Doreen Kühne & Peter Hellinger
Der Buchhändler
Der hochgewachsene Mann mit dem Kapuzen-Sweatshirt und der schwarzen Lederhose blickte den Passanten, der ihn gerade angerempelt hatte, durchdringend an. Bevor der auch nur ein Wort sagen konnte, zog Valerius die rechte Augenbraue hoch. Der Mann schüttelte den Kopf und verschwand im abendlichen Gedränge der Wiener Innenstadt. Valerius öffnete die Tür des Café Alt Wien in der Bäckerstraße und schob sich durch das Gedränge in den hinteren Teil des Lokals. An einem Tisch erwartete ihn eine Frau mit langen schwarzen Haaren, blassem Teint und dunklen, feurigen Augen. Sie trug eine abgewetzte Motorradjacke, eine weiße Bluse und modisch über dem Knie zerrissene Jeans. Valerius setzte sich und lächelte kurz.
„Sag schon, was hast du herausgefunden?“, fragte Anastas ungeduldig und schob die Tasse Kaffee von sich.
„Wir müssen warten“, Valerius zuckte mit den Schultern. „Mein Informant ist sich sicher, dass er die nächsten Tage auftauchen wird. Wir müssen einfach nur bereit sein.“
Anastas nickte und blickte sich wehmütig um. Wie oft waren sie schon in Wien gewesen? Sie hatte aufgehört mitzuzählen. Seit mehr als dreihundert Jahren jagten sie nun hinter dem Buch her. So vieles hatte sich verändert und war doch gleich geblieben. Kriege hatten das Land überzogen, gute Gelegenheiten, sich an frischem Blut satt zu trinken. Doch seit mehr als sechzig Jahren herrschte Friede. Heutzutage fiel es auf, wenn jemand mit den typischen Bisswunden gefunden wurde. Natürlich schob die Polizei das immer auf den gerade grassierenden Vampirkult. In allen Buchhandlungen fand man Romane, bebildert mit zähnefletschenden Vampiren, die irgendwie Valerius und Anastas gar nicht so unähnlich sahen und doch Meilen von der Wahrheit entfernt waren. Seit Mircea, der Bruder ihres Herrn, diesem englischen Schriftsteller die Geschichte von Vlad Tepeş erzählt hatte, hatte sich die Legende wie ein Lauffeuer verbreitet. Nur gut, dass sie hinzugekommen waren, als Mircea gerade diesem Stoker vom geheimen Grimoire erzählen wollte. Nicht auszudenken, wenn auch die Menschen hinter der Macht des Buches herjagen würden!
„So grüblerisch?“, fragte Valerius und Anastas nickte wieder.
„Weißt du, manchmal frage ich mich, was wir tun, wenn wir das Buch wieder haben. So schlecht scheint mir die Welt nicht zu sein. Die Magier verhalten sich unauffällig und die Menschen lieben uns Vampire. Warum also etwas ändern?“
„Ja, sie lieben uns, weil sie glauben, dass wir in der Sonne glitzern oder uns von Kaninchenblut ernähren. Romantischer Kitsch für Spätpubertierende!“, knurrte Valerius. „Aus Schloss Bran haben sie eine Touristenattraktion und aus uns Witzfiguren in Kinofilmen gemacht. Nein, sag nichts, Anastas!“, unterbrach er seine Gefährtin, die gerade etwas entgegnen wollte. „Ich kann und will mich nicht damit abfinden! Wenn erst das Buch wieder in unserem Besitz ist, wird das Geschlecht der Draculea seinen rechtmäßigen Platz in der Geschichte einnehmen, darauf kannst du dich verlassen.“
Anastas seufzte innerlich. Die vielen Jahre hatten Valerius verbittern lassen. Dabei bot das heutige Dasein gerade als Vampir doch ungeahnte Möglichkeiten. Natürlich musste man aufpassen: die Menschen wussten inzwischen viel über Vampire und die Magier ließen nichts unversucht, wenn sie einen aufspürten. Aber ansonsten ließ es sich doch ganz bequem leben in dieser Welt aus Technik und Mythos. Sie lächelte, als Valerius’ Handy klingelte. Auch ihr Gefährte wusste die Segnungen der modernen Welt zu schätzen – solange es ihm von Nutzen war.
„Los gehts!“, sagte Valerius und steckte das Telefon weg. „Der Buchhändler ist da.“ Er stand auf, warf einen Geldschein auf den Tisch und verließ mit Anastas im Gefolge das Café.
Wenige Minuten später folgten sie im Strom der Touristen der Rotenturmstraße und wandten sich an den Kammerspielen rechts zum Fleischmarkt. Zwei Gassen weiter standen sie vor einem kleinen, in die Ecke eines alten Hauses gedrückten Buchladen, dessen Ladenschild mit goldenen Lettern „Erster Wiener Buchladen“ verkündete. Das einzige Auslagefenster war fleckig von Regentropfen und an den Fensterecken hatte sich grauer Schmutz gesammelt. Warmes Licht drang aus dem Fenster auf die Straße. Als Anastas die beinahe magische Aura des Ladens spürte, schauderte sie kurz. Valerius drückte die Klinke herunter und beide traten ein.
„Kommens rein, die Herrschaften!“, rief ein alter Mann aus dem hinteren Teil des Ladens. „Schauen Sie sich nur in Ruhe um!“ Zu beiden Seiten des schmalen Mittelganges standen alte, dunkelbraune Holzregale, die vom Boden bis zur Decke voller Bücher waren. Vorsichtig schlenderten Anastas und Valerius an den Regalen entlang und musterten die Buchrücken. Neben ledergebundenen Folianten mit eindrucksvollen Titeln wie „Die Zauberpflanzen Kleinasiens“ oder „Magische Rituale und ihre Anwendungen“ standen auch kleine handgeschriebene Büchlein, deren Titel kaum zu entziffern waren. Anastas stieß Valerius an und zeigte auf ein Buch. „Vampyre – Mythos oder Wahrheit?“ lautete sein Titel.
„Lass das. Du weißt, welches Buch wir suchen“, knurrte Valerius und Anastas verdrehte die Augen. „Das wird hier sicher nicht so einfach im Regal stehen, oder?“ Valerius nickte und trat an den schmalen Tresen heran, hinter dem der Buchhändler freundlich lächelnd stand. „Wir suchen ein Buch!“, sagte er mit finsterem Unterton in der Stimme und blickte den Buchhändler durchdringend an.
„Wie praktisch, dass dies eine Buchhandlung ist!“, antwortete der Buchhändler und grinste breit.
„Keine Witze, Alterchen!“, zischte Anastas und entblößte dabei ihre Vampirzähne. „Mein Freund hier …“, sie deutete auf Valerius, „kann ziemlich energisch werden.“
Der Händler neigte den Kopf und sagte „Verzeiht, Euer Gnaden, ich hatte nicht erkannt, mit wem ich es zu tun habe. Womit kann ich Euch dienen?“
„Man sagte uns, Ihr seid im Besitz eines ganz speziellen Buchs, einem Grimoire, sehr alt und sehr wertvoll.“
„Nun, alt und wertvoll sind die meisten Bücher hier. Habt Ihr denn einen Titel, Euer Gnaden?“
„Du weißt ganz genau, welches Buch wir meinen!“, grollte Valerius und zog den Buchhändler am Kragen hoch, sodass seine Füße etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden hingen. „Das Potencia Vampyri! Wo ist es, Alter? Besser du rückst es heraus, bevor das hier hässlich wird, sehr hässlich!“
Der Buchhändler zappelte herum. „Lasst mich los, dann kann ich Euch Auskunft geben!“ Valerius ließ ihn los und der Mann plumpste zu Boden. Er rappelte sich auf und griff nach einem dicken Journal, das in einem Fach unter dem Tresen lag, wuchtete es auf den Tresen und begann darin zu blättern.
„Potencia, Potencia …“, murmelte er, während er mit dem Finger die Zeilen mit den handschriftlichen Einträgen entlangfuhr. „Ah, da haben wir es ja!“, rief er zufrieden und tippte mit dem Finger auf einen Eintrag. „Potencia Vampyri, angekauft am 24. September 1995 für sechsundfünfzig Schilling, Ledereinband mit Goldverzierung, gut erhalten, Sprache teilweise Deutsch und Latein, vermutlich Zauberbuch, Anfang bis Mitte 17. Jahrhundert!“ Stolz blickte er die beiden Vampire an.
„Und? Wo ist es jetzt?“ fragte Anastas.
„Ja, genau …“, murmelte der Buchhändler und beugte sich wieder über sein Journal. „Oh! Oje!“
„Nun sag schon!“, knurrte Valerius ungeduldig.
„Ich fürchte, ich habe das Buch nicht mehr!“
„Ihr habt …?“ Anastas verschlug es fast die Stimme. „Wo ist es, wem habt ihr es verkauft?“ Valerius stieß ein tiefes Knurren aus. „Du hast doch sicher seinen Namen, verflucht!“
„Euer Gnaden, normalerweise notieren wir die Namen unserer Käufer nicht …“
Valerius packte den Alten an der Jacke und fletschte seine spitzen Zähne. „Willst du die hier näher kennenlernen?“, zischte er. Der Buchhändler schüttelte den Kopf und blätterte mit zitternden Händen weiter in seinem Journal. Valerius ließ ihn los und warf Anastas einen kurzen Blick zu.
„Wartet, Euer Gnaden, hier ist etwas …“, stammelte der Buchhändler und las wieder vor: „Potencia Vampyri, verkauft am 16. Juni dieses Jahres für vierzig Euro …“
„Den Namen, Alter, den Namen!“ Anastas Stimme war eiskalt. Mit dem Zeigefinger fuhr der Buchhändler die Zeile entlang. „Hier, hier ist er: Es ist ein gewisser Kennis Neuer, aus Nürnberg, Euer Gnaden …“
Der Mann im langen Mantel und dem hochgestellten Kragen beobachtete, wie die beiden Vampire den Buchladen verließen. Er blickte ihnen nach, wie sie eilig in der Dämmerung in den Gassen Wiens verschwanden. Dann zog er ein Handy aus der Tasche und tippte eine SMS ein. Ein Piepton verkündete kurz darauf die Antwort. Der Mann setzte sich in Bewegung, ohne die Nachricht anzusehen. Er kannte ihren Inhalt bereits. Lächelnd betrat er den Buchladen. Meister Varn würde zufrieden sein.