Gabriele Stegmeier
Die Kraft des Vampyrus
Endlich schlenderte Kennis durch Wiens alte Gassen. Die zu finden, war nicht einfach gewesen. Angekommen am Stephansdom hatte er die breite Rotenturmstraße Richtung Kammerspiele gewählt. Eine Enttäuschung! McDonald’s reihte sich neben American Pizza und anderen Kettenbistros. Kein Café mit dem erhofften Wiener Flair weit und breit. Doch hier war alles anders. Die lärmenden Touristenhorden waren verschwunden, und nur die gemütliche Geschäftigkeit der Wiener umgab ihn. Vor einem kleinen, in die Ecke eines alten Hauses gedrückten Buchladen, blieb er stehen. Das mit goldenen Lettern verzierte Schild „Erster Wiener Buchladen“ verzauberte ihn. Das einzige Auslagefenster war fleckig von Regentropfen und an Fensterecken hatte sich grauer Schmutz gesammelt. Wie durch einen Weichzeichner konnte er auf einem Podest ein dunkelbraunes Buch ausmachen. Es war an den Kanten mit einer hellbraunen Bordüre gemustert, der Titel „Römische Staudämme“ aus schwarzen, altdeutschen Buchstaben.
„Ob die wohl offen haben?“ Kennis drückte schon die altmodische Türklinke. Ein melodisches Klingeln ertönte, und er atmete den schweren Duft alter Bücher. Der Laden war schmal, schien aber weit nach hinten zu reichen. Sehen konnte Kennis das nicht so genau, weil die Petroleumlampen nachempfundenen Leuchter an den Wänden mehr Charme als Licht verbreiteten.
„Kommens rein, der Herr“, ein alter Mann erschien aus der Dunkelheit und machte eine einladende Handbewegung. „Schauen Sie sich nur in Ruhe um. Sie werden bestimmt fündig werden.“ Er lächelte und verschwand durch den schmalen Mittelgang wieder nach hinten. Zu beiden Seiten des Ganges standen alte, dunkelbraune Holzregale, die vom Boden bis zur Decke voller Bücher waren. Kennis sah nur alte Buchrücken, kein neumodisches Taschenbuch weit und breit. Spontan zog er ein Buch heraus und hielt „Das reine Amtsdeutsch“ in Händen. Kennis schmunzelte gerade darüber, dass man statt mich dünkt auch mich deucht sagen könne, sich vor den anderen Formen von deuchten aber hüten solle, als der Ladenbesitzer plötzlich neben ihm stand.
„Ich habe Ihnen Kaffee gemacht. Mit einer Melange schmökert es sich doch viel schöner in den alten Schätzen“, er blickte auf das Buch in Kennis’ Händen. „Ein sehr erheiterndes kleines Werk, aber von 1922 nicht wirklich alt. Kommen Sie, dann zeige ich Ihnen meine Raritäten.“
Er führte Kennis ganz nach hinten in einen separaten Raum und deutete mit einer Handbewegung ringsum: „Hier stehen meine Lieblinge.“ Er lachte und seine kleinen Augen funkelten graublau vor Freude hinter den Gläsern des altmodischen Kneifers. Er stellte Kennis’ Melange auf das kleine Tischchen in der Mitte des Raums und zog ein Buch aus einem der Regale. „Schauen Sie, hier habe ich eine Aldinen Ausgabe von 1518, Caesars De Bello Gallico, Africano, usw. sind enthalten.“ Kennis hielt die Kostbarkeit mit dem dunkelblau-grünem Einband ehrfurchtsvoll in Händen. „Aber was mache ich?“ lachte der alte Mann, „drücke Ihnen Bücher in die Hand, ohne zu wissen, was Sie bevorzugen. Jetzt werde ich Sie alleine genießen lassen.“
Kennis zog wahllos ein paar Bücher aus den Regalen, stapelte sie neben der Melange und ließ sich zufrieden in den Sessel sinken. Einige der Bücher waren vollständig in lateinischer Sprache geschrieben. Da mit den Resten seines Schulwissens nicht mehr viel anzufangen war, legte er sie nach kurzem Durchblättern zur Seite. Dann fiel sein Blick auf ein Buch mit einem fleckigen Ledereinband. Es hatte weder einen Titel noch war sein Verfasser genannt. Neugierig schlug er es auf. Auf der ersten Seite befand sich eine colorierte Zeichnung. Kennis hielt sie für ein ihm unbekanntes Symbol. Seine Farben hatten sich eine gewisse Leuchtkraft bewahrt, obwohl die pergamentenen Seiten des Buches brüchig wirkten. Als er vorsichtig umblätterte, blieben mehrere Seiten aneinander hängen, und somit öffnete sich eine Stelle, wo in großen, verschnörkelten Lettern Die Kraft des Vampyrus stand. Vampyrus? Was war damit gemeint? Vampirismus? Gespannt blätterte er weiter. Die verschiedenen Arten, sich eines Vampirs zu bemächtigen, war ein Kapitel überschrieben, und Wie töte ich einen Vampir? ein anderes. Kennis grinste und las weiter: Er möge peinlich genau darauf achten, die Haut trocken genug, aber keinesfalls brüchig werden zu lassen. Ein anderer Satz lautete: Nun schreibe er mit dem Blut des Opfers … hier war ein Fleck im Text, bräunlich und fast rund. „Blut?“, dachte Kennis und lachte laut, „wahrscheinlich eher Melange.“
Der alte Mann erschien wieder wie aus dem Nichts und bedauerte, Kennis hinausgeleiten zu müssen, aber er würde den Laden jetzt schließen. Staunend stellte Kennis fest, dass er einige Stunden hier verbracht hatte. Ob er denn fündig geworden sei, fragte ihn der Alte. Kennis schüttelte lächelnd den Kopf.
„Sie haben wundervolle Bücher hier, aber das alles übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten.“
„Oh, sagen Sie das nicht. Nicht alle Kostbarkeiten sind teuer. Was haben Sie denn da?“ Der Alte nahm das Buch, das Kennis noch immer festhielt. „Eines von diesen Grimoires …“, er drehte es prüfend in den Händen: „Es ist nicht wirklich gut erhalten. Ich könnte es Ihnen für 50, ach was, sagen wir 40 Euro überlassen. Ich weiß, dass es bei Ihnen einen Freund gefunden hat.“ Offen lächelte er einen verblüfften Kennis an. „Geben Sie sich einen Ruck, kaufen Sie es. Dann werden Sie Wien und meinen kleinen Buchladen nie vergessen!“
Zuhause in Nürnberg stieß Kennis erst beim Abstauben auf das Buch im Ledereinband. Sofort war sein Interesse an dem Grimoire wieder geweckt. Heute war der richtige Abend für seine Lektüre. Es herrschte trübes, regnerisches Wetter bei unangenehmem Wind. Seine Freundin vergnügte sich bei ihrem Frauenabend, womit er alle Zeit der Welt hatte. Er ließ die Jalousien runter, zündete ein paar Kerzen an und machte es sich mit einer Flasche Bier auf der Couch bequem.
Mit Gewalt musste er sich von der Abhandlung losreißen, um endlich mitten in der Nacht ins Bett zu gehen. Da hatte sich wirklich jemand ausgetobt und seiner Fantasie keine Schranke auferlegt. Es ging darum, aus der hellen, fast weißen Haut von Vampiren eine Art Papier, Papyrus, das Vampyrus eben, herzustellen. Deshalb wurden auch als Erstes Tipps gegeben, wie und wo man Vampire finden und fangen kann. So erfuhr Kennis, dass Knoblauch den Vampir zwar erschreckt, aber nicht bewegungsunfähig macht. Ein Kreuz sei überhaupt nicht nützlich, sondern nur eine geschickte Werbekampagne der Kirche. Auch mit dem Mythos, Sonnenlicht lasse sie zu Staub zerfallen, räumte das Buch auf; es beschrieb sie lediglich als besonders lichtempfindlich. Kennis lernte, dass es sensible Menschen gab, die Vampire spüren konnten, und wurde in magische Zauberformeln eingeweiht, die es ermöglichen sollten, eines Vampirs habhaft zu werden. Neugierig geworden, hatte Kennis es nicht lassen können, ans Ende des Kapitels zu blättern, um zu erfahren, was es mit dem Papier aus Vampirhaut nun auf sich hatte. Er hatte herausgefunden, dass man mit dem Blut eines Menschen dessen Namen auf das Vampyrus schreiben müsse, um Macht über ihn zu erlangen. Nun war die Idee, jemanden durch sein Bildnis oder eben das Aufschreiben seines Namens gemixt mit ein bisschen Magie, in einen Bann zu ziehen nicht neu. Kennis gefiel jedoch die aufwendige Vorarbeit, und er malte sich gerade aus, wie er nach Transsilvanien fuhr, um Draculas Urenkel zu häuten. Bei dem Gedanken, dass er dem Youngster vielleicht erst die Tattoos vom Körper schrubben musste, um seine Haut verwenden zu können, lachte er laut.
Irgendwann schreckte er völlig verdreht aus seiner unbequemen Lage hoch. Er war auf der Couch eingeschlafen. Das Buch lag auf seinen Bauch, seine linke Hand war darunter eingeschlafen, seine rechte lag auf der aufgeschlagenen Seite. Als er das Buch auf den Tisch legte, fiel ihm auf, dass Lücken im Text waren. Buchstaben, ja sogar ganze Wörter schienen zu fehlen. Vorher war der Text doch vollständig gewesen. Müde rieb er sich die Augen, doch die Lücken blieben. „Alles nur Einbildung“, dachte er schlaftrunken und ging, ohne noch etwas wegzuräumen, schlaftrunken sofort ins Bett.
Im Traum wurde Kennis von einem Schatten gejagt. Er wusste, es war ein Magier, der seine Haut wollte, und hatte schreckliche Angst. Durch dunkle Gassen hetzte er von Mauervorsprung zu Hauseingang, von Baum zu Zaun, um sich zu verstecken. Da er völlig erledigt war, schlich er sich durch das offene Schlafzimmerfenster in sein Haus, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.
Er schreckte hoch, als er ein Geräusch hörte. Noch schlaftrunken überlegte er, ob es seine Freundin sei, die nach Hause gekommen war. Als sich seine Härchen im Nacken aufrichteten, war er schlagartig hellwach. Da er im stockdunklen Raum nicht das Geringste sehen konnte, waren seine anderen Sinne aufs Äußerste angespannt. Er hörte leises Schnüffeln vor seiner geschlossenen Schlafzimmertür und spürte eine schwache Luftbewegung in seinem Rücken, die nach Maiglöckchen roch. Schön, Britta war da, ihr Parfum würde er überall erkennen. Komisch nur, dass sie kein Licht gemacht hatte. Im nächsten Augenblick hörte er einen Knall gefolgt von einem dumpfen Schlag mit einem langen Ächzen. Sein Bett und er wurden hin- und hergerüttelt. Außerdem schrie Britta: „Raus, aus dem Fenster, sofort!“ „Aber ich bin doch so müde“, murmelte Kennis, wollte sich zur anderen Seite umdrehen, als Britta ihn mit ungewöhnlicher Kraft am Schlafanzugkragen hochzog und anbrüllte, endlich wach zu werden.
Hoch aufgerichtet stand Meister Varn, der Helläugige, im Kreis seiner Anhänger. Alle trugen lange dunkelrote Kapuzenmäntel, die dem Jahrhundertanlass angemessen waren. Nur Varn hatte seine Kapuze zurückgeschlagen, sodass halblange graue Haare und die fast milchig wirkenden Augen einen harten Kontrast zu seiner Robe bildeten. „Es hat begonnen“, sprach Varn feierlich. „Die Vampire haben ihre Unterschlüpfe verlassen, um den Träger des Grimoire zu jagen. Dadurch haben sie auch uns verraten, wer es ist.“ Er hob theatralisch die Arme und erntete das beifällige Gemurmel seiner Anhänger.
„Elring, bitte reiche mir unser letztes Stück Vampyrus!“ Der Angesprochene hielt ein reichhaltig verziertes Holzkästchen in den Händen, das von einem kunstvoll beschlagenen Schloss dominiert wurde. Varn hob das Halskettchen mit dem vergoldeten Schlüssel über seinen Kopf, steckte ihn in das Schloss und drehte ihn sanft. Nichts geschah! Er drehte fester, hatte jedoch Angst, den Schlüssel am Widerstand zu brechen. Die Magier sahen sich ratlos die Köpfe schüttelnd an. Doch Adva zog mit den Worten: „Ein Tropfen Öl wirkt manchmal Wunder“, ein Ölkännchen aus seiner Robe. Nun sprang das Schloss auf, Varn entnahm dem Kästchen das letzte kleine Stück Vampyrus und hielt es hoch, damit alle es sehen konnten. „Jetzt sagt mir liebe Brüder, wessen Blut wir benötigen, um seinen Namen auf dieses Vampyrus schreiben zu können und ihn zu unserem Werkzeug zu machen.“
In diesem Augenblick schmetterte Gloria Gaynor los: „I Will Survive!“ Elring wedelte aufgeregt mit seinem Smartphone. „Ich habe die SMS bekommen. Es ist Kennis Neuer, und er ist auf der Flucht vor den Vampiren.“
Kennis fand sich auf allen Vieren zwischen den Tulpen vor dem Schlafzimmerfenster. Britta kam gerade herausgesprungen und rempelte ihn, als er sich aufrichtete. „Nichts wie weg“, sie zerrte ihn hinter sich her. Kennis fluchte, als er über den niedrigen Gartenzaun setzte und barfuß auf einen kantigen Stein trat. Sie rannten den schmalen Weg zwischen den Gärten Richtung Straße. Zwei blendende Lichtkegel kamen ihnen entgegen und Kennis duckte sich instinktiv hinter einen Busch. Britta jedoch lief auf die Lichter zu und winkte ihm zu folgen. Sie riss die Hintertür des Wagens auf und warf ihn fast hinein, bevor sie hinterher sprang. Der Motor heulte auf, Reifen quietschten und der Jaguar schoss vorwärts.
„Gute Güte“, keuchte Britta, als sie von der Beschleunigung in die Sitze gedrückt wurden. „Musst du jetzt einen auf Schumi machen?“ „Och Britta, maul nicht ’rum! Ich werde mir doch nicht diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen, so einen Schlitten auszutesten“, tönte eine helle Jungenstimme von vorne, während der Wagen sich in eine Rechtskurve legte und Kennis gegen Britta geschleudert wurde. Obwohl er mit nahezu 90 Stundenkilometern durch die Dreißigerzone raste, drehte der Fahrer sich kurz um und grinste fröhlich: „Ich bin Darius. Welcome on Board, Kennis.“
Beim Licht der Straßenlaternen sah Kennis Darius’ Antlitz wie im Flackern einer Discolichtorgel abgehackt in schneller Folge hell und dunkel. Darius war ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, mit ausnehmend ebenmäßigen Gesichtszügen, denen noch die Reste der Weichheit der Jugend anhingen. Dunkle Augen musterten ihn neugierig und abschätzend. Sein kurzes, im zuckenden Licht fast blauschwarzes Haar war über der Stirn mit Gel nach oben gestylt.
„Schau bloß nach vorne“, rügte Britta. „Wir sind Graf Igostris Schlächterbande nicht entkommen, um uns jetzt zu überschlagen.“
„Graf Igostri? Schlächterbande?“ Kennis wandte sich zu Britta. „Ich glaube, eine Erklärung würde mir gut tun. Oder träume ich doch noch?“
„Nein, kein Traum, ich werde dir später alles erzählen, Liebling“, Britta drückte beschwichtigend seine Hand. „Im Augenblick muss ich mich darauf konzentrieren, dass Igostri uns nicht aufspürt.“ Britta schloss die Augen und schmiegte ihren Kopf bequem in die beigen Lederpolster.
„Was heißt hier später, Britta? Du reißt mich aus dem Bett, setzt mich in ein rasendes Auto und dann sagst du, das erklärst du später“, Kennis rüttelte ihren Arm, aber sie reagierte nicht. „Ich verstehe jedenfalls kein Wort. Darius, kannst du mir erklären, wer Graf Igostri ist?“ Er zog den Namen beim Sprechen in die Länge. Darius schnitt gekonnt eine S-Kurve, um dann auf der zweispurigen Ausfahrtsstraße zu beschleunigen. Kennis ertappte sich dabei, wie er die Nackenstütze des Beifahrersitzes umklammerte. „So wie du fährst, reicht die Kurzversion, mehr Zeit werden wir wohl kaum haben.“ Obwohl seine Ironie säuerlich klang, wurde sie von Darius’ lautem Lachen honoriert.
„Machen wir es ultrakurz: Graf Igostri böse, wir gut! – Graf Igostri ist der Chef einer Gruppierung von Vampiren, die nicht vor Blut vergießen zurückschreckt, um das Grimoire in die Hände zu bekommen.“ „Aha“, mehr brachte Kennis nicht heraus, denn er versuchte verzweifelt, Darius’ Worte nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Verstand aufzunehmen. Graf Igostri war also der Anführer von Vampiren, und er verfolgte ihn wohl wegen des Büchleins. „Aber vorhin wurde ich doch von einem Magier gejagt, oder war das im Traum?“ Darius zuckte mit den Schultern, während Kennis dachte: „Moment mal, Vampire, Magier, dreh ich jetzt völlig durch?“
„Von einem Magier weiß ich nichts. Als Britta mich kontaktierte, erwähnte sie nur Graf Igostris Bande. Aber wundern würde es mich nicht. Schließlich wollen auch Varns Magier das Grimoire, um die Welt zu beherrschen.“
Inzwischen flog Darius mit knapp 300 Sachen über die Autobahn Richtung Bamberg. Je schneller sie fuhren, desto langsamer schien Kennis’ Verstand zu arbeiten. „Das Grimoire, was da drin steht, ist kein Witz?“
„Natürlich nicht, Mann, wie kommst du darauf? Britta, hast du ihm denn gar nichts gesagt?“ fragte Darius ärgerlich in Richtung Fond. Britta hatte die Augen noch immer geschlossen, ihr Kopf mit den dunklen Locken lehnte an der Kopfstütze. Erst als Kennis ihr leicht über die Wange streichelte, schlug sie die Augen auf.
„Ich kann ihn nicht mehr spüren, also wird er uns verloren haben“, sie lächelte. „Du kannst zurückfahren, Darius. Aber nimm eine andere Strecke.“ Zu Kennis gewandt, erklärte sie: „Wir bringen dich zu unserem Unterschlupf.“
„Was sind das nur für Typen?“ Anastas fauchte bei ihrer rhetorischen Frage. Valerius und sie waren am Rand der Autobahn gelandet, gerade als der Jaguar mit Kennis, Britta und Darius vorbeigefahren war. „Jedenfalls müssen wir einschreiten und helfen“, stellte Valerius fest. „Ich spüre Brittas Kraft nachlassen, sie wird es alleine nicht schaffen. Eine Halbvampirin kann keine fünf zu allem entschlossenen und von Graf Igostri aufgeputschten Vampire kontrollieren.“ Anastas grinste: „Ich will den Fahrer, du kannst den Rest haben.“
Anastas und Valerius hatten bei Brittas Geburt von Graf Dracula den Auftrag bekommen, über sie zu wachen. Britta war als Grenzgängerin zu wertvoll, um sie einer Seite in die Hände fallen zu lassen. Noch wusste keiner, welche Fähigkeiten sie entwickeln würde, doch es lag auf der Hand, dass sie immens sein würden.
Zuerst hörten sie das Röhren des Mustang, dann kamen die Scheinwerfer um die lang gezogene Kurve. Sie standen jetzt mitten auf der Autobahn. Ihre Kapuzen hatten sie zurückgeworfen, mit unbewegten, geisterhaft weißen Gesichtern warteten sie auf den herannahenden Wagen. Plötzlich geriet er ins Schlingern. Ihre Pupillen glühten rot von der Anstrengung, den Insassen des Mustang ihren Willen aufzuzwingen. Reifen quietschten, als der Fahrer ihnen auswich und gegen die mittlere Leitplanke stieß. Das Auto prallte ab, nahm Kurs auf die Lärmschutzwand am rechten Fahrbahnrand und durchstieß sie, wie ein Messer die Butter. Dann schoss es eine Böschung hinauf, um am höchsten Punkt abzuheben und davon zu fliegen. „Wow!“ staunten Anastas und Valerius gemeinsam. Dann ließ Anastas den Geist des Fahrers los und sank langsam auf die Knie. Jede Kraft hatte sie verlassen, der Fahrer war ein würdiger Gegner gewesen.
„Der Wagen mit den Magiern kommt gerade um die Kurve.“ Auch Valerius schwankte wie betrunken, als er sie hochzog. „Da haben sich wohl Meister Varns Leute an die Fersen von Graf Igostris Vampiren geheftet, um Kennis zu bekommen.“
Schnell erschufen sie einen umgestürzten LKW quer über die Fahrbahn, in den drei PKW gerast waren. Flammen züngelten hier und da aus den Wrackteilen. Sie sahen das Auto der Magier langsamer werden. „Lass uns verschwinden, bevor der Kampf beginnt, wir hatten für heute genug Spaß.“ Anastas und Valerius schlugen die Kapuzen ihrer knöchellangen, schwarzen Mäntel hoch, breiteten die Arme aus und flogen davon. „Verflixt, ich habe mir schon wieder einen Absatz abgebrochen. Das waren die neuen High Heels!“ Valerius zog Anastas im Flug nahe an sich heran und raunte ihr ins Ohr: „Ich kaufe dir ein Paar Louboutin.“
„Hier ist euer Zimmer“, Darius zog einen Vorhang auf, und ein in gedämpftes Licht getauchtes Kellergewölbe war zu sehen. „Ich hoffe, es gefällt dir. Ich habe es nach Brittas Anweisungen eingerichtet.“ Überrascht versuchte Kennis die Kombination von einem Schlaf- und Arbeitszimmer in hellen, freundlichen Farben mit der modrig nach Sauerkraut und Bier stinkenden Luft in Einklang zu bringen. „Ruh dich aus und wärm dich. Klamotten findest du im Schrank. Wir überprüfen noch schnell alles, dann kommen wir zu dir.“ Kennis wollte aufbegehren, er könne noch Bäume ausreißen, als er registrierte, dass seine Beine von der Anstrengung zitterten. Der Spruch mit dem Pudding in den Knien bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Also ging er widerspruchslos zum Bett und ließ sich einfach fallen.
Zurückgekehrt nach Nürnberg hatten sie hinter der Burg den Jaguar stehen lassen und waren über ein geschlossenes Tor geklettert. Durch eine Tür in der Mauer des Burggrabens waren sie in die Gewölbe eingedrungen, die den Burgberg in mehreren nach unten reichenden Ebenen durchzogen. Durch endlose Gänge folgte er Britta im Schein einer Taschenlampe hinauf und hinab und in alle Richtungen, sodass er vollständig die Orientierung verlor. Die feuchte Luft erschien ihm eiskalt, und bald schlotterte er am ganzen Körper, barfuß, wie er war.
Er erinnerte sich, dass diese Gewölbe im Burgberg uralt waren. Einst geschaffen von den vielen Bierbrauern der Stadt, denen per Ratsverordnung im 14. Jahrhundert aufgegeben wurde, ihr Bier kühl zu lagern. Sehr viel später hatte man auch Sauerkraut und Gurken hier in Fässern aufbewahrt. Deren Geruch und der Bierdunst hatten sich in den Sandstein eingefressen.
Als Kennis erwachte, war es noch dunkel. Schlaftrunken drehte er sich auf die andere Seite und schlang seinen Arm um Britta. In diesem Augenblick brach die Erinnerung über ihm zusammen. Fast gleichzeitig schossen ihm die Bilder durch den Kopf, die Taschenlampe, der er ewig folgte, Darius’ Gesicht vom Schein der Straßenlaternen in Licht und Schatten getaucht, Brittas bleiches Antlitz mit geschlossenen Augen im Polster des Jaguars. „Britta! Wer ist sie?“ schoss es ihm durch den Kopf. Sie drehte sich zu ihm, ihre Nase streifte seine Lippen und er spürte den zarten Hauch ihres Atems auf seiner Wange. „Ich bin die, die über dich wacht“, sprach ihre Stimme in seinem Kopf.
Sie saßen um den kleinen Schreibtisch. Kennis hatte alles Nötige im Kleiderschrank gefunden und trug nun Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Britta gab ihm seinen Pass und ein Bündel Geld. Darius bewegte auf einem Tablet PC irgendwelche Ansichten hin und her. Das Grimoire lag zwischen ihnen. Britta erzählte gerade, sie sei die Tochter eines Vampirs und einer Magierin. Obwohl Vampire und Magier seit Jahrhunderten verfeindet seien, hätten ihre Eltern sich geliebt und alles versucht, die zerstrittenen Gruppen zu versöhnen oder sie wenigstens zu dem Status quo zurückzuführen, der vor der Entdeckung dieses Grimoire, in dem die Magie des Vampyrus festgehalten war, geherrscht habe. Hier unterbrach Kennis und erklärte, es gäbe weder Vampire noch Magier.
„Es tut mir so leid, mein Schatz“, in Brittas Augen glaubte er echtes Mitgefühl zu sehen. „Ich wusste, du würdest es nicht glauben wollen. Du denkst zu rational und logisch, und Mystik hatte in deiner Welt bisher keinen Platz. Meinst du, du könntest dich einfach mal darauf einlassen, bis ich dir alles erklärt habe?“
Er sah ihr lange in die Augen. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, drehten sich um Vampire, Magier und Realitäten. Er glaubte sich in einem bösen Traum gefangen und wollte nur noch aufwachen. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Du brauchst Hilfe, Britta, ihr braucht beide Hilfe. Ihr verschleppt mich aus meinem Heim und schafft mich in ein unterirdisches Verlies. Wie soll ich das denn werten? Ihr leidet unter Verfolgungswahn und glaubt an mystische Wesen wie Magier und Vampire. Gleich werdet ihr mir erzählen, es gäbe auch Werwölfe.“ Ihm entging nicht, dass Darius und Britta sich einen schnellen Blick zuwarfen. „Bitte vertraut mir, ich werde euch nicht fallen lassen. Ich will euch helfen. Ich liebe dich, Britta, aber du musst mir glauben, dass es auf dieser Welt nur ganz normale Menschen gibt.“
„Du hast über die Kraft des Vampyrus gelesen“, stellte Darius fest. „Das Grimoire ist ein sehr altes Buch …“
„Nur weil es alt ist, muss es nicht wahr sein“, konterte Kennis, aber Britta unterbrach, bevor die beiden sich richtig streiten konnten. „Stell dir einfach mal vor, es gäbe Vampire. Wäre dann das, was du gelesen hast, nicht schrecklich?“
„Natürlich, Britta, jedes Horrorbuch, jeder Film wäre das, aber es ist eben nur Fantasie!“ „Darius ist ein Vampir“, erklärte Britta. „Natürlich“, bestätigte Kennis und sah zu Darius. Der lachte und Kennis fuhr fort: „Er hat ja noch nicht mal lange Eckzähne, mit denen er den Menschen das Blut aussaugen könnte.“
Britta seufzte und während Darius grinsend seine Zähne zeigte, wuchsen ihm lange Eckzähne, und seine ebenmäßigen Gesichtszüge verzerrten sich, wurden hässlich und bedrohlich. Kennis sah dieser Verwandlung fasziniert zu, registrierte, wie Darius sich erhob und langsam auf ihn zukam. Er fühlte die kalte Drohung, die sich ihm näherte, als körperliches Unbehagen, wollte aufspringen, sich verstecken, verkriechen, aber er konnte keinen Muskel bewegen, nicht einmal schreien, nur regungslos sitzen und vor Angst fast krepieren. Darius trat hinter ihn, schob ihm die Hände unter die Achseln und hob ihn mühelos über seinen Kopf hoch. Kennis starrte hilflos auf Britta, als er Darius gefährlich fauchen hörte, und sie befahl mit schneidender Stimme: „Das reicht, Darius!“ Darius ließ Kennis sofort fallen, seine Augen glühten und er zischte noch einmal in seine Richtung.
„Darius ist ein sehr junger Vampir, der seine Kräfte noch nicht alle beherrschen kann. Er ist sozusagen noch in der Ausbildung, aber was du gesehen und gefühlt hast, sollte dich überzeugen.“
Kennis rappelte sich vom Boden auf. Seine Glieder fühlten sich wie taub an, es war schwer, sie zu koordinieren. Darius hatte sich wieder an den PC gesetzt, als sei nichts passiert. Seine Gesichtszüge waren entspannt und seine dunklen Augen studierten etwas auf dem Display.
„Was zum Teufel …“, begann Kennis, aber Britta unterbrach ihn sofort. „Hör mir jetzt zu! Obwohl meine Eltern bis zu ihrem Tod nicht aufgaben, die verfeindeten Gruppen aussöhnen zu wollen, erkannten sie, dass sie wohl scheitern würden. Meine ganze Erziehung war deshalb die Vorbereitung darauf, dich zu schützen und dir zu helfen.“
„Spinnst du jetzt total?“, fuhr Kennis sie an. „Was für einen Unsinn redest du denn da?“
„Mein Vater weissagte, derjenige, der dieses Grimoire“, sie deutete auf das Buch, „vernichten kann, würde zu meinen Lebzeiten kommen. Aber er würde nicht wissen, dass er der Auserwählte ist, seine Gabe nicht kennen. Er würde Hilfe benötigen zu ergründen, wer er ist, und was seine Aufgabe ist.“
Kennis sah sie völlig fassungslos an: „Und dieser Typ soll ich sein?“ „Selbstverständlich. Das Grimoire war jahrhundertelang verschwunden. Dann bringst du es aus Wien mit. Du kannst es lesen, obwohl es in allen möglichen Sprachen verfasst ist, die du nie gelernt hast …“
„Vergiss es, Britta. Der alte Buchhändler war nur froh, das verdreckte Märchenbuch endlich los zu werden. Ich Trottel stolperte zufällig in seinen Laden. Und geschrieben ist es in Deutsch, sogar unserem heutigen Deutsch. Es wurde also in der Jetztzeit verfasst und nur auf alt getrimmt, um Leute reinzulegen …“
„Kennis, du hast selbst gesehen, dass Buchstaben unter deinen Fingern verschwunden sind. Versuch nicht, das zu leugnen. Und schließlich ist dein Name ein weiteres Indiz.“
„Mein Name? Kennis heißt der Einzigartige. Meine Eltern waren eben der Meinung, jeder Mensch sei einzigartig, womit sie auch recht haben …“
„Kennis heißt auch der Auserwählte. Und der bist du, denn nur du kannst das Grimoire vernichten, weil seine Schrift unter deiner Berührung verschwindet.“
„Das mit dem Buchstaben verschwinden lassen ist Quatsch. Wahrscheinlich waren sie vorher schon nicht mehr da. Schau“, er schlug das Grimoire auf, legte seine Finger auf eine Seite und nahm sie dann wieder weg.
„Siehst du? Es ist nichts passiert. Absolut nichts.“ Er lachte, so erleichtert war er selbst, dass alle Buchstaben noch an ihrem Platz waren, und er sich das gestern Nacht nur eingebildet hatte. Doch Brittas nächster Satz machte alle Erleichterung wieder zunichte: „Du weißt, du hast die Gabe, doch du musst sie benutzen lernen. Bis dahin werden wir dich beschützen.“
Während Kennis noch über ihre Worte nachdachte, wurde Darius hektisch und Kennis glaubte, ein vages Gefühl von Gefahr zu spüren. Darius schaltete die vier Webcams, die verschiedene Eingänge sicherten, auf den Monitor. Im grauen Zwielicht der Morgendämmerung konnte er nichts Bedrohliches sehen. Jedoch zeigte ihm ein Blick zu Britta, dass er sich nicht geirrt hatte. Sie hielt den Kopf etwas schief, hatte die Augen geschlossen und schien zu lauschen. „Darius, es ist Varn. Sie müssen unsere Spur wieder aufgenommen haben.“
„Auf dem Schirm habe ich sie noch nicht. Aber ihr müsst verschwinden. Ich werde sie aufhalten, damit ihr einen Vorsprung bekommt.“
Britta nickte: „Steck deinen Pass, das Geld und das Grimoire ein. Wir werden fliehen. Die Magier dürfen dich nicht finden.“
„Ich werde nirgendwohin gehen!“, demonstrativ lehnte Kennis sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Es gibt keine Magier und niemanden, der mich finden will.“
„Du musst mir glauben, Kennis. Du hast das Grimoire, sie werden nicht davor zurückschrecken, dich zu töten, um es zu bekommen.“ „Ach Quatsch, dann nimm du doch das Ding …“, reagierte Kennis flapsig.
„Du verstehst es immer noch nicht. Du musst das Grimoire vernichten. Wir sind nur da, dich zu schützen und dir zu helfen.“
„Jetzt reicht es Britta“, schrie Kennis sie an. „Du bist ja total verrückt. Ich bin weder Harry noch Frodo. Ich muss keinen Ring bewahren oder mit Elben durch die Gegend ziehen. Ich muss auch nicht mit düsteren Mächten um ein Buch kämpfen. Ich gehe jetzt einfach nach Hause und nehme frische Brötchen mit. Wenn ihr auch Frühstück wollt, kommt ihr mit, wenn nicht, spielt ihr eben weiter Vampire und Magier. Ich jedenfalls habe die Nase gestrichen voll.“
Britta hatte Kennis noch nie so wütend gesehen, aber sie wusste auch, jetzt war jedes weitere Wort überflüssig. Sie hatten keine Zeit mehr. Darius tippte wild auf dem Tablet, um alle Barrieren, die sie gegen Eindringlinge eingebaut hatten, der Reihe nach zu aktivieren. Die Magier waren da. Britta fesselte Kennis’ Blick, ihre Stimme war in seinem Kopf, erzählte ihm, dass er sie liebte, dass er ihr glaubte, und dass sie jetzt das Grimoire vor den Magiern in Sicherheit bringen mussten. Er steckte das Grimoire und die anderen Sachen in den Rucksack und wandte sich an Britta: „Schnell, bring mich hier raus!“
Nachdem sie die unterirdischen Gänge durch die Lochgefängnisse, wo sie sich unter eine Führung schmuggeln konnten, verlassen hatten, ließen sie sich von der Touristenmenge zum Marktplatz treiben. Versteckt in der Menschenmenge starrten sie jetzt auf den Turm der Frauenkirche, da das Männleinlaufen gerade begann. Dort ziehen zum Mittagsgeläut die sieben Kurfürsten drei Mal um den Kaiser herum, während Nebenfiguren Fanfaren und Flöte blasen und trommeln. Links oberhalb vom Kaiser und den Fürsten ist der Oberkörper einer Gestalt in einem offenen Fenster zu sehen. Der schwarze Schnauzer fällt sofort ins Auge, darüber eine lange Adlernase mit geblähten Nasenflügeln und abgeflachtem Rücken. Die grünen Augen unter buschigen Brauen sind von langen Wimpern umgeben. Schwarze, gekräuselte Locken hängen auf das blaue Gewand, das von der Taille zu den Schultern einen überdimensionierten Kragen hat, der wie ein V aussieht.
Belustigt überlegte Kennis, ob dies das Zeichen für Victory sei, als sein Blick gebannt an der Figur hängen blieb. Sie hob den Arm und zeigte ihm ein Buch. Im nächsten Augenblick stand er in einem Fenster des Kirchturms, rechts von dem der Gestalt. Er klingelte mit dem Glöckchen in der rechten Hand und gestikulierte mit der linken. Sein Mund, der im schwarzen Vollbart gerade noch zu erkennen war, rief Wörter in einer unverständlichen Sprache. Sein Blick fand die Augen seines Nachbarn, erkannte das Grimoire in dessen Hand, und wusste plötzlich, das V stand für Vampir. Eiseskälte breitete sich in ihm aus. Er wollte weglaufen, doch er klingelte weiter wie besessen, schwenkte die andere Hand und sprudelte Wörter heraus.
Als er zu sich kam, saß er auf dem Kopfsteinpflaster. Britta kniete vor ihm, hielt ihn in den Armen und sprach beruhigend auf ihn ein. Kennis fühlte sich leer und schwindlig. Er lehnte seinen Kopf an Brittas Schulter: „Was ist passiert?“
„Du hast dich plötzlich wie verrückt gebärdet, mit den Händen herumgefuchtelt und laut rumänisch geredet.“
„Aber ich kann überhaupt kein rumänisch, außerdem war ich doch dort oben“, Kennis deutete auf den Kirchturm, aber Britta schüttelte den Kopf. „Du warst hier und hast einen Schwur auf Rumänisch geleistet. Du sagtest: Gnädigster König! Ich leiste den Eid der Treue und schwöre und verspreche ohne Arglist und Betrug Eurer Majestät und ihren Nachfolgern und der Krone Ungarn mit allen mir unterstehenden Ländern, Bojaren und Leuten Treue und Gehorsam.“
Kennis schüttelte ungläubig den Kopf. Er fühlte sich benommen, nicht im Hier und Jetzt. Die Touristen hatten einen Kreis um sie gebildet und schwatzten vergnügt. Einer deutete mit dem Finger auf ihn und lachte.
„Ich muss weg von hier“, er sprang auf, zog Britta hinter sich her durch die Menschenmenge und manövrierte um einige Marktstände herum, um den ruhigeren Rand des Marktplatzes zu erreichen. Dort lehnte er sich erschöpft an ein Gebäude und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Was geschieht mit mir? Ist dies ein nicht enden wollender Albtraum? Werde ich verrückt, seid ihr normal?“
„Kennis beruhige dich. Ich weiß, es ist schlimm für dich. Nichts hat mehr Gültigkeit und du wirst mit Wesen konfrontiert, die du bisher ins Reich der Fantasie gesteckt hast. Aber wir sind wirklich! Ich bin hier, fass mich an, und auch Darius gibt es. Wir sind nicht deine Einbildung.“ Sie folgte seinem Blick zum Turm der Frauenkirche. „Ich weiß nicht, was vorhin mit dir passiert ist. Aber ich bin sicher, es war etwas Bedeutsames. Ob du es willst oder nicht, du spielst eine wichtige Rolle für das Gleichgewicht dieser Welt. Warum kann ich dir nicht erklären; ich weiß nur, es ist so. Du hast Teile des Grimoire gelesen, also glaub mir, wenn ich dir sage, dass es Leute gibt, die deinen Namen mit deinem Blut auf Vampyrus schreiben wollen, um dich für ihre Zwecke auszunutzen.“
Kennis zweifelte. Auf der einen Seite überzeugten ihn Brittas Worte. Er hatte Dinge erlebt, die mit den ihm bekannten Naturgesetzen nicht erklärbar waren. Auf der anderen Seite wähnte er sich als Opfer eines teuflischen Komplotts, das ihn in den Wahnsinn treiben wollte. Er wusste einfach nicht mehr, was er glauben oder wem er trauen sollte.
„Kennis flieh, Darius konnte nicht alle Magier aufhalten. Ein paar werden gleich hier sein.“ Sie küsste ihn und im Kopf hörte er ihre Stimme: „Schnell, lauf, und pass auf dich auf. Ich werde dich finden, Liebling.“ Sie ließ ihn los und lief zurück auf den Marktplatz, während er sich aus seiner Erstarrung löste und über die Museumsbrücke davon sprintete.
Er rannte zur nächsten U-Bahn-Haltestelle und sprang in den ersten Zug. Dort drückte er sich in eine Ecke des Waggons und musterte misstrauisch die Mitfahrenden. Ob das junge Mädchen dort vorne eine Vampirin war? Sie hatte glatte, lange, schwarze Haare und grellrot geschminkte Lippen im bleichen Gesicht. Gekleidet war sie ganz in Schwarz, ein T-Shirt mit einem Schädel und eine Nietenjeans, dazu Springerstiefel. In ihren Ohren steckten die schwarzen Stecker eines MP3-Kopfhörers. Kennis’ Blick sprang zu einem Mann, der mit verschränkten Beinen einige Reihen vor ihm saß. Auch er trug einen schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Das Auffälligste war jedoch die pechschwarze Sonnenbrille, ein Accessoire, das man auch als cooler Typ in mittleren Jahren in der U-Bahn eigentlich abnahm. Gegen den braun gebrannten jungen Mann im roten T-Shirt neben ihm wirkte seine Haut wie geronnene Milch.
Die U-Bahn wollte gerade wieder anfahren, als ein Mann es mit einem Sprung noch durch die sich schließende Tür schaffte. Er zog an seinem langen, schwarzen Umhang, von dem ein Stück des Saums in der Tür hängen geblieben war. Kennis spürte wieder die abgrundtiefe Angst, die ihn schon einmal umhüllt hatte, als der Magier ihn verfolgt hatte. Auf einen Schlag wurde ihm bewusst, was ihm gerade durch den Kopf ging; er prüfte seine Umgebung auf Vampire und Magier. Das war krank. Der Magiertyp knüllte gerade seine Robe in die Aktentasche. Na klar, er war an der Haltestelle beim Gericht eingestiegen, er war Anwalt. Das Mädchen war wahrscheinlich einem Heavy Metal Konzert entsprungen und der Sonnenbrillentyp von den Zeugen Jehovas. Jedenfalls musste er aufhören, sich verrückt zu machen. Wahrscheinlich war sowieso alles nur ein total irrer Traum, hervorgerufen durch das Lesen des Wiener Büchleins. Gleich würde er aufwachen und fluchend den Wecker ausstellen. Diesem tröstlichen Gedanken hing Kennis noch nach, als die nette Frauenstimme erklärte, der nächste Halt sei der Fürther Hauptbahnhof. Jetzt beschloss Kennis, endgültig aufzuwachen. Nachdem das nicht klappte, stieg er am Bahnhof aus, und kam auf der Suche nach einem Café an einem Kiosk vorbei. Um zum Eingang zu gelangen, musste er sich durch diverse Drehständer mit Paperbacks quetschen. Bram Stokers „Dracula“ sprang ihn neben „Chikagoland Vampires: Frisch gebissen“ und „Der Vampir, der mich liebte“ an. „Britta“, schoss es ihm durch den Kopf. „Wie passend!“ Vampire, die amerikanische Bürgerrechte genießen und auch sonst ganz normalen Berufen nachgehen, wie Kinobetreiber und Barbesitzer – kann es so etwas geben? stand hinten auf dem Buch.
Das war die Frage. Konnte es Vampire geben? Und Magier? Die Erlebnisse der letzten Nacht hatten Kennis total verunsichert. Tatsache war: Sein Wecker hatte noch nicht geklingelt, er hatte Durst und brauchte unbedingt eine Zigarette. Er kaufte eine Cola, ein Päckchen JPS und eine Handvoll Vampirbücher. Dann ging er zum Bahnhof, um sich einen Zug nach Wien zu suchen.