Gerhard Schmeußer

Henks Auftrag

Der Korken, den Henk in den alten Küchenofen geworfen hatte, wollte nicht Feuer fangen. Stattdessen kokelte er vor sich hin und schickte Rauchschwaden durch das Ofenrohr, die oberhalb des Pods vom Seewind verjagt wurden. Gedankenverloren drehte Henk die fettige Plastikverpackung der Würstchen, die sein Abendessen dargestellt hatten, zwischen den Fingern und dachte über seine Situation nach. Letzte Nacht hatte er Valerius auf der Seebrücke gesehen. Es konnte natürlich auch ein Zufall gewesen sein, aber seine Intuition sagte ihm, dass er ihn gefunden hatte. Und nun? Er würde ihn wahrscheinlich töten. Seltsamerweise besorgte ihn weniger die Aussicht sterben zu müssen, als die Art wie es sein würde. Schwerfällig stand er vom Tisch auf und ging zu dem Bullauge in der stählernen Außenwand, das auf die Seebrücke hinausging. Der billige Wein, den er in sich hineingeschüttet hatte, machte sich bemerkbar.

Es war finster draußen und Henk musste das Licht der nackten Glühbirne, die seine Küche beleuchtete, abschirmen, um nach außen blicken zu können. Der Steg, der den Pod mit der Seebrücke verband, war im kalten Mondlicht gut einzusehen. Pod, so nannte Henk seine Behausung am Ende der Seebrücke. Das Geländer des Stegs war zum Schutz gegen den Wind mit Glasscheiben bestückt. Einige von ihnen waren schon seit Langem zerbrochen. Niemand würde sie jemals ersetzen. Gegenüber schob sich die Seebrücke wie eine riesige schwarze Raupe von rechts nach links in das Blickfeld. Die Stützen, die sie im Wasser verankerten, waren ihre Beine. Die Fenster des unteren Decks bildeten ein Muster, das die Ähnlichkeit mit einem Insekt noch verstärkte. Die Treppenhäuser, die auf das Oberdeck hinausgingen, sahen wie Stacheln aus. Und dort oben, am vordersten Rand, stand jemand. Henk kniff die Augen zusammen, um die Gestalt besser ausmachen zu können. Ein Mann schaute herüber. Breitbeinig und lässig und jung. Seine langen weißen Haare leuchteten im Mondlicht. Bewegungslos stand Henk da und hielt den Atem an. Valerius. Was Henk seit einigen Tagen erlebte, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Wie zum Teufel konnte der Kerl noch am Leben sein? Henk lief es kalt den Rücken hinunter, als er sich fragte, ob er die Eingangstüre des Pods wirklich fest verschlossen hatte. Immerhin war sie – wie alles hier – aus massivem Stahl.

Der Pod war ursprünglich ein Nachtklub gewesen. Auf massiven Stützen gebaut stand er im seichten Meer vor dem Strand. Zu erreichen war er über einen Steg, der von der Seebrücke abführte. Er war in Form eines Schiffes gebaut, hatte zwei Decks. Das Oberdeck war mit Planken ausgelegt, früher standen dort Tische und Stühle und eine Bar, die der Brücke eines Schiffs nachempfunden war. Mit einem Schornstein, der sogar wirklich rauchte, da er mit der Heizung des Pods verbunden war. Der Betrieb lief anfangs nicht schlecht. Doch die Szeneleute hatten bald das Interesse verloren, da die Bars, die direkt am Strand lagen, ihr Ambiente nachrüsteten und viel bequemer erreichbar waren. Nach knapp zwei Jahren hatte der Pod schließen müssen. Und dann hatte er einige Zeit alleine vor sich hin gerostet, bis Henk als einziger Bewohner einzog. Nicht, dass Henk etwas unternahm, um den Verfall des Pods zu verzögern oder gar aufzuhalten. Der Pod gehörte ihm nicht, er wurde lediglich von der Stadtverwaltung geduldet, die ihm sonst ein anderes Obdach hätte zuteilen müssen.

Im unteren Deck waren der Eingangsbereich mit einer Treppe nach oben und Lagerräume, von denen Henk einen als Küche, Wohn- und Schlafzimmer nutzte. Eine professionelle Küche, in der mehrere Leute arbeiten konnten, existierte zwar auch, aber Henk war mit ihrer Größe überfordert. Lieber hatte er sich einen Kohlenofen eingebaut, der gleichzeitig als Herd diente. Auch die sanitären Einrichtungen waren viel zu groß und Henk fühlte sich außerstande, sie zu pflegen. Früher hatte er auf dem Bau als Arbeiter gearbeitet. Seit er es gesundheitlich nicht mehr packte, bei jedem Wetter draußen zu sein, war es mit ihm bergab gegangen. Sparen hatte er dabei nie etwas können. Es hätte ohnehin nicht lange gereicht. Heute war er nichts Besseres mehr als ein Penner, der ein Dach über dem Kopf gefunden hatte. Aber immerhin konnte er sich von der Sozialhilfe Essen, Strom und Wasser leisten. Und wenn er ab und zu einen Spezialauftrag erledigte, sogar passabel leben.

Henk starrte lange Zeit zu der Gestalt auf der Seebrücke hinüber, bis seine Augen tränten und er blinzeln musste. Als er wieder klar sehen konnte, war der Andere weg. Sein Blick fiel auf den Metallkoffer in der Ecke des Raums.

Es begann vor zwölf Tagen. Van Buyten in seinem teuren Anzug. Glatt, wie seine schwarz gefärbten, nach hinten gegelten Haare. Henk hatte keine Ahnung, wo der Typ herkam, noch wie er ausgerechnet auf ihn gekommen war. Und dass er alle heilige Zeiten unangemeldet aufkreuzte. Nie erfuhr er, was der Hintergrund der Aufträge war, die er vermittelte. Henk hatte auch das Gefühl, dass es besser war, wenn er es nicht wusste. Van Buyten, wenn er wirklich so hieß, zahlte gut und das war alles, was Henk interessierte.

„Wir haben Dich ausgewählt, weil der Auftrag, den ich heute habe, etwas Besonderes ist“, erklärte Van Buyten mit wichtiger Miene. Henk blickte ausdruckslos in das gut aussehende Gesicht des Gangsters. Van Buyten war nervös, spielte mit seinem goldenen Armkettchen herum. Henk verachtete diesen Lackaffen, aber er wusste nur zu gut, dass es gefährlich war, sich seinen Ärger zuzuziehen. Der Gangster hob den länglichen Aluminiumkoffer, den er mitgebracht hatte, auf seine Knie und schnappte den matt glänzenden Deckel auf.

„Eine Armbrust?“, fragte Henk, „Ach, kommen Sie, Van Buyten, was soll das?“

„Es muss diesmal lautlos geschehen.“

„Das war aber bisher kein Problem gewesen.“

„Du kannst den Auftrag ablehnen.“

Henk versuchte einzuschätzen, ob Van Buyten es ernst meinte. Keine Fragen, das waren bisher die Spielregeln gewesen. Henk entschied, sich daran zu halten. „Wer ist es?“

„Ein gewisser Valerius. Wir kennen seinen vollen Namen nicht. Treibt sich oft an den Wochenenden im Blue Lagoon herum.“

Henk kannte das Blue Lagoon. Es war eine der Strandbars am Boulevard in der Nähe des Kurhauses. Tischfeuer, Sofas, gutes Essen, Szene, Touristen. Natürlich wusste er das nur von außen, denn jemand wie Henk würde dort schneller wieder rausfliegen, als er hineingekommen war.

„Wie erkenne ich ihn?“

Van Buyten zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Anzugs und faltete es vor Henk auseinander. Darauf war der Ausdruck eines digitalen Fotos, das mit einer Handykamera aufgenommen worden sein musste. Es zeigte eine Gruppe von Goths, die auf einer Couch herumlungerten, zwei hart geschminkte Mädchen in engen dunklen Korsetts und Netzstrümpfen umrahmten einen jungen Mann in einem offenen schwarzen Ledermantel und schwarzen Hemd. Lange weiße Haare, schmales Gesicht, fast asketisch, aber sehr gut aussehend. Die Mädchen lächelten künstlich in die Kamera, während ihr Begleiter ernst blieb. Es war etwas in seinem Blick, was Henk Angst machte. Er erinnerte sich, dass vor einiger Zeit die Rede davon gewesen war, dass ein Mädchen aus der Szene verschwunden war. Aber Henk wollte mit diesen Geschichten nichts zu tun haben. Er hatte nichts gegen die Goths. Im Gegenteil, einmal hatte einer ihn sogar vor der Polizei in Schutz genommen, denen eine heruntergekommene Gestalt, wie er auf dem Boulevard ein Dorn im Auge war. Henk streckte die Hand nach dem Papier aus, aber Van Buyten zog sie zurück.

„Machst du es?“

Henk zuckte die Achseln. „Kommt drauf an.“

„Fünftausend.“

Die Summe war der übliche Betrag, aber irgendwie schien sein Auftraggeber zu zögern. Als wäre noch ein Haken bei der Sache. Henk tat bewusst gleichgültig und blickte Van Buyten in die Augen.

Der Gangster blickte weg. „Da ist noch etwas. Wir brauchen ein Stück Haut von dem Kerl.“

„Haut.“

„Ja, mindestens von der Größe eines DIN-A4 Blattes. Und am besten von der Innenseite der Oberschenkel.“

„Weil sie da am zartesten ist“, ergänzte Henk. Er hatte ja schon einige schmutzige Aufträge erledigt, aber so etwas Perverses war ihm noch nie untergekommen. Und wenn schon – der Mensch hat zwei Beine, also konnte er auch gleich versuchen, mehr herauszuholen. Er würde ein zweites Stück nehmen und versuchen, es nachträglich zu verhökern. Von dem Geld würde er zwei Jahre über die Runden kommen. Ja, so wurde man, wenn man als Asozialer in einer Ruine hauste. Dass die Polizei ihn aufspüren könnte, hielt er für ein vertretbares Risiko. Van Buyten griff wiederum in sein Jackett und legte einen braunen Briefumschlag auf den Küchentisch. „Wie immer, die Hälfte als Vorschuss.“

Henk nahm den Umschlag, prüfte sein Gewicht und hielt Van Buyten die Hand hin. Der drückte ihm stattdessen das Foto in die Hand. „Hast du einen Kühlschrank oder so was?“

Henk lachte sarkastisch „Siehst du hier einen?“

„Du musst die Haut konservieren, bis ich sie bei dir abhole“, erklärte Van Buyten. Henk dachte kurz nach.

„In einem der Lager steht eine alte Kühltruhe. Ich weiß aber nicht, ob sie noch funktioniert.“

Van Buyten dachte einen Moment nach.

„Dann stelle das vorher sicher oder lass den Auftrag bleiben, bis wir Abhilfe geschaffen haben.“

Henk verzog das Gesicht als wäre er nicht gerade begeistert, nickte aber. Wie immer wollte der Gangster so schnell wie möglich gehen.

„Ich komme in genau zwei Wochen wieder.“

Als die Tür des Pods hinter Van Buyten zuschlug, setzte sich Henk und betrachtete die Armbrust in dem Köfferchen, das sein Auftraggeber auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte. Es war eine moderne Sportarmbrust aus schwarzem Kunststoff mit einem Bogen aus Fiberglas. Henk nahm die knapp armlange Waffe heraus und war erstaunt, wie leicht sie war. Vorne befand sich ein Bügel, der, wie unschwer zu erraten war, dazu diente, sie mit dem Fuß festzuhalten, wenn man sie spannte. Am Boden des Koffers lagen drei lange gefiederte Pfeile. Henk nahm einen davon heraus und betrachtete ihn gegen das Licht, das durch das Bullauge neben der Tür fiel. Er war aus Holz. Seltsam, ist das neuerdings üblich, fragte sich Henk. Sorgfältig legte er die Pfeile wieder in die Aussparungen, die für sie vorgesehen waren. Dann wandte er sich dem Zettel mit dem Bild zu. Die Augen dieses Valerius irritierten ihn. Sie schienen ihn anzusehen, als ob es kein Bild, sondern echt wäre. Er zog den Rotz in seiner Nase hoch und drehte schnell das Blatt um. Dann öffnete er den Umschlag mit dem Geld. Er zweifelte nicht daran, dass Van Buyten ihn korrekt bezahlen würde, aber es beruhigte ungemein, die Scheine zu zählen.

Er hatte keine Vorstellung, wie er den Auftrag bewerkstelligen würde, aber die hatte er bei den vorhergehenden auch nie gehabt. Irgendwie würde er es schon fertigbringen. Er würde diesem Valerius solange auflauern, bis sich eine Gelegenheit böte. Dass es direkt vor seiner Haustüre geschehen würde, war Henk zwar nicht recht, aber andererseits auch praktisch. Wenn er tot ist, ist er tot. Mit einer wegwerfenden Geste untermalte er den Spruch, den er aus einem Rocky-Film mitgenommen hatte.

Ein gewisses Problem stellte jedoch der Koffer mit der Armbrust dar. Henk konnte unmöglich unauffällig damit herumlaufen. Die Feuerwaffen, die Van Buyten ihm vorher ‚geliehen‘ hatte, konnte man einfach in der Jackentasche tragen. Die einzige praktikable Möglichkeit war, sie unter einem langen Mantel zu verstecken. Zum Glück gab es einen Sicherungshebel, dass das Ding nicht versehentlich losging. Aber auch die Handhabung der Armbrust war so umständlich, dass er stark bezweifelte, ob er damit Erfolg haben würde. Henk war nicht mehr der Schnellste und auch seine Geschicklichkeit hatte im Lauf der Jahre stark gelitten. Was, wenn er schlichtweg daneben schoss? Für einen zweiten Schuss würde die Zeit nicht reichen. Eigentlich war es Blödsinn, damit jemanden zu ermorden.

Der ehemalige Lagerraum für Lebensmittel in der unteren Ebene des Pods war fensterlos, kalt und trostlos. Eine nackte Neonröhre summte an der Decke vor sich hin. Henk stellte den Koffer mit der Armbrust neben der Stahltüre ab und musterte den Raum. Da waren noch ein paar alte leere Holzkisten, die genau richtig für sein Vorhaben waren. Henk nahm zwei davon und stapelte sie an der Rückwand des Raums aufeinander. Dann ging er zurück. Sieben Schritte, das war nicht gerade weit. Wenn er aber die Tür offen ließ, konnte er sich in den Korridor zurückziehen und hätte noch mal gut die doppelte Distanz zur Verfügung. Henk öffnete den Koffer. Die Armbrust lag wie ein giftiger Skorpion darin. Er nahm die Waffe heraus, stellte einen Fuß in die Schlaufe und spannte die Sehne. Es erinnerte ihn sofort an die Zementsäcke, die er früher hochheben musste, als er noch auf dem Bau arbeitete. Die Sehne rastete im Hebelverschluss ein und Henk legte den Sicherungshebel um. Dann nahm er einen der Pfeile und legte ihn ein.

Mit der gespannten Armbrust ging er in den Korridor und zielte auf die Obere der beiden Kisten. Der Abschuss war fast lautlos, der Rückstoß kaum zu spüren. Mit einem Knall bohrte sich der Pfeil in das morsche Holz. Die Durchschlagskraft war immerhin so groß, dass der Pfeil zur Hälfte stecken blieb. Ganz nett, dachte Henk, und auch schön leise, aber das stoppt nicht unbedingt einen Mann. Warum sollte er mit dieser ungeeigneten Waffe töten? Vor was hatte Van Buyten Angst?

Die Hallo-Bar war so klischeehaft, dass sie als Drehort für einen Krimi dienen konnte. Eine finstere Schmuddeligkeit und der Qualm unzähliger Zigaretten hatten die Luft und alle Gegenstände für ewige Zeit imprägniert. An der Wand hinter Henk flimmerte unbeachtet ein Fußballspiel über einen Großbildschirm, dessen Ton abgedreht war. Das Bier vor ihm auf dem fleckigen Tresen rührte Henk nicht an. Er wartete auf Jan. Jan war bekannt dafür, alles beschaffen zu können. Henk wusste, dass er viel zu früh dran war, aber er hatte es alleine nicht mehr ausgehalten. Eigentlich sollte er aussteigen, sagte er sich, seine Nerven machten nicht mehr mit. Dieser Auftrag würde der Letzte sein, nahm er sich vor. Alle Minute sah er auf seine Armbanduhr. Noch bis zur vollen Stunde würde er warten. Dann konnte ihm Jan gestohlen bleiben. Ein Geräusch an der Eingangstüre. Es war Jan. Henk rutschte vom Barhocker und deutete auf einen der Tische in einer der dunkleren Ecken.

Jans Alter war undefinierbar. Wenn Henk ihn sah, musste er immer an einen Fußballspieler denken. Nicht dass er wusste, ob Jan Fußball spielte. Er sah nur so aus. Drahtig, mittelgroß, schnell. Heute wurde der Eindruck noch verstärkt durch die Sporttasche, die er dabei hatte. Das schwarze Kapuzensweatshirt, das er trug, passte perfekt dazu und sah außerdem aus, als wäre es sein einziges Kleidungsstück. Jan gab dem Wirt, der sich im Hintergrund gehalten hatte, einen Wink. Der machte sich sogleich an der Cappuccino Maschine zu schaffen. Jan war bekannt.

„Und?“ Jan bückte sich und kam mit einem öligen Tuch wieder hoch, in dem ein Gegenstand eingewickelt war. Er schlug das Tuch kurz auf und erlaubte einen Blick auf die klobige graue Pistole, die darin eingewickelt war.

„Eine P225, neun Millimeter. Sehr gut in der Handhabung. Du kannst damit umgehen?“

„Ich denke schon.“

„Der Sicherungshebel ist hier außen. Wenn du entsicherst, kannst du sofort schießen.“

„Gut. Geladen?“

„Sechs Schuss. Mehr bekommst du nicht. Tausend Eier und das Ding gehört Dir.“

Henk wusste, dass er sich schnell für oder gegen den Kauf entscheiden musste. Das Gefühl, sich gerade auf einen ganz großen Mist eingelassen zu haben, stieg in ihm auf und verursachte ein Gefühl der Übelkeit. Er kramte das Kuvert mit seinem Vorschuss aus seiner Jackentasche. Das Knistern der Geldscheine ließ ein Lächeln auf Jans Gesicht erscheinen.

Henk zählte ihm das Geld hin. Ohne ein weiteres Wort stand Jan auf, ging an den Tresen, kippte seinen Kaffee hinunter und verließ ohne zu bezahlen das Lokal.

Der Boulevard war windig, kalt und hart. Henk drückte sich seit Stunden im Eingang der Ladenpassage gegenüber des Blue Lagoon herum. Das Warten konnte einen in den Wahnsinn treiben. Die wenigen Nachtschwärmer, die um diese Zeit noch unterwegs waren, machten einen Bogen um ihn. Es war ihm aber recht, dass er den Eindruck eines Obdachlosen machte, der in der windgeschützten Passage Zuflucht vor dem rauen Westwind gesucht hatte. Mit seinem braunen alten Mantel und den Stiefeln erinnerte er sich selbst an die Gestalt auf einem Plattencover von Jethro Tull, das er vor unzähligen Jahren einmal besessen hatte.

Henk ließ sich vor dem beleuchteten Schaufenster eines Buchgeschäfts nieder. Links von ihm gähnte die Einkaufspassage. Rechts lagen ein paar Meter nackter Boulevard. Dahinter lockte das Blue Lagoon mit seinen Lichtern und Musik, die leise herüberwehte. Der Wind trug eine Zeile herüber: ‚I’m gonna marry the night‘ sang eine Sängerin. Die Pistole in seinem Mantel drückte und er hoffte, dass niemand ihre Konturen bemerken würde. Hin und wieder kamen Leute aus dem Klub. Pärchen oder Cliquen, die lautstark zusammen heimgingen. Henk wusste nicht, ob Valerius in der Bar war. Er hatte nur keinen anderen Hinweis. Ab und zu döste er ein und schrak wieder hoch. Er musste wach bleiben und trotzdem die Zeit nutzen, sich zu entspannen.

Henk war schlagartig wach. Valerius war aus der Bar getreten. Er war alleine, verweilte aber trotzdem kurz vor dem Eingang, als wüsste er noch nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte. Wie auf dem Foto trug er einen langen schwarzen Ledermantel und Stiefel. Henk beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und tat so, als bemerkte er ihn nicht. Dann entfernte sich Valerius nach links. Henk rappelte sich auf und trat auf den Boulevard. Valerius hatte ungefähr hundert Meter Vorsprung. Sein weiter schwarzer Ledermantel blähte sich beim Gehen hinter ihm. Henk fluchte. Der Kerl lief viel zu schnell, dass er ihm unauffällig folgen konnte. Sich in den Schatten der Markisen der Läden, die den Boulevard säumten haltend, folgte Henk seinem Opfer. Einmal verlangsamte Valerius seine Schritte und blieb stehen. Henk drückte sich sofort in die Dunkelheit des Eingangs eines Juweliergeschäfts. Die rot leuchtenden Ziffern einer Digitaluhr im Schaufenster zeigten eine halbe Stunde nach eins an. Er zählte langsam bis fünf, bis er es wagte, hervorzuschauen. „Wie eine Kakerlake, immer auf der Flucht“, dachte er sich.

Valerius hatte seinen Weg inzwischen fortgesetzt und bog gerade auf eine Treppe ab, die nach oben zu einem Arkadengang führte. Henk wusste, dass der Gang auf die Hauptstraße führte, die um diese Zeit bestimmt ebenfalls menschenleer war. Im Innern befand sich nur ein chinesisches Restaurant, das um diese Zeit wahrscheinlich schon geschlossen hatte. Wenn er seinen Auftrag heute noch erledigen wollte, dann sollte er es dort oben tun. Henk spurtete los.

Außer Atem kam er oben an der Treppe an. Seine rechte Hand umklammerte die Pistole in seiner Manteltasche. Oben gähnte ihn ein dunkler Gang an. Im Hintergrund warfen rote chinesische Schriftzeichen auf gelben Grund ein krankes Licht in den Flur. Henk blieb stehen und lauschte auf Schritte, aber nichts war zu hören außer seinem eigenen Atem. Zögernd machte er ein paar Schritte in die Dunkelheit. Wo steckte dieser Valerius? Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Das Rascheln von Stoff hinter ihm ließ ihn herumwirbeln. Zwei Schritte vor ihm stand Valerius. Henk musste zu ihm aufblicken, da Valerius einen Kopf größer war. Seine Augen waren vollkommen schwarz. Konnte er deshalb in der Dunkelheit so gut sehen?

„Was willst du von mir, alter Mann?“

Valerius Stimme klang, als wäre er gewohnt, dass andere ihm Rede und Antwort stehen mussten. Henks Griff um die Pistole verkrampfte sich. Valerius warf seine weiße Mähne nach hinten und öffnete den Mund zu einem verächtlichen Grinsen. Die raubtierhaften, zentimeterlangen Eckzähne, die dabei zum Vorschein kamen, bewirkten in Henk, dass er aus seiner Erstarrung erwachte. Er riss die Pistole aus der Tasche, kippte noch im Anlegen den Sicherungshebel um und schoss.

Das Mündungsfeuer erhellte die Passage wie ein Blitzlichtgewitter. Die Kugeln bissen sich in Valerius Körper und hinterließen dunkle Flecken auf seinem Mantel. Er taumelte rückwärts, krümmte sich vor Schmerzen, fauchte. Sein Gesicht zeigte Überraschung, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ihn jemand auf diese Weise angriff. Nach dem vierten Treffer knickte er zusammen und fiel zu Boden, wo er sich erst krümmte und dann auf dem Rücken ausgestreckt liegen blieb.

Mit der Waffe im Anschlag näherte sich Henk vorsichtig seinem Opfer. Die schwarzen Augen starrten ihn reglos an. Henk steckte die Pistole wieder ein. Die Schüsse hatten in dem Gang viel zu viel Lärm gemacht und er konnte von Glück reden, dass niemand mehr in dem Restaurant war. Nun hieß es schnell handeln, denn der schwierigste Teil stand ihm noch bevor. Henk öffnete den Gürtel von Valerius Hose und zog sie zu den Knöcheln herunter. Dann klappte er sein scharfes Taschenmesser auf und begann mit zitternden Händen ein Quadrat in den rechten Oberschenkel seines Opfers zu schneiden. Es war seltsam, wie wenig Blut dabei hervorkam, aber für seine Arbeit war es Henk gerade recht.

Schnell entledigte er sich seines Mantels, damit er sich nicht äußerlich zu sehr besudelte. Das Abziehen der Haut war anstrengender als er dachte. Es machte ein Geräusch, als zöge man Klebeband ab. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Henk musste mehrmals innehalten, um seinen Brechreiz zu unterdrücken und wegzusehen. Hastig ließ er den Lappen in der Supermarkt-Plastiktüte verschwinden, die er eigens mitgebracht hatte. Dann, wie im Fieber machte er sich daran, auch das andere Bein zu häuten. Der Beton des Bodens färbte sich dunkel von Blut. Dass es zu finster war, um zu erkennen, was er genau tat, betrachtete er eher als Segen denn als Hindernis.

Gerade, als er den zweiten Hautlappen in die Plastiktüte steckte, ließ ihn etwas gefrieren. Valerius Kopf, der die ganze Zeit gerade an die Decke gestarrt hatte, begann sich langsam zu drehen. Die dunklen Augen wirkten, als ob sie ihn sehen könnten. Verdammt, hatten vier Kugeln nicht gereicht, diesen Kerl zu töten? Henk, der in der Hocke da gesessen hatte, kroch rückwärts, bis ihn die Hauswand stoppte. Mit Entsetzen sah er, wie Valerius nun nicht nur seinen Kopf drehte, sondern auch Anstalten machte, sich aufzurichten. Mit Grauen sah Henk, wie Valerius seine Ellenbogen auf dem Boden aufstützte und langsam, seinen Oberkörper aufrichtete.

Henk konnte nicht mehr denken. Er sprang auf und das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war Verwunderung, dass er seinen Körper nicht spürte, sondern sich ganz leicht anfühlte. Mit einem letzten Funken Verstand raffte er Mantel und Tüte vom Boden auf und rannte so schnell er konnte. An die Pistole in seiner Tasche dachte er nicht mehr.

Zwölf Tage waren vorüber. Übermorgen würde Van Buyten kommen. Sofern Henk übermorgen noch am Leben war. Mittlerweile verlief sein Leben in zwei Phasen, die sich abwechselten. Sein Leben tagsüber fühlte er sich sicher und durchlebte eine Mattigkeit und Hoffnungslosigkeit, die ihn nur noch von Stunde zu Stunde schleppte. Nachts dagegen herrschte blanke Panik in ihm. Dann starrte er stundenlang im Finstern zu dem Bullauge hinaus, ob sich Valerius noch einmal zeigen würde. Seit er ihn das erste Mal gesehen hatte, wusste er, dass der Andere draußen auf ihn lauerte. Schlafen konnte er schon lange nicht mehr und wenn, dann für ein paar Stunden, wenn der Körper sein Recht forderte. Die restliche Zeit lag er auf seinem Bett und horchte auf jedes kleine Geräusch. Es waren seltsame Geräusche von außerhalb des Pods zu hören. Manchmal ein Schaben an einer der Wände oder ein Schleifen auf dem Dach. Manchmal heulte auch nur der Wind durch das Ofenrohr. Und dann waren das auch leise winselnde Geräusche, als würde jemand draußen sitzen, der am Erfrieren war und unbedingt hereingelassen werden wollte. Dann saß Henk auch nur auf dem Fußboden mit einer Flasche Rotwein im Schoß und wiegte seinen Oberkörper hin und her.

Van Buyten wusste die Antwort. Darüber war sich Henk ganz sicher. Die zwei Hautlappen, die er Valerius abgenommen hatte, hatte er in zwei Tüten verteilt und in die Kühltruhe gelegt, wo sie zu blutigen Eisklumpen zusammengefroren waren. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, warum seine Auftraggeber ein Stück Haut als Beweis für die Durchführung wollten. Vielleicht war dieser Valerius eine Art Mutant, der über unglaubliche Selbstheilungskräfte verfügte. Und die Gangster arbeiteten für ein Labor, das diese Kräfte erforschen wollte. Vielleicht um ein neuartiges Medikament herzustellen. Aber dann hätten sie auch ganz normal mit Valerius zusammenarbeiten können. Der könnte sich wiederum geweigert haben. Auf jeden Fall war dieser Valerius kein normaler Mensch. Oder, und bei dem Gedanken lief Henk eine Gänsehaut über den Rücken, waren magische Kräfte im Spiel?

Ja, der Metallkoffer. Henk öffnete ihn und betrachtete nachdenklich die hölzernen Pfeile. Tötete man Vampire nicht, indem man ihnen einen Holzpfahl ins Herz rammte? Und hatte es nicht geheißen, dass ein Vampir nicht in ein Haus eindringen könnte, es sei denn, er würde eingeladen? Henk grinste schmerzlich. Dann wäre er ja sicher.

Diese Nacht war die schlimmste von allen bisherigen. Trotz der zwei Flaschen Wein, die Henk getrunken hatte, um einschlafen zu können, war er zwei Stunden später schweißgebadet wieder aufgewacht. Die Bedrohung, die die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte, war von einer Intensität, die Henk geradezu mit jeder Faser seines Körpers spürte. Ihm war, also ob direkt vor den Wänden seiner Behausung sich etwas Unheilvolles zusammenzog, das mit jeder Minute an Stärke gewann. Henk lag auf dem Rücken in seinem Bett und starrte die abblätternde Farbe auf der stählernen Zimmerdecke an. Ein Klopfen an der Außentüre ließ ihn zusammenfahren.

„Henk, bist du da?!“ Die Stimme war die Van Buytens. Henk bewegte sich nicht, wollte nicht, dass der Mann vor der Türe mitbekam, dass er wach war. „Henk! Es ist wichtig. Lebenswichtig! Wenn du da drin bist, mach auf und lass mich rein!“

Van Buyten klang panisch und klopfte stärker. Henk schwenkte die Beine über den Bettrand. Die Armbrust lag gespannt und geladen neben seinem Lager. Ohne zu überlegen griff er danach. Dann machte er drei Schritte zur Tür und entriegelte sie. Wie in Zeitlupe schwang die schwere Stahltüre nach innen.

Im Rahmen stand ein dunkler Schatten. Valerius. Henk war nicht einmal besonders überrascht. Sein langes weißes Haar wehte im Wind und seine Augen waren auf ihn, Henk gerichtet. Neben Valerius stand leise vor sich hin schluchzend Van Buyten, die Hände vor sein Gesicht geschlagen. „Es war für das Vampyrus.“

„Erzähl ihm ruhig die Story“, ordnete Valerius an. Die Hände nicht von seinem Gesicht nehmend, stammelte der Gangster die Geschichte hervor, auf die Henk die ganze Zeit gewartet hatte.

„Es ist eine uralte Legende. Wenn man von einem Vampir … die Haut abzieht … und daraus ein Pergament herstellt … dann heißt das Vampyrus und man kann man damit … also, wir wollten aus der Haut Vampyrus herstellen.“

„Immer schön der Reihe nach!“ Valerius packte Van Buyten an der Schulter, dass dieser zusammenzuckte. „Also, das Vampyrus hat angeblich magische Kräfte. Man kann Namen darauf mit Blut schreiben. Dem Blut desjenigen, der den Namen hat. Und dann kann man ihn beherrschen. Ich habe das am Anfang auch nicht geglaubt, aber unser Boss war ganz scharf darauf.“

„Und als dann jemand auftauchte, von dem das Gerücht umgeht, er sei ein Vampir, konntet ihr nicht widerstehen“, ergänzte Valerius mit einem bösartigen Grinsen. „Ihr hättet den alten Mann besser aufklären sollen.“

Henk verstand nicht, was Van Buyten erzählte, hörte aber gebannt zu. Valerius verharrte auf der Schwelle. Seine Augen übten eine morbide Faszination auf Henk aus. Es war, als ob er zu Valerius hingezogen würde. Ein irrer Gedanke kam in ihm auf. Er würde jetzt Van Buyten und Valerius hereinbitten. Er würde dem Vampir seine Haut zurückgeben und sie würden lachen und alles wäre wieder gut. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor er den Blickkontakt mit Valerius und in dem Moment erwachte sein Selbsterhaltungstrieb. Er wich zurück und hob die Armbrust, um auf Valerius anzulegen. Auf diese Entfernung konnte er ihn nicht verfehlen. Henk drückte in dem Moment ab, in dem Van Buyten sich völlig überraschend vor Valerius schob, um ihn mit seinem Körper zu decken.

Der Einschlag in Van Buytens Brust machte ein dumpfes Geräusch. Die Federn des Pfeils, die als einzige noch herausschauten, wirkten einen Moment wie ein absurder Anstecker. Van Buyten gab keinen Laut von sich. Dann fiel er Henk vor die Füße.

Valerius grinste. „Alter Mann, du hast tatsächlich etwas gelernt. Dein Pech ist nur, dass du wieder zu spät bist.“ Dann warf er den Kopf zurück und entblößte seine Reißzähne. Die Armbrust gesenkt in seiner rechten Hand haltend, stand Henk da und gewahrte mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit, wie Van Buyten gerade im Sterben seine Fußgelenke mit den Händen umklammerte.

Van Buyten röchelte etwas Unverständliches und zerrte an Henks Beinen. Henk war noch so überrascht von der Aktion des Mannes, dass er unfähig war, zu reagieren. Um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, machte er unwillkürlich einen Schritt vor die Türe des Pods. Im gleichen Moment trat Valerius vor, packte Henk am Genick und zog ihn zu sich. Als würde er sich von außen betrachten, wunderte sich Henk, wie seine Gedanken leer wurden. Am Rand seines Bewusstseins nahm er wahr, wie Van Buyten seine Beine losließ. Hilflos lag er in den Armen des Vampirs.

„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, flüsterte er Henk ins Ohr. Henk fühlte Valerius kalten Mund an seinem Hals. Das Gefühl war nicht abstoßend, eher zärtlich. Der Biss des Vampirs war nicht schmerzhaft, sondern nur ein dumpfes Gefühl. Henk ließ seine Waffe fallen und sank auf die Knie. Valerius gab ihm nach, ließ sich mit ihm zu Boden, ihn stets fest im Arm haltend. Und als Henks Blut herausquoll und mit ihm sein Leben, fühlte Henk sich glücklich. Glücklich, jemanden zu haben, der ihn im Arm hielt.