Gabriele Susanne Schlegel

Emilia

Mit einem Ruck wurde Emilia wach. Das war ungewöhnlich. Normalerweise fand sie nur mühsam vom Träumen in den Wachzustand. Sie war ein Morgenmuffel und drückte das grausame Weckerklingeln erst fünf Mal mit der Schlaftaste weg, bis sie endlich zu sich kam. Doch heute war es anders. Von total weggetreten zu 150 % da in einer Sekunde. Genau so fühlte sie sich – weit über hundertprozentig wach!

Dunkelheit umfing sie, das Bettlaken war ihr über das Gesicht gerutscht. Es war rau und roch nach Desinfektionsmitteln. Komisch, hatte Mama noch ein ökologischeres Waschmittel als diese Waschnüsse gefunden? Sie schob das Laken zur Seite. Das Bett war hart und schmal, das war nicht ihr Bett. Das war überhaupt kein Bett, es war ein Tisch. Trotz der Finsternis konnte sie ihre Umgebung gut sehen. Das fiel ihr aber zuerst gar nicht auf, weil etwas anderes unmittelbar ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie war nackt! Sie war nackt und lag auf einem Tisch. Als sie sich aufsetzte, rutschte das Tuch zu Boden. Sie starrte auf ihre Füße. Am linken großen Zeh hing ein Zettel. Sie war nackt, lag auf einem Tisch und hatte einen Zettel am Fuß! Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag und sämtliche Warnleuchten in ihrem Hirn gingen an: Sie war tot!

Sie blickte sich um. Rechts neben ihr stand noch ein Tisch mit einem zugedeckten Körper. Auf der linken Seite, ein Wandbord, auf welchem etliche gruselige stählerne Werkzeuge aufgereiht waren. Sägen, große Scheren, Skalpelle.
O Gott, hatte man sie aufgeschnitten? Sie sah an sich hinunter. Nein, alles war heil. Sie fühlte sich gut. Aber sie hatte Hunger, schrecklichen, wühlenden Hunger. Wie lang sie wohl schon auf dem Tisch gelegen hatte? Tage? Unter dem Geruch von Desinfektionsmitteln und dem süßlichen Verwesungsgeruch, der in der Luft lag, roch sie noch etwas anderes. Es roch – sie wusste nicht, wonach, aber es war gut. Sie dachte, ihr würde das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber das tat es nicht. Etwas bewegte sich in ihrem Mund, etwas wuchs, aber der Hunger ließ es sie nicht richtig wahrnehmen.

Sie glitt in einer geschmeidigen Bewegung vom Obduktionstisch. Mit leisen patschenden Geräuschen ihrer nackten Füße lief sie über den gefliesten Boden. Ganz hinten im Raum stand ein riesiger Kühlschrank. Sie öffnete die Tür. Gläser mit Innereien standen darin, eingeschweißte Tüten mit Fleisch oder so etwas, sah fast aus, wie in der Gefriertruhe daheim. Aber nur fast, dies war Menschenfleisch, menschliche Innereien. Emilia wusste es einfach.

Ganz vorne stand eine durchsichtige Tupperbox, in welcher sich ein Brot befand, wie es aussah. Emilia machte sich keine Gedanken darüber, wie abgebrüht der Pathologe sein musste, wenn er sein Vesper zwischen Leichenteilen aufbewahrte, in ihr schrie der Hunger. Sie zog die Box aus dem Kühlschrank und zerrte den Deckel so schnell herunter, dass er einen Riss bekam. „Das kann man bei Tupper umtauschen“ schoss ihr durch den Sinn, als sie das Brot aus dem Behältnis nahm und hineinbiss. Igitt, wie ekelhaft. Wie Moder, ranzig und verwest. Wie grässlich weich und matschig! Sie spuckte alles auf den Boden. Dabei hatte das Brot doch gut ausgesehen, Schinken war darauf, alles frisch. Sie warf die Vesper des Unbekannten auf den Boden und die Box hinterher. Aber aus dem Kühlschrank roch doch etwas so gut. Ohne sich recht bewusst zu sein, was sie tat, holte sie ein Päckchen Fleisch aus dem Kühlschrank, sah wie ein Stück Arm aus. Sie riss die dicke Folie herunter und steckte sich das Fleisch in den Mund. Hm, schon besser, aber immer noch so modrig, nicht frisch, alt. Sie warf den Arm dem Brot hinterher. Hier gab es nichts, was ihren Hunger stillen könnte. Oh, sie war so hungrig, sie fühlte es in ihren Eingeweiden, es zehrte an ihr, ließ sie nicht mehr klar denken.

Sie lief durch den Raum zur Tür, drückte den Griff nach unten. Mist, abgeschlossen. Sie rüttelte und zerrte an dem Griff und plötzlich löste sich das Schloss mit einem Krachen aus der Verankerung. Sie sprang auf den Flur. Hier roch es köstlich, so verlockend nach Essen. Wo der Flur nach links abknickte, kam plötzlich eine Gestalt um die Ecke.

„Dr. Singer? Ich dachte, sie wären schon gegangen.“ Der junge Mann blieb so plötzlich stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen und starrte sie erschrocken an. Er glotzte auf ihre nackten Brüste! Sie wollte ihn zurechtweisen, aber es kam nur ein Zischen aus ihrem Mund. „Was?“ brachte der Junge noch heraus, dann war sie bei ihm. Oh, er war es, der so köstlich roch, so guuut, so warm. Sie packte ihn, riss seinen Kopf zur Seite und biss ihn in den Hals. So frisch, so warm und da war so ein unterschwelliger lieblicher Geschmack. Es war delikat, das Beste, was sie je bekommen hatte. Sie trank alles und zum Schluss leckte sie die Reste vom Boden. Der Hunger schrumpfte zurück auf Erbsengröße, lauerte aber hinten in ihrer Kehle, bereit, wieder zu wachsen und sie ein weiteres Mal in ein wildes Tier zu verwandeln.

Entsetzt starrte Emilia den jungen Mann an, der mit ausgebreiteten Armen auf dem sauber geleckten Boden lag, die Augen blicklos an die Decke gerichtet. Scheiße! Sie wischte sich über den Mund, spürte spitze Zähne. Tot! Der Junge war tot und sie hatte ihm das Leben genommen, hatte ihn gefrühstückt. Das Entsetzen ließ ein irres Kichern in ihr aufsteigen, sie unterdrückte es. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Völlig die Kontrolle zu verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes ein blutgieriges Monster zu werden. Auf wackligen Beinen stand sie auf, sah auf ihn hinunter. Da konnte er nicht liegen bleiben.

Sie nahm seine Arme, wollte ihn hinter sich herziehen, aber er war ganz leicht. Sie hob ihn auf und trug ihn zurück in den Obduktionsraum, legte ihn auf den Tisch, auf welchem sie gerade noch gelegen hatte. Warum war er so leicht? Sie strich ihm liebevoll über die Stirn. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie, dann zog sie das Leichentuch über ihn.

In einem der Schränke, die an der Wand standen, fand sie einen Plastikbeutel mit ihrer Kleidung. Bis auf die Schuhe und Socken war nichts mehr zu gebrauchen, alles aufgeschnitten. Sie zog die Socken und die Schuhe an, suchte dann weiter. In einem Spint weiter den Flur hinunter fand sie Jeans und Sweatshirt. Mit dem Gürtel konnte sie die etwas zu weite Jeans an ihrer schmalen Taille festzurren, das Sweatshirt hatte eine Kapuze und passte ganz gut. Sie zog sie über ihre zotteligen Haare. Die Sachen gehörten bestimmt dem Jungen. Sie schluckte, nie wieder würde ihr das passieren, nie! Sie würde im Wald Kaninchen jagen, vielleicht ein Reh.

Sie begegnete niemandem mehr, als sie sich aus dem Gebäude schlich. Das Wachhäuschen am Eingang war leer, ein Fernseher lief, Waschmittelwerbung in einer glücklichen Welt, ein dreckiger Junge lief im Sonnenschein seiner Mutter entgegen. Schmerzhaft zog sich Emilias Herz zusammen, würde sie das jetzt nie mehr können? Im Sonnenlicht und glücklich? Die Uhr an der Wand über dem Fernseher zeigte 0:45 Uhr. Die Zeit zwischen Mitternacht und Eins. Geisterstunde hatten sie als Kinder immer gesagt und sich angenehm gegruselt, wenn sie sich heimlich im Bett noch Schauergeschichten erzählt hatten.

Und jetzt war sie das Monster. Nein, schalt sie sich, so darfst du gar nicht erst denken, denk an Kaninchen, Rehe, Marder, Ratten – äh, Ratten lieber nicht. Sie riss sich von der heilen Fernsehwelt los, sie musste hier weg, bevor der Wachmann zurückkam. Geduckt rannte sie über den erleuchteten Parkplatz auf die Bushaltestelle zu. Was für ein Glück, an der Ampel stand schon der Bus, gleich würde er hier sein. Prüfend fuhr sie sich über die Zähne, fühlten sich wieder ganz normal an. Sie stieg hinten ein und setzte sich auf die letzte Bank.

Der Bus fuhr bis zum Bahnhof, dort stieg sie in den Zug, der sie bis fast nach Hause brachte. Als der Schaffner kam, machte sie sich im Sitz ganz klein und hoffte, er sähe sie nicht. Er ging einfach an ihrem Sitz vorbei in den nächsten Waggon. Sie atmete auf, diese Vampirkraft war ganz praktisch. Ein kleiner Hoffnungsfunken, dass doch noch alles gut werden würde, begann zu keimen.

Als sie endlich auf dem Hof ankam, war es drei Uhr und der Hunger regte sich wieder. In einem der Vampirromane, die sie in ihrem anderen Leben gelesen hatte, wurde erklärt, dass neu erschaffene Vampire besonders viel Blut brauchten. Sie brauchten es für die Verwandlung von Mensch zu Vampir. Es schien zu stimmen, der Hunger oder besser der Durst hatte sich schon wieder nach vorne gewälzt und drohte ihren Verstand zu ersticken, wie eine Schneelawine einen unvorsichtigen Skifahrer im Gebirge.

Sie ging an der Scheune vorbei, wollte sich durch die Hintertür ins Haus schleichen; da schälte sich ein Schatten aus den überhängenden Ästen der alten Ulme: Marcel!

„Du kannst nicht zurück zu deiner Familie.“ Er stellte sich zwischen sie und die Tür. Emilia schreckte zurück.

„Was geht dich das an?“

„Ich bin dein Erschaffer und für dich verantwortlich.“

„Ach, ja? Und wo warst du, als ich aufgewacht bin, hä?“

Marcel grinste: „Ich war dort und habe dich beobachtet. Ich habe den Wachmann abgelenkt, damit du ungesehen fliehen konntest.“ „Du hast mich den Jungen töten lassen? Du … du blödes, arrogantes Arschloch. Von wegen verantwortlich, ha!“ Emilia hörte, wie ihre Stimme in ein unangenehmes Kreischen kippte, konnte aber nicht aufhören zu schreien. Mit einem Satz war Marcel bei ihr und hielt ihr den Mund zu. Er roch nach geronnenem Blut und alter Erde, irgendwie modrig. Als Mensch war ihr das gar nicht aufgefallen.

„Der Typ war schon im Gehen und kam noch mal zurück, Pech für ihn. War ’ne Jungfrau und du hast zuerst sein Blut getrunken, hast alles aufgeleckt.“ Er kicherte. „Schlecht für dich, Mädchen. Das Erwachen mit Jungfrauenblut besiegelt. Wenn du nun normales Blut trinkst, ist das, als hätte ein Menschenkind immer nur Haute Cuisine gegessen und kriegt dann nur noch Haferschleim.“

Er musste ihren verstörten Blick bemerkt haben, denn er nahm die Hand von ihrem Mund. Sie erinnerte sich an das süße Blut, das süße, süße Blut. Ihre Eckzähne wuchsen und bohrten sich in ihre Unterlippe. Sie rang um Beherrschung.

„Ich mache dass ssowiesso nicht mehr, ich sstehle Blutkonsserven oder jage Kaninchen.“

„Na das sprechen, wenn deine Zähne ausgefahren sind, solltest du erst noch lernen. Kaninchen, das ist echt gut, Kaninchen will sie jagen.“ Er schien sich köstlich zu amüsieren, was für ein Arsch. Sie trat einen Schritt von ihm zurück.

„Ist mir egal, was du denkst, du kannst abhauen, ich entbinde dich von deiner Verantwortung als mein Erschaffer. Los verschwinde und lass mich in Ruhe.“

Das saß, schlagartig war sein blödes Grinsen weggewischt. „Nun gut“, knurrte er, „dann sieh zu, wie du klarkommst. Ins Haus kommst Du sowieso nicht, es ist nicht mehr dein Zuhause, du musst hineingebeten werden.“

Und weg war er. Emilia blinzelte und sah sich um, nichts. Stille um sie her, nur die Schweine im Stall grunzten leise im Schlaf. Sie könnte Schweineblut trinken, damit sie wieder ruhiger wurde. Sie wollte sich vorstellen, wie es schmecken würde, stattdessen erinnerte sie sich an das Blut des Jungen. So unglaublich lecker.

Der Hunger regte sich wieder, er kam ihre Kehle hochgejagt, krachte nach vorne in ihr Denken und riss die mühsam aufgebaute Wand ihrer Selbstbeherrschung beiseite wie einen Gazevorhang. Blut! Der Gedanke an das Blut der Schweine war mitsamt ihrer Beherrschung ausgelöscht. Sie rannte zur Hintertür und prallte dagegen. Sie konnte nicht rein, etwas hielt sie davon ab. Es war zum verrückt werden. Doch der Lärm, den sie und Marcel veranstaltet hatten, musste ihren Vater geweckt haben. Plötzlich ging die Tür auf und ihr Vater stand im Türrahmen. Mit äußerster Anstrengung brachte Emilia ein verständliches „Papa, lass mich rein“, zustande.

Ihr Vater starrte sie mit geweiteten Augen an, er blinzelte und sagte zitternd: „Oh Kind, wir dachten … komm rein“, und machte ihr Platz. Sie fiel über ihn her, wie der Wolf über ein Geißlein, sah seinen entsetzten Blick, aber es war ihr egal. Blut! Aber es schmeckte nicht gut, so schal, so bitter. Bei ihrer Mutter war es das Gleiche. Robert, der ältere ihrer Brüder versuchte sie mit einem Küchenmesser abzuwehren, aber er hatte keine Chance. Sein Blut spritzte über den Küchenboden.

Adrian, nur zwei Jahre älter als sie, sprang durch das Fenster und versuchte vor ihr davon zu rennen. Sie war natürlich schneller und endlich fühlte sie sich wirklich gesättigt. Sein Blut war so süß, so delikat. Jungfrauenblut. Sie saß auf dem Hof bei der Scheune und trank und trank. Dann kam das Grauen. Sie hatte es wieder getan. Sie starrte auf ihren toten Bruder, er hatte doch immer so angegeben. Angeblich hätte er es mit Geitners Marie oben im Heuschober getrieben. Jetzt würde er es nie mehr erfahren, wie es ist mit einem Mädchen. Sie wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Abscheu vor sich selbst schüttelte sie. „Ich will das nicht, oh bitte, mach, dass es nicht wahr ist“, betete sie zu einem Gott, der für sie sicher nicht mehr zuständig war.

Marcel legte Emilia feixend auf ihr Bett. Das hatte sie nun von ihrem blöden Gezicke unbedingt zum Vampir gemacht werden zu wollen. Die dumme Gans hatte ihn auch noch ins Haus gebeten, sodass sein Plan nahezu perfekt aufgehen würde. Er lachte leise und schlich sich aus dem Haus.

Das Schrillen des Weckers brachte Emilia ins Dasein zurück. Ohne darüber nachzudenken, drückte sie auf die Schlummertaste. Dann stürzten die Erinnerungen auf sie ein und rissen sie förmlich aus den Kissen. Erschrocken starrte sie auf die nicht ganz geschlossenen Vorhänge. Ein Lichtstrahl tanzte herein, ließ das Kiefernholz am Fußende ihres Bettes erstrahlen. Wimmernd krabbelte sie bis an die Rückwand und zog die Bettdecke mit sich. Was sollte sie jetzt tun? Würde sie das Licht im Raum umbringen, oder nur, wenn sie direkt ins Sonnenlicht ging? Bis jetzt ging es ihr noch gut. Ihr Herz klopfte wie wild. Darf es das, so wild klopfen, hatte es denn gestern Nacht nicht aufgehört zu schlagen?

Plötzlich hörte sie ihre Mutter von unten rufen. „Emilia, wo bleibst du, das Frühstück ist schon fertig.“ Ohne noch über das Sonnenlicht nachzudenken, sprang Emilia aus dem Bett und rannte, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, hinunter in die Küche. Da stand ihre Mutter am Herd, Robert saß am Tisch und las die Zeitung und Adrian, ihr Herz machte einen Hüpfer, Adrian war ebenfalls da und schaufelte Rührei in sich hinein, wie immer. Sie umarmte ihre Brüder, die sie ansahen, als wäre sie krank und dachte „O Gott, ich danke dir, oh ich danke dir.“

Marcel lief lachend zurück in die Stadt. Er freute sich schon darauf, die ganze Geschichte Sira zu erzählen. Vielleicht würde sie ihn schelten, weil er Emilia eine echt fiese Geschichte suggeriert hatte. Aber was soll’s, dieses Gothicgirlie hatte er vom Glitzervampirwahn geheilt.