Doreen Kühne & Peter Hellinger
Diebstahl
Schritte hallten von den Steinmauern der Burg Bran wider, als eine vermummte Gestalt durch den langen, nur mit Fackeln erleuchteten Gang des alten Gemäuers eilte. Er blieb stehen und spähte links und rechts den Gang hinab. Stille umfing ihn. Entschlossen drückte er auf eine bestimmte Stelle der Wand, vor der er stand. Irgendwo im Inneren mahlte Stein auf Stein, dann öffnete sich die Geheimtür. Mit raschelnden Gewändern trat der Vermummte hindurch. Hinter ihm schloss sich die Geheimtür. Nur das leise Knacken der Fackeln im Gang war noch zu hören.
Behaglich drückte sich Anastasia, die lieber Anastas genannt werden wollte, tiefer in den bequemen Sessel vor dem Kamin und betrachtete im Licht des langsam niederbrennenden Feuers das fein geschnittene Gesicht ihres Gefährten Valerius, der ihr im Sessel gegenübersaß. „Ein Dieb! Zu Hilfe!“ Anastas und Valerius fuhren erschreckt hoch. Das war doch die kratzige Stimme des Bibliothekars? Sofort sprangen beide auf und rannten aus dem Kaminzimmer auf den Gang hinaus. Valerius wies nach rechts und beide hasteten dem Geschrei entgegen. Durch eine offen stehende Geheimtür, die ihnen nie zuvor aufgefallen war, traten sie in einen Raum, in dem unzählige Regale voll mit dicken, in Leder gebundenen Folianten, uralten Schriften und zahllosen Pergamentrollen standen. Mit einer knappen Geste bedeutete Valerius seiner Gefährtin zurückzubleiben. Zuerst wollte er selbst nachsehen, was hier vor sich ging.
Der alte Bibliothekar kauerte vor einer Truhe, deren Schlösser offenbar aufgebrochen worden waren. Als Valerius ihm aufhelfen wollte, stammelte er fassungslos „Fort! Einfach fort! Gestohlen!“
„Was ist gestohlen worden, Alter?“, herrschte Anastas, die inzwischen durch die Geheimtür eingetreten war, den Bibliothekar an. „Wie soll hier ein Dieb hereinkommen, wenn Ihr der Einzige seid, dem dies Gemach bekannt war?“
„Das Grimoire! Es ist weg!“ fauchte der Bibliothekar.
„Ein Zauberbuch?“, fragte Valerius.
Der Bibliothekar blickte abwechselnd Valerius und Anastas an, als wüsste er nicht, ober er ihnen trauen könne. Doch wen, wenn nicht diese beiden, sollte er ins Vertrauen ziehen? Waren nicht sie seit vielen Jahren schon die treuesten Diener seines Herrn? Er gab sich einen Ruck. „Nicht ein Zauberbuch, das Zauberbuch, das mächtigste Zauberbuch, das die Welt je gesehen hat!“
Anastas und Valerius warfen sich einen Blick zu.
„Es gehörte einst der Hexe Báthory, die unseren Herrn durch Magie bezirzt hatte“, fuhr der Bibliothekar fort. „Nachdem ihre Liebestränke den Geist unseres Herrn verwirrt hatten, fiel er in einen tiefen Schlaf. Die Hexe nahm eine Athame, eine dünne und sehr scharfe Zeremonienklinge, und schnitt ihm ein Stück Haut aus dem Rücken. Das Blut unseres Herrn fing sie in einer Phiole auf und versteckte es zusammen mit dem Stück Haut an einem sicheren Platz.“ Der Alte hustete und fuhr danach mit seinem Bericht fort. „Wie ihr wisst, kann unser Herr nicht durch normale Waffen verletzt oder gar getötet werden, solcherart Wunden schließen sich einfach wieder. Also wollte die Hexe warten, bis das Stück Haut auf dem Rücken nachgewachsen sei, ehe sie unseren Herrn wieder erweckte.“
Wieder hustete der Alte und Valerius goss ihm einen Kelch voll Wein ein, der in einer Karaffe auf dem Arbeitstisch bereitstand. Dankbar nahm der Bibliothekar das Gefäß, nippte mit geschlossenen Augen und fuhr mit seiner Erzählung fort.
„Doch die besonderen Kräfte, über die unser Herr verfügt, ließen ihn vorzeitig erwachen, und als er bemerkte, was die Hexe getan hatte, kam es zum Kampf zwischen den beiden. Schließlich floh Báthory in höchster Bedrängnis und ließ ihr Hab und Gut zurück. Unser Herr durchsuchte das Schloss der Hexe und fand das Grimoire, welches er mir zur Verwahrung übergab. Nur das Stück Haut und die Phiole mit Blut konnte er nirgends entdecken.“ Wieder hustete der Alte.
„Was macht das Buch denn so gefährlich?“, fragte Anastas und berührte den Bibliothekar an der Schulter, um ihn zum Weitererzählen zu ermuntern. Der nippte noch einmal an seinem Wein und begann wieder zu sprechen.
„Ein Zauberspruch darin ist mächtiger als alle anderen, gefährlich nicht nur für das Geschlecht der Draculea, sondern für jeden, ob Mensch, Magier oder Vampir. Ich kenne den Spruch nicht genau, denn unser Herr verbat mir, das Grimoire je zu lesen. Aber soviel habe ich verstanden: Wer auf die Haut eines Vampirs den Namen einer Person mit deren eigenem Blut schreibt und dabei jene Worte spricht, erlangt für alle Zeit Macht über den Willen dieser Person.“
Valerius warf Anastas einen erschreckten Blick zu und diese entblößte als Antwort ihre spitzen Vampirzähne. „Alter, wisst Ihr, was Ihr da sagt? Wenn dieser Dieb nun Macht über unseren Herrn erlangt …“ Valerius riss den Bibliothekar hoch, sodass dessen Beine in der Luft baumelten und der Weinkelch polternd zu Boden fiel. „Wer hat das Buch gestohlen? Antwortet mir sofort!“
„Ich weiß es nicht!“, wimmerte der Alte, „Vielleicht ein Magier? Nur einem Magier wäre es möglich, unbemerkt in die Festung der Draculea einzudringen …“
„Wir müssen den Dieb finden und das Buch wiederbeschaffen!“ Anastas Stimme klang fest, als sie ihre Hand auf Valerius Arm legte. „Du weißt, was der Fürst mit uns anstellt, wenn er erfährt, wie wenig wir auf seine Schätze achtgaben. Ein Holzpfahl durchs Herz dürfte noch das Angenehmste dabei sein.“ Zum Bibliothekar gewandt zischte sie „Dass Ihr auch nicht das geringste Wort darüber verliert!“
Ängstlich nickte der Bibliothekar, während Valerius ihn wieder auf seine Füße stellte. „Sucht nach einem Magier, vielleicht einem aus dem Geschlecht der Báthory“, flüsterte er, „Ich werde mir für Eure Abwesenheit eine Erklärung ausdenken!“
Valerius blickte den Alten durchdringend an. Zu Anastas gewandt meinte er „Wir haben Reisevorbereitungen zu treffen. Komm!“ Dann verließen die beiden Vampire das geheime Gemach, ohne zurückzublicken.
Zwei Gestalten, zu Pferde und in dunkle Umhänge gehüllt, verließen lange vor Morgengrauen Burg Bran, fest entschlossen das Grimoire wiederzubeschaffen, wie lange es auch dauern und was es auch kosten möge.