Gerhard Schmeußer
Kardulgor
Die Winternacht, in der ich zum ersten Mal vor Kardulgors Haus stand, war rau und kalt. Ein stürmischer Wind fegte in Böen vom Meer heran und dunkle Schneewolken verhüllten die Sterne, sodass die See schwarz wirkte und ihr Donnern mich mit Grauen erfüllte. Man konnte meinen, sie wolle das Haus von der Erde tilgen. Die Mauern ragten kalt und dunkel vor mir auf und kein einziges Licht war in den Fenstern zu sehen. Nur eine kleine Laterne über der Türe bewies, dass jemand zu Hause war und mich erwartete. Schutz suchend vor dem Wind trat ich in den Türbogen und betätigte den ovalen Türklopfer auf seiner verschnörkelten Platte. Sein Pochen klang gedämpft als würde er nur widerwillig seinen Dienst versehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir Kardulgor öffnete. Der Zauberer war in einen altmodischen schwefelgelben Hausmantel gehüllt, der seine Gestalt verbarg. Er war etwas größer als ich. Die vielen Furchen in seinem hageren Gesicht und die langen, grauen Haare, die er hinten zu einem Zopf gebunden hatte, ließen ihn alt erscheinen, obwohl seine Haltung aufrecht und kraftvoll war. Es war unangenehm, wie seine Augen durchdringend auf meinem Gesicht ruhten. Neben ihm schwebte ein Kerzenleuchter frei in der Luft, dessen Flammen gefährlich im Wind flackerten. Der Meister hatte bewusst diesen Effekt gewählt, um seinen Gast zu beeindrucken.
Kardulgor hieß mich willkommen und bat mich, ihm zu folgen. Ich trat ein über die Schwelle in sein Reich der Schatten. Und zuckte sogleich zusammen, als hinter mir krachend die Tür von alleine zuschlug. Mein Gastgeber schritt mir voran, ohne sich umzudrehen. Die Eingangshalle musste riesig sein, denn das Licht des Kerzenleuchters verlor sich darin. Bei Tag war sie vermutlich ein desolater Anblick. Voll von Staub und Schmutz, doch des Nachts bei flackernder und unzureichender Beleuchtung führte sie ihr wahres Eigenleben. So wie das ganze Haus, das die Helligkeit scheute und sie aus seinen Mauern verbannte. Es war ein totes Haus, seit vielen Jahren von den Menschen verlassen und nur noch eine Höhle für einen finsteren Magier, der sich darin verkrochen hatte.
An der Wand gewahrte ich einen huschenden Schatten, der uns begleitete und vom Licht des Leuchters geworfen wurde. Er bewegte sich schnell, zu schnell um mehr als eine geisterhafte Gestalt zu sein. Mal war die Schattengestalt an der Wand, dann über der Decke, dann am Fußboden als flöße sie um uns herum. Auch wenn es ein nützlicher Geist war, so war es doch eine unheimliche Erscheinung. Meine Augen waren an Dunkelheit gewöhnt, doch hier herrschte eine Dunkelheit, die nicht nur vom fehlenden Licht herrührte, sondern auch eine Dunkelheit des Geistes, die meine Fähigkeiten trübte und mich verstörte. Wie im Traum bewegte ich mich durch finstere und zugige Gänge, vorbei an langen Reihen verschlossener Türen, bis zu einer am Ende, unter deren Spalt ein Lichtschein hervorkam. Wenige Schritte vor uns öffnete sie sich wie von Geisterhand und mein Gastgeber bat mich hinein.
Ein flackerndes Kaminfeuer verbreitete einen warmen Schein, der über Reihen von Büchern glitt, die sich bis zur hohen Decke erstreckten, wo er sich im Dunkeln verlor. Es war warm hier und der Geruch von altem Papier und Leder beherrschte die Luft. Alter und Verfall hatten schon vor vielen Jahren hier Einzug gehalten und viele der staubigen Buchrücken waren verschrumpelt und unlesbar geworden. Eindeutig handelte es ich um eine Bibliothek, was mich nicht überraschte, denn wegen eines Buches war ich schließlich hergekommen. Kardulgor machte nicht viele Worte, sondern winkte mich zu einem antiken Lesepult, auf dem der Kerzenleuchter sich abstellte. Auf der schrägen Fläche des Pults lag ein großes, aufgeschlagenes Buch. Neugierig trat ich näher.
Der fleckige Ledereinband war dick und schwer. Schon auf den ersten Blick hatte ich erkannt, um welches Buch es sich handelte. Ohne Zweifel lag vor mir das legendäre Grimoire, das vor vielen Jahren aus der Feste des Grafen Dracul gestohlen worden war und das seitdem sowohl von Menschen als auch Vampiren gesucht wurde. Wie Kardulgor in seinen Besitz gelangt war, wollte er mir nicht verraten, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Ich zögerte, es zu berühren, doch der Magier forderte mich mit einer Geste dazu auf. Vorsichtig blätterte ich in den brüchigen Seiten, während es in dem Raum vollkommen still war und das Kaminfeuer seltsame Schatten an die Wände warf. Die verblichenen Seiten bestanden aus dickem Pergament, das schon brüchig war, sodass man beim Umblättern äußerste Vorsicht walten lassen musste. Kardulgor hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen und beobachtete mich aufmerksam, wie ich seinen Schatz begutachtete. Es war Teil unserer Abmachung, dass ich die Quelle studieren durfte, um Hinweise nach der Herkunft meiner Art zu erhalten. Als Gegenleistung sollte ich einige Textstellen für Kardulgor interpretieren, die in einer uralten Sprache abgefasst waren, die für Menschen nicht zugänglich war.
Die Schrift des Grimoire war verschnörkelt und kaum leserlich. Da waren Deutsch, Latein, Griechisch sowie Sprachen, deren Herkunft man erst herausfinden musste. Und die Ränder waren mit unzähligen Kommentaren bekritzelt, aus denen hervorging, wie viele Besitzer das Werk schon gekannt hatte. Schon nach wenigen Minuten war mir klar, dass ich für das Erlangen der gesuchten Erkenntnisse länger brauchen würde als einen kurzen Besuch. Ich blickte auf und sah Kardulgor in die Augen. Ich glaubte, eine gewisse Befriedigung darin zu sehen.
Ich bedeutete meinem Gastgeber, dass ich müde sei und mich gerne zurückziehen wollte. Kardulgor sicherte mir zu, ich könne einige Tage sein Gast sein und das Buch in Ruhe studieren. Ironisch meinte er, dass in seinem Haus genügend Platz sei. Und natürlich stünde mir auch seine restliche Bibliothek zur Verfügung. Wenn ich nichts dagegen hätte, könnten wir die Zeit am besten nutzen, indem er tagsüber arbeite und mir die Nachtstunden vorbehalten blieben, was meinem Naturell ja ohnehin entspräche. Somit nahm ich seine Einladung an.
Der Hausherr machte eine Geste mit der Hand und die Tür der Bibliothek schwang auf. Sogleich setzte sich der Kerzenleuchter in Bewegung, um mir den Weg zu weisen. Ich konnte die nun wieder auftauchende Schattengestalt nicht von ihrem Vorgänger unterscheiden und fragte mich, ob der Meister nur diesen einen hilfreichen Geist oder deren mehrere in Diensten hielt. Gewiss war ich mir dagegen, dass der Schatten einst einer lebenden Person gehört haben musste, die fortan schattenlos durch die Welt ging. Ein seltsames, wenngleich auch erträgliches Schicksal. Ob der Schatten auch Gefühle hatte, vielleicht des Verlusts oder der Einsamkeit, darüber konnte ich nur Vermutungen anstellen.
Das Licht schwebte vor mir durch die Gänge voran. Unser Weg führte in einen anderen Flügel des Gebäudes, der noch verlassener und düsterer schien als der, in den Kardulgor mich zuerst geführt hatte. Ich vermutete, dass der Magier mich nicht in der Nähe seiner Schätze bleiben lassen wollte und deshalb meine Unterkunft so weit weg, wie möglich eingerichtet hatte. Schließlich blieb der Geist vor einer unscheinbaren Türe stehen, die sich in ein altmodisches Schlafzimmer öffnete. Ich hatte schon befürchtet, meine Unterkunft würde verwahrlost sein, doch der Raum, den ich erblickte, war durchaus wohnlich. Ein großes Himmelbett mit gedrechselten Säulen erwartete mich und sogar für ein behagliches Kaminfeuer war Sorge getragen worden. Solange ich dem Hausherrn von Nutzen war, würde er wohl meinen Aufenthalt so annehmlich wie möglich machen. Aber mir war klar, dass ich im anderen Fall nichts Gutes von ihm erwarten konnte.
Ich trat an das Fenster, um in die Nacht hinauszusehen. Ich befand mich Obergeschoss des Hauses. Unter mir fiel fast senkrecht die Steilklippe ab. Das Meer war als solches kaum zu erkennen. Da war nur eine endlose schwarze Fläche, aber am Horizont war bereits ein kleiner Streifen Licht zu sehen, der den Morgen ankündigte. Das Donnern der Brandung war noch zu hören, hatte aber deutlich abgenommen. Der Wind verursachte ein leises Flüstern am Fensterrahmen. Das Zufallen der Türe ließ mich herumfahren. Ich war wohl nun alleine im Zimmer, denn der Schatten war nirgends mehr zu entdecken. Konnte ich mir dessen sicher sein? Natürlich nicht, er konnte überall auf mich lauern. Es befiehl mich der unangenehme Gedanke, dass ich den Weg zur Bibliothek nicht zurückfinden und in Kardulgors Haus herumirren könnte. Ich zog die Vorhänge zu, löschte die Kerzen und legte mich schlafen.
Mein Schlaf war wie immer totengleich, tief und traumlos. Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte sich wieder Düsternis in meinem Zimmer ausgebreitet. Im Kamin war nur noch graue, kalte Asche. Es war still, nicht einmal die Brandung der See war zu hören, offenbar hatte der Sturm aufgehört. Ich spürte, dass ich Durst hatte und für einen Moment spielte ich mit dem verrückten Gedanken, ihn an Kardulgor zu befriedigen. Doch wäre es nicht klug gewesen, sich mit einem so mächtigen Zauberer anzulegen. Überdies war fraglich, inwieweit mein Gastgeber überhaupt noch ein Mensch war.
Nach einer Weile wurde mir langweilig die Zimmerdecke anzuschauen. Vorsichtig öffnete ich die Tür meines Zimmers und spähte hinaus. Meine Augen waren an die Dunkelheit gewohnt und so hatte ich kein Problem auch ohne Licht zurechtzukommen, wenngleich es mit dem Kerzenleuchter bequemer gewesen wäre. Ein unbeleuchteter grauer Korridor erstreckt sich nach links und rechts. Ich erinnerte mich, dass ich am letzten Morgen von links gekommen war. Also schlug ich diesen Weg ein.
Ich tastete mich den stickigen Gang entlang. Immer noch war das Haus wie ausgestorben. Als ich um die erste Ecke bog, erlebte ich eine Überraschung. Ich befand mich direkt vor einer Türe, unter deren Spalt ein helles Licht hervor schien und die wie die Tür zur Bibliothek aussah. Der Weg war gestern viel weiter gewesen. Kardulgor musste mich im Kreis geführt haben, um mich zu täuschen. Nicht jeder Trick muss gleich magisch sein, dachte ich grimmig und drückte die Klinke. Dahinter befand sich tatsächlich die Bibliothek. Hinter dem Lesepult erwartete Kardulgor und lächelte, als könne er meine Gedanken lesen.
Kardulgor begrüßte mich und fragte, ob ich wohl geruht habe. Ich könne nun über das Grimoire verfügen. Anbei sei eine Liste von Textstellen, um deren Übersetzung er mich bäte. Mit diesen Worten entfernte er sich, wobei sein Gewand leise raschelte. Ich befand mich nun allein in der Bibliothek, die eine Atmosphäre der Erwartung ausstrahlte, gleichzeitig aber auch bedrückend war. Es war, als stünde ich unter strenger Beobachtung und dürfe mir nicht den kleinsten Fehltritt erlauben. Ich versuchte dieses Gefühl abzuschütteln. Verlernte ich hier meine Art zu denken?
Als Erstes wollte ich nun die Informationen suchen, die mich interessierten. Vielleicht würde ich hier endlich eine Formel finden, wie ich mich dem Tageslicht aussetzen konnte, was mir erlauben würde, unerkannt zwischen den Menschen zu leben. Es gab Gerüchte, dass einige meiner Brüder in Frankreich diese Fähigkeit vor langer Zeit entwickelt hatten, jedoch ihr Wissen geheim gehalten hatten. Vielleicht hatte Dracul davon erfahren und es in dem Buch festgehalten. Immerhin gab es viele, die behaupteten, der legendäre Vampirfürst hätte die Fähigkeit besessen, bei Tage zu wandeln, als er nach England aufbrach. Eine Reise, die bekanntlich zu seinem Ende geführt hatte.
Das Grimoire war alles andere als einfach zu lesen. Viele Abschnitte waren verschlüsselt. Andere waren in vergessenen Sprachen verfasst, sodass man die Zaubersprüche zwar rezitieren konnte, jedoch mit dem Risiko, dass man nicht wusste, was man tat. Ich kannte zwar viele Sprachen und behauptete von mir, dass ich schnell hinter versteckte Botschaften kam. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Antwort auf meine Fragen entdecken.
Es mochten Stunden vergangen sein, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete, und Kardulgor zurückkam. Als wüsste er, dass meine Suche vergeblich war, fragte er, ob ich zufrieden sei. Ich erwiderte, dass ich mehr Zeit bräuchte. Kardulgor nickte. Er hielt nun seine Hand über das Buch ohne es zu berühren und von selbst schlug es eine bestimmte Seite auf. Wenn es sich nicht um das Grimoire gehandelt hätte, hätte ich dies als billigen Zaubertrick abgetan, doch dass ein derart mächtiges Buch so mit sich umspringen ließ, verfehlte nicht seine Wirkung auf mich.
Hier sei eine der Stellen, die er nicht übersetzen könne, erklärte der Meister. Ich beugte mich über die komplizierten Schriftzeichen. Ja, ich würde es versuchen, aber es würde nicht einfach sein. Kardulgor nickte. Ohne ein weiteres Wort verließ er mich. Die folgenden Stunden brütete ich über der Textstelle, die ich entschlüsseln sollte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, als ich einen kühlen Luftzug wahrnahm, der sanft über meine Hände strich. Die Bibliothek hatte keine Fenster und auch die Türe war fest verschlossen, sodass mein erster Gedanke war, er müsse von dem Kamin kommen, in dem immer noch ein paar Holzscheite vor sich hin glühten. Doch dann bemerkte ich den Schatten an der Wand zu meiner Rechten – der Schatten, der wie eine menschliche Gestalt aussah. Ich nahm die Hände von dem Lesepult und richtete mich auf, wobei mir schmerzlich bewusst wurde, wie lange und krumm ich hier gestanden hatte. Der Luftzug wurde stärker und der Kerzenleuchter begann bereits gefährlich zu flackern, als sich die Seiten des Grimoire durch ihn zu bewegen begannen. Angestrengt erhob sich die erste Seite, fiel wieder zurück, wurde wieder aufgeweht, blätterte um. Fasziniert sah ich zu, wie eine zweite Seite umgeblättert wurde. Und dann flogen die Seiten geradezu. Bis der Wind auf einen Schlag aufhörte.
Neugierig näherte ich mich wieder dem Buch, um zu sehen, was der Geist mir aufgeschlagen hatte. Ich dachte zuerst, er wolle mir bei meinen Fragen helfen, doch schien es so, als ob er seine eigenen Absichten verfolgte. In der Textstelle, die vor mir lag, ging es um Schatten. Ich blickte zu der Wand hinüber. Der Schemen war immer noch da, als ob er verharrte und abwartete, was ich nun tun würde. Ich zweifelte keine Sekunde, dass er mir etwas zeigen wollte. Ich überflog den Text. Er beschrieb offenbar einen mächtigen Spruch, mit dessen Hilfe man den Schatten eines Menschen von diesem ablösen und zu seinem eigenen Diener machen konnte. Der Verzauberte würde fortan ohne Schatten durch sein Leben gehen. Ich hatte also recht gehabt mit meiner Vermutung. Aber da stand auch eine Formel zur Auflösung des Banns.
Meine
Bilder habt ihr den Toten übergeben, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr bei den Toten gesehen, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr mit Mauern eingeschlossen, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr auf der Türschwelle niedergestreckt, kehrt
um!
Ich blickte wieder zu dem Schatten an der Wand. Er bewegte sich nicht. Was sollte ich tun? Ich konnte nicht riskieren, meinen Gastgeber, der ein sehr mächtiger Zauberer war, zu verärgern. Ich begriff aber auch, worum es Kardulgor ging. Sein Ziel war, Macht über andere Wesen zu gewinnen, sie zu beherrschen und sich zu Diensten zu machen. Noch diente ich ihm freiwillig, aber ich war gewarnt und würde auf der Hut sein. Wie ich mich irrte, mich sicher zu fühlen!
Der Schatten war deutlich zu sehen. Eine Zeit lang verharrte er noch an der Stelle, als wartete er auf meine Antwort. Dann bewegte er sich blitzschnell nach oben, glitt über die Zimmerdecke und verschwand durch die Oberkante des Türrahmens. Ich starrte noch eine Weile auf die Stelle, doch nichts passierte. Dann wendete ich mich wieder meinen eigenen Studien zu. Ein oder zwei Stunden später hatte ich die Antwort, die ich suchte, gefunden.
Es war kurz vor Morgengrauen. Die Behauptungen, die in dem Grimoire aufgestellt waren, waren beunruhigend. Sollte es wirklich möglich sein, ein Stück Haut eines Vampirs zu Pergament zu verarbeiten, um darin die Seelen von Menschen zu fangen? Und war es dazu wirklich nur notwendig, ihren Namen mit ihrem eigenen Blut darauf zu schreiben? Wenn dies so wäre, dann stellte das eine der mächtigsten magischen Waffen dar, die bisher erdacht worden waren. Kein Wunder, dass Kardulgor dahinter her war. Aber ich war müde und es würde bald hell werden. In die fensterlose Bibliothek gelangte zwar kein Tageslicht, aber ich hatte eine Abneigung gegenüber Tagesstunden. Sonnenlicht empfand ich selbst hinter den dicksten Mauern noch als unangenehmen Druck, der mich körperlich und geistig schwächte. Ich beschloss, auf mein Zimmer zu gehen und zu ruhen. Kaum hatte ich den Entschluss gefasst, erschien auch schon der Schatten mit dem Kerzenleuchter im Zimmer. Ich schlug das Grimoire zu und wollte nur noch schlafen.
Ich erwachte. Der Schlaf war kürzer als sonst gewesen und seltsam, als wären da Erinnerungen, an die ich nicht herankam. Als Erstes verspürte ich die Härte der Unterlage, auf der ich lag. Und die Kälte. Und dann den Geruch von alten Mauern und Moder. Ich nahm wahr, dass meine Arme und Beine in einer unnatürlichen Stellung ausgestreckt waren. Ich schlug die Augen auf. Gelbliches Kerzenlicht schien auf grobe Steinmauern. Ich lag bäuchlings festgeschnallt auf einer Art Bank. War dies hier Kardulgors Folterkeller? Was wollte er von mir, waren wir nicht eine Kooperation eingegangen? Hinter mir raschelte Stoff. Ich kannte das Geräusch. Es konnte nichts anderes als Kardulgors Robe sein. Ich spürte die Präsenz des Magiers, aber er sagte kein Wort.
Und dann spürte ich etwas Kaltes auf meinem Rücken. Eine Kälte, die sich in ein heißes Brennen verwandelte. Ein Brennen, das die Form eines Rechtecks annahm und dann flächenartig immer stärker wurde. Der Schmerz und das Entsetzen wurden unerträglich, als ich spürte, wie ein Stück meiner Haut abgezogen wurde. Ich schrie. Schwäche durchflutete meinen Körper und ich konnte nichts mehr sehen. Doch ich wurde nicht ohnmächtig.
Ein Mensch wäre in dieser Situation wahrscheinlich gestorben. Doch ich lebte weiter. Mein Rücken brannte. Ich wusste, dass mein Körper sich regenerieren würde, doch dazu würde ich Blut brauchen. Und ob Kardulgor mir welches geben würde, war sehr fraglich. Eher würde er mich so lange benutzen, bis ich vor die Hunde ging. Und ich hatte ihm auch noch geholfen, die Textstelle zu entschlüsseln. Wie praktisch, der Übersetzer war auch gleich die Quelle für das Rohmaterial. Wie hatte ich diesem Scheusal vertrauen können? Dass jeder Mensch mich selbst als solches bezeichnen würde, erschien mir nur zu ironisch. Gleich und Gleich gesellt sich gern, wie das alte Sprichwort sagt. Doch nein, ich hatte meine Vereinbarung eingehalten. Kardulgor war das Monster, nicht ich.
Stunden vergingen. Noch eine weitere Nacht. Und noch eine und noch eine. Festgeschnallt auf dem Holzbrett in dem Verlies dämmerte ich im Dunklen vor mich hin und spürte, wie einerseits meine Wunde verheilte, auf der anderen Seite aber meine Kräfte nachließen. Hatte mein Peiniger mich vergessen? Würde er mich hier einfach verrotten lassen? Ich hatte nie an meiner Unsterblichkeit gezweifelt, doch nun war ich mir nicht mehr so sicher. Was würde passieren, wenn ich hier ewig festgebunden war?
In der vierten Nacht kam Kardulgor zu mir. Begleitet wurde er von dem Schattendiener, der wie immer den Kerzenleuchter hielt. Kardulgor stellt sich vor mich. In der Hand hielt er ein dickes, in Leder gebundenes Buch, das jedoch vorerst nur aus einer Seite zu bestehen schien. Er bezeichnete mich höhnisch als seinen Freund, der ihm von großer Hilfe gewesen sei. Dies hier sei sein neues Buch der Seelen. Der Magier zeigte sich sehr zufrieden über meinen Zustand und wünschte mir gute Besserung. Es sei verblüffend, dass ich mich so schnell von seiner Behandlung erholt hatte. Mit einem Lachen und der Ankündigung, dass er mich bald wieder besuchen würde, verließ er mich. Dunkelheit und Kälte hüllten mich wieder ein und ich fiel in einen traumlosen Schlaf.
In der fünften Nacht erschien wieder das Licht. Ich versuchte die Quelle zu erblicken und drehte meinen Kopf. Es war der Kerzenleuchter, der durch den Raum schwebte und sich dann auf den Boden abstellte. Nun konnte ich auch wieder die Schattengestalt sehen, wie sie über die Wand glitt und vor mir verharrte. Ohne Licht kein Schatten kam mir in den Sinn. Natürlich brauchte er den Kerzenleuchter, damit ich ihn sehen konnte. Ich blickte ihn an und begriff. Der Schatten und ich, wir waren beide Gefangene Kardulgors. Mir fiel die Formel zum Lösen des Banns wieder ein. Ob er mich befreien würde, wenn ich das Gleiche für ihn tat?
Ich suchte in meinem Gedächtnis nach den exakten Worten. Es war entscheidend, die Formel das erste Mal ohne Fehler zu sprechen, da es sonst lange Zeit dauerte, bis der Zauber wiederholt werden konnte. Mit geschlossenen Augen sagte ich den Spruch auf. Dann schlug ich die Augen auf und sah, wie der Schatten auf mich zu glitt. Im nächsten Moment lösten sich meine Fesseln. Steif und ungelenk erhob ich mich von der Folterbank. Die Tür des Verlieses stand offen.
Ich verließ das Haus nicht, ohne einen Umweg über die Bibliothek zu machen. Es war gefährlich, doch mein Begleiter kannte alle Fallen und magischen Vorkehrungen, die der Meister in dem Haus errichtet hatte, sodass wir nur über geheime Dienstbotenkorridore und Nebengänge schlichen. Mit dem Grimoire in der Hand verließ ich das Haus an der Klippe. Der Kerzenleuchter fiel zu Boden und mein schattenhafter Begleiter verschmolz lautlos mit der Nacht.
Es ist wieder Winter geworden. Heute Nacht begebe ich mich ein zweites Mal zu dem riesigen alten Haus auf der Klippe über dem Meer. Leichter Schnee bedeckt den felsigen Boden und der Wind weht manchmal kleine Flockenwirbel auf, die sich an einer anderen Stelle wieder absetzen. Einsam träumend steht Kardulgors Haus dort, seit Jahrzehnten vor sich hin rottend, vergessen von den Menschen. Denn selbst wenn es einen einsamen Wanderer zufällig dorthin verschlagen würde, so fände er nur verschlossene Türen. Und wäre er so vermessen, daran zu pochen, so wäre die Antwort nur das Echo aus den endlosen Korridoren, die von den leeren Räumen gesäumt werden. Sogleich übertönt von der Brandung an den Felsen und den Schreien der Möwen, die tagein tagaus um das Haus kreisen. Das Haus mit den vielen kleinen Türmen und Giebeln. Das Haus mit den blinden Fenstern und dem verkümmerten Gras drum herum. Kaum vorstellbar, dass dort einst Menschen lebten. Denn der Magier verlässt sein Haus angeblich nie. Die Laterne über dem Eingang brennt heute nicht. Ob sie in der Zwischenzeit jemals wieder geleuchtet hat? Wer weiß es, außer Kardulgor.
Das Gewicht des Benzinkanisters, den ich mitgebracht habe, zerrt an meinen Armen. Die Fenster sind alle dunkel und starren leer und schmutzig auf die Öde hinaus. Ich gehe um das Haus und suche mir eines aus, das leicht zu erreichen ist. Ich öffne den Deckel des Kanisters. Dann hole ich aus und schleudere ihn durch das geschlossene Fenster. Das Glas zerbirst klirrend, wie ein schmerzvoller Aufschrei. Zunächst ist da noch ein dunkles Loch. Aber ich werfe eine brennende Fackel hinterher. Es wird hell.
Das riesige alte Haus brennt so heftig, dass ich Schritt für Schritt zurückweichen muss. Die Flammen finden in dem verrotteten Mobiliar und dem Gebälk reiche Nahrung. Bald haben sie das erste Stockwerk erreicht und greifen nun auf das Dach über. Aufmerksam beobachte ich die Eingangstüre. Ob der Meister herauskommen wird? Schließlich wende ich mich ab und trete den Rückweg an. Hinter mir stürzt das Dach ein und sendet einen feurigen Funkenregen in den Himmel. Ob Kardulgor tot ist? Niemand weiß es. Und niemand hat jemals wieder von ihm gehört. Doch das Grimoire gehört nun mir.