach nicht unhöflich sein.

Doch der Stand, der an jenem Tag aufgebaut war, sah ungewöhnlich aus. FPVT stand da mit riesigen Buchstaben. Als ob jeder wüsste, was FPVT heißt, wie wenn da ADAC gestanden hätte. Das war schon extrem selbstbewusst. Und der Aufbau war links und rechts mit Knoblauchgirlanden geschmückt. Und erst der Betreuer! Ein Großvater mit schütteren schwarzen Haaren, Schnurrbart und einer altmodischen Kleidung. Er sah aus, als wäre er gerade der Wildnis Transsilvaniens entsprungen. Bei diesem urigen Anblick hatte ich eine Sekunde zu lange gezögert und schon erntete ich ein „Guten Tag!“ und der Herr lud mich ein, seinen Stand zu besuchen. Sein osteuropäischer Akzent war unüberhörbar. Etwas verlegen trat ich näher in der Hoffnung, dass keiner von den Nachbarn gerade vorbei kam und mich sah. Ich nahm mir fest vor, nur ein paar unverbindliche Worte zu wechseln und zu sehen, dass ich wegkam.

„Glauben Sie an Vampire?“, sprach mich der Mann an. Ich dachte zuerst an einen Witz, aber die Frage war offenbar völlig ernst gemeint. Ein wenig verärgert verneinte ich.

„Aber Sie existieren“, versicherte er mir voller Ernst. Ich war völlig verblüfft. „Haben Sie jemals einen lebendigen Wal gesehen? Wohl nicht, und trotzdem glauben Sie an deren Existenz genauso wie an die der fernen Planeten. Wenn Ihnen ein Physiker etwas über unsichtbare Teilchen erzählt, glauben Sie es. Warum? Weil diese Leute wissenschaftlich arbeiten. Und wenn ich Ihnen versichere, dass wir von der FPVT ebenfalls streng wissenschaftlich arbeiten, würden Sie dann anders denken? Warum existieren so viele Sachbücher zum Thema Vampirismus? Ich kann Ihnen sagen, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema würden in einer Bibliothek meterweise Regale füllen! Nur sind sie alle in slawischen Sprachen verfasst und deshalb in Ihrem Land kaum beachtet. Glauben Sie mir, ich habe schon viele Vampire gesehen und sie sind so real wie Sie und ich. Wir haben hier nur diesen kleinen Stand, aber in unserer Heimat, Rumänien, sind wir eine bekannte und anerkannte Institution!“

Die Knoblauchdekoration veranlasste mich dazu, ihm die ironische Frage zu stellen, ob es darum ginge, wie man sich besser vor Vampiren schützen könne. Nur fügte ich hinzu, gäbe es leider hierzulande keine Vampire.

„Richtig! Genauso wenig wie Eisbären und Tiger. Aber das liegt nur daran, dass wir Ihnen das Problem seit Jahrhunderten vom Hals halten. Sicher erinnern Sie sich an den Eisernen Vorhang. Es wurde verbreitet, sein Zweck wäre gewesen, die Bevölkerung davon abzuhalten, massenweise in den Westen abzuwandern. Sozialistische Paranoia etc. Ich sage Ihnen, was er in Wirklichkeit war: eine Lüge, aber eine notwendige Lüge, da niemand die Wahrheit geglaubt hätte. Oder, wenn man die Wahrheit gewusst hätte, wäre die Folge eine Massenhysterie gewesen. Der Eiserne Vorhang war ein Schutzwall vor dem Vampirismus, der auf Wunsch des Westens errichtet wurde! Und dass er nicht mehr existiert, ist heute ein Problem! Noch halten wir von der FPVT die Grenzen mühselig für Vampire dicht. Wir tun dies, weil wir überzeugt sind, dass der Rest Europas mit den Vampiren überhaupt nicht zu Recht käme.

Sehen Sie, bei uns hat der Vampirglaube Tradition, er ist seit Jahrhunderten fest in unserer Geschichte verankert. Die Menschen wachsen praktisch damit auf. Wenn in einem Dorf ein Vampir umgeht, wissen sich die Leute zu helfen. Und außerdem sind Vampire völlig anders, als Sie sich vorstellen.“

Ich wollte wissen, wie er das meinte.

„Zunächst, sie sind nicht so schlimm, wie allgemein verbreitet wird. Ich würde sie aber auch nicht als harmlos bezeichnen. Vampire können böse und tödlich sein. Und natürlich fordern sie auf ihrer Jagd nach Blut ein paar Opfer. Aber tun das nicht auch Raubtiere?“

Ich fragte mich langsam, warum mein Gegenüber Vampire ständig in die Nähe bedrohter Tierarten stellte. Also sei die FPVT eine Tierschutzorganisation, folgerte ich.

„Nicht Tierschutz, sondern Vampirschutz!“ berichtigte mich der Mann und seufzte.

„Ja, so ist der Mensch. Rottet die Wölfe und Bären aus und auch die Vampire … Dabei sind Vampire intelligente Wesen. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs hat Scharen von selbst ernannten Van Helsings und Doc Sewards zu uns gebracht. Diese Leute metzeln gnadenlos alles nieder, was kein Spiegelbild hat. Und dabei war es im neunzehnten Jahrhundert, als der echte Van Helsing unterwegs war, noch gefährlich, es direkt mit einem Vampir aufzunehmen. Aber sehen Sie heute: Jedermann kann sich eine Hightech-Ausrüstung kaufen und damit auf Vampirjagd gehen. Gegen die Schnellfeuer-Armbrüste, die Magnesium-Granaten und die elektronischen Dämonen-Detektoren sowie die bissfeste Schutzkleidung haben die armen Blutsauger keine Chance mehr.“

Ich wandte ein, dass Van Helsing eine fiktive Figur aus Bram Stokers Roman Dracula sei.

„Ja, die Handlung ist erfunden! Aber der Roman beruht auf Tatsachen!“ konterte der Standinhaber. „Glauben Sie, Stoker hätte sich das alles einfach so ausdenken können? Natürlich hat er ausführlich recherchiert und Fachleute hinzugezogen. Ja man munkelt, dass ihm der kleine Bruder Draculas, ein gewisser Mircea, persönlich beiseite gestanden hat.“

Ich musste einräumen, dass ich über diese Frage noch nie nachgedacht hatte. Seine Augen zogen mich derweil in einen hypnotischen Bann. Je länger ich mit dem Mann redete, desto seltsamer wurde mir. Ich fühlte mich unsicher auf den Beinen und Schweiß brach auf meiner Stirn aus.

„Und seit der Entdeckung des Vampyrus hat sich sowieso alles verschlimmert!“ Vampyrus? Dieses Wort hatte ich noch nie gehört.

„Man versucht seine Existenz nicht an die große Glocke zu hängen, deshalb ist es nur bestimmten Kreisen bekannt. Vampyrus ist ein Pergament, das aus der Haut von Vampiren gewonnen wird. Es dient dazu, sich Menschen gefügig zu machen, indem man ihre Namen mit Blut darauf schreibt. Genauer gesagt kann man die Seele eines Menschen darin bannen.“

Dieser FPVT oder wie er hieß, war eindeutig ein Verein von Spinnern. Ich sagte mir, dass ich mich jetzt einfach umdrehen und fortgehen würde. Doch meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Ich sah als Einziges nur noch das Gesicht des alten Mannes vor mir. Ich hörte nur noch seine Stimme.

„Eine DIN-A4-Seite Vampyrus hat einen Marktwert von über hunderttausend Euro. Natürlich sind alle Regierungen scharf auf dieses Pergament, aber nicht nur Regierungen, sondern auch Firmen, Kriminelle und sogar die Kirche.“

Er machte eine Pause, um diese Behauptungen auf mich wirken zu lassen. Ich versuchte mir kurz vorzustellen, wie viele DIN-A4-Seiten man wohl aus einem Vampir schneiden konnte.

„Wann wurde Ihnen zuletzt Blut abgenommen?“

Schon wieder so eine Fangfrage! Widerwillig gestand ich, dass ich erst vor einem Monat Blut gespendet hatte.

„Wer sagt Ihnen, dass nicht jemand hinterher Ihren Namen damit auf Vampyrus schreibt?“

Verzweifelt schnaufte ich laut aus. Ich konnte langsam nicht mehr und der Geruch des Knoblauchs ließ meinen Magen revoltieren.

„Und nicht nur, dass die natürlichen Vampirbestände wegen des Vampyrus dezimiert werden! Seit einiger Zeit werden regelrechte Vampirfarmen betrieben, um die Nachfrage für das kostbarste Schreibmaterial der Welt zu befriedigen! Stellen Sie sich vor, Vampire werden unter unwürdigen Bedingungen gezüchtet, um ihnen die Haut abzuziehen! Wir haben Beweise, vor allem in Fernost! Hier, wenn Sie sich diesen Ordner ansehen wollen? Ich muss Sie aber warnen, die Bilder sind nichts für schwache Nerven.“

Ich winkte schwach ab.

„Und das ist nur das herkömmliche Vampyrus, bei dem man immerhin noch Blut des Opfers braucht. Bald soll das Super-Vampyrus auf den Markt kommen. Super-Vampyrus funktioniert mit jeder beliebigen Körperflüssigkeit, man braucht also nicht unbedingt Blut. Das mag noch kein großer Fortschritt sein, da es immer noch ein gewisses Hindernis darstellt, zum Beispiel Schweiß oder Speichel einer Person zu bekommen. Doch die nächste Stufe ist bereits in Vorbereitung. Es heißt, in den Labors arbeitet man schon am Ultra-Vampyrus. Es wird angeblich aus gentechnisch veränderten Vampiren gewonnen, finden Sie nicht auch, dass das zu weit geht? Das Ultra-Vampyrus soll von normalem Papier nicht mehr unterscheidbar sein und kann mit jedem beliebigen Kugelschreiber beschrieben werden! Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Würden Sie sich noch trauen, irgendein Papier zu unterschreiben, ohne Angst haben zu müssen, ihre Seele zu verkaufen?“

„Und deshalb setzt sich die Frontul Popular Vampir Transsilvan für eine Schutzbestimmung für Vampire ein, natürlich auf europäischer Ebene, mit festen Abschussquoten und Reservaten. Schon bald haben wir das Geld für den Erwerb der ersten Burg zusammen, die dann den Vampiren überlassen wird. Die wird dann mit Knoblauchfeldern und Kapellen eingezäunt, damit die Vampire in ihrem Schutzgebiet bleiben. Wir fangen verirrte Vampire ein und bringen sie in das Reservat, wo sie natürliche Lebensbedingungen vorfinden. Die Produktion von Vampyrus wird international verboten. Wenn Sie uns unterstützen wollen, dann unterschreiben Sie hier auf dieser Petition an das Europäische Parlament!“

Er hielt mir ein Blatt hin, auf dem einige Namen und Unterschriften in roter Tinte gekritzelt waren. Dabei starrte er mir unter seinen dicken Brauen direkt in die Augen. Mein einziger Gedanke war, dass wenn ich ihm den Gefallen täte, er mich endlich gehen lassen würde. Automatisch nahm ich den altmodischen Füller entgegen, den er mir hinhielt.

Ein kleiner stechender Schmerz zuckte durch meinen rechten Zeigefinger und ich sah, wie ein Blutstropfen die Rille der vergoldeten Schreibfeder hinunterlief und einen winzigen Tropfen bildete. Ich senkte die Feder bereits auf das etwas seltsam anmutende Formular, das dicker und glatter war als normales Papier. Da riss mich das Klingeln meines Handys aus der Trance.

Das war ja die Höhe, ein übler Trick durch Hypnose eine Unterschrift zu erschleichen! Empört schmetterte ich Papier und Füller hin und nahm meinen Zeigefinger in den Mund, um das Blut aufzusaugen, das aus der kleinen Verletzung quoll, die ich mir mit dem Füller zugezogen hatte. Unbeholfen drehte ich mich um und stolperte von dem Stand weg. Nur weg, weg, ins Getümmel der Kunden. Sie würden mich vor diesem Wahnsinnigen beschützen! Gehetzt blickte ich mich um. Alles war wieder normal. Der Obst- und Gemüsestand neben dem Brotregal. Das gleichförmige Licht der Neonleuchten und das Gemurmel der Kunden. Eine Frau mittleren Alters schob ihren Einkaufswagen an mir vorbei und sah mich prüfend an, ob es mir wohl gehe. Der Mann von der FPVT stand hinter seinem Stand und lächelte mich an, als sei nichts gewesen. Es war, als hätte ich mir das alles soeben nur eingebildet. Nur seine Eckzähne fand ich irgendwie außergewöhnlich.