Gabriele Susanne Schlegel
Das Vampirschwein
Ein Vampirschwein? Bist Du bescheuert?“ Sira konnte den Blick nicht von dem bleichen Schwein abwenden. Es hockte im behelfsmäßigen Stall in der Garage auf den Hinterbeinen und starrte sie drohend mit roten, unnatürlich großen Augen an. Marcel hatte den hinteren Bereich der Garage mit einem schweren Eisengitter abgetrennt, es sah eher wie ein Gefängnis, als wie ein Schweinestall aus. Das Garagentor hatte er zusätzlich mit Decken abgedichtet, damit morgen früh kein Tageslicht eindringen konnte.
Sira wandte sich zu ihm um. „Es ist nicht erlaubt. Wir machen Tiere nicht zum Vampir. Niemals! Das ist gegen die Regel! Hast du das Vieh tatsächlich von deinem Blut trinken lassen? Igitt! Das ist abartig.“
Marcel wollte sie am Arm packen, doch sie wich ihm aus. Er sah sie beschwörend an. „Nun hör mir doch erst mal zu: Wenn wir aus seiner Haut Vampyrus machen können, wenn es funktioniert, dann hat die Jagd der Magier auf uns ein Ende. Verstehst du denn nicht? Wir besorgen Ihnen die Schweine und …“
„Es wird überhaupt nicht funktionieren, weil es ein Tier ist. Ohne Verstand“, fiel sie ihm ins Wort. Die Wut hatte ihre Eckzähne lang werden lassen, sie glitzerten im Schein der schwachen Garagenbeleuchtung. „Es reicht schon, wenn einige von uns, sich von Tierblut nähren“, sie schüttelte sich, „aber einen Tiervampir erschaffen? Davon habe ich noch nie gehört.“
„Es gibt Vampirfledermäuse!“
Ihre Augen wurden dunkel. „Willst du mich jetzt verarschen? Du weißt doch genau, dass die gar nichts mit uns zu tun haben. Nichts! Sie leben! Sie atmen! Sie …“
Er hob beschwichtigend die Arme. „Ja, ist ja schon gut. Bitte lass mich doch das mit dem Schwein versuchen. Warum regst du dich nur so auf? Hast du nicht gehört, was sie mittlerweile tun? Sie halten sich Vampire in Verliesen und schneiden ihnen die Haut vom Rücken. Sie geben ihnen Tierblut vom Schlachthof, um sich zu nähren. Kaltes Blut! Es reicht gerade, um sich zu regenerieren. Damit sie ihnen wieder die Haut vom Rücken schneiden können. Sie haben mittlerweile einen riesigen Verbrauch von Vampyrus. Hast du denn noch nicht mitgekriegt, wie Minister, Großindustrielle und Banker ihre Meinungen wechseln? Kehrtwendungen um 180 Grad von heute auf morgen? Bewilligung von Krediten für die abstrusesten Dinge?“
Sie rieb sich über die Arme, als ob sie frösteln würde. Natürlich fror sie nicht. Das war eine angenehme Seite des Vampirseins. Zu heiß oder zu kalt gab es nicht mehr. Aber Schmerz, Schmerz konnten sie noch empfinden. Die Wunden heilten, selbst schwerste Verletzungen. Sofern sie ihren Kopf aufbehielten und ihnen nicht ein Holzpflock ins Herz getrieben wurde, heilten sie innerhalb weniger Stunden. Wenn sie frisches, warmes Blut tranken, Menschenblut, dann ging es schneller. Eine Stichwunde schloss sich in Minuten, aber die Qual der Regeneration. Wie tausend Nadelstiche, nein Millionen Bienenstachel mit Widerhaken, die sich ins Fleisch wühlten.
Marcel dachte an Valentin. Er war seit Tagen verschwunden. Es sah ihm nicht ähnlich, einfach zu flüchten und niemanden zu sagen, wohin er ging. Sie waren Freunde. Der Einzige, den er Freund nennen konnte unter den Wesen der Nacht. Sie, die Jäger, waren plötzlich zu Gejagten geworden. Wie hatte das nur geschehen können? Verdammtes Vampyrus. Niemand wusste, wer es herausgefunden hatte. Aus Vampirhaut hergestelltes Pergament fing die Seele einer lebenden Person, wenn man deren Namen mit deren eigenem Blut auf das Pergament schrieb. Danach tat diese Person alles, was man weiterhin auf das Pergament notierte. Sie wechselte ihre Gesinnung, sie tötete andere oder auch sich selbst. Und der Bund der Magier sah hierin endlich ihre Chance, ihren Einfluss zu vergrößern. Sie herrschten im Verborgenen, waren die Puppenspieler, die, die Fäden zogen. Ihre Machtgier war unendlich größer, als die Gier der Vampire nach Blut. Schon lange töteten die Vampire keine Menschen mehr. Es war auch nicht nötig: Mit ihrem Vampir-Charisma fanden sie immer Menschen, die sich bereitwillig beißen ließen. Aber die Magier versklavten die Seele. Das war schlimmer als der ewige Tod, als ein bisschen Blutverlust. Es war die vollkommene, gewissenlose Bösartigkeit. Sollte er ihnen wirklich auch noch mit dem Schwein helfen? Aber sie würden es doch sowieso tun.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, und manchmal war er sich sicher, sie könnte es, sagte Sira: „Wenn du ihnen diese Schweine gibst – also angenommen, es funktioniert mit der Schweinehaut auch – dann gibst du ihnen noch größere Macht in die Hände. Sie kämen noch einfacher an das Vampyrus. Wenn sie erst einmal alles kontrollieren, glaubst du, sie lassen uns dann noch frei herumlaufen? Wir, deren Seele sie nicht bannen können? Die Jagd auf uns wird von Neuem losgehen und diesmal werden wir alle in ihren Kerkern enden. Das Schwein wäre nur ein Aufschub, wenn überhaupt. Ich traue ihnen auch zu, einfach das Schwein zu nehmen und trotzdem noch Vampire zu hetzen. Es ist doch wie ein Sport für sie, das werden sie sich nicht nehmen lassen.“
Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Knirschen. Sie hatten während ihres Streites nicht mehr auf das Schwein geachtet. Mit einem merkwürdigen hohen Knurren raste es zwischen Ihnen hindurch und stanzte ein Loch in das Garagentor. Marcel verlor Zeit, weil er das Garagentor erst öffnete, bevor er dem Schwein folgte. Sira, die viel zierlicher als er war und sofort durch das Loch geschossen war, war schon außer Sicht. Genauso wie das Schwein.
Martin Berger war gerade im Badezimmer, um sich den Tagesschweiß abzuwaschen, als er den Aufruhr im Schweinestall hörte. Das Fenster ging zum Hinterhof hinaus, gegenüber lagen die Scheune und daneben der Stall. Ein Scheppern und Quieken drang durch die Nacht. Angstvolles Quieken so schien es ihm. Hatte sich ein Fuchs in den Stall verirrt? Er streifte sein Hemd wieder über und rannte auf den Flur. Seine beiden Söhne waren noch nicht aus der Kneipe nach Hause gekommen, es lag an ihm, nach dem Rechten zu sehen. Er schlüpfte in seine Stiefel, riss den Flurschrank auf, seine Hand schwebte kurz über Schrotflinte und Jagdgewehr, entschied sich für die stärkere Waffe, riss sie heraus. Die Munition lag gleich daneben, was eigentlich verboten war. Im Laufen lud er die Waffe. Der Radau aus dem Stall hatte sich in ein Crescendo aus trommelnden Hufen und beinah menschlich anmutende hohe Schreie verwandelt. Das war kein Fuchs, aber Wölfe gab es doch hier nicht mehr. Zu Zeiten seines Großvaters sollen noch Wölfe in den Wäldern oberhalb der Heißinger Straße herumgestrichen sein und in besonders kalten Wintern … Aber es war ja gar nicht Winter.
Er hatte die Stalltür erreicht, riss sie auf und stürmte mit dem Gewehr im Anschlag in den Stall. Seine unzusammenhängenden Gedanken über Wölfe und vergangene Zeiten ließen ihn erst gar nicht erfassen, was er sah. Ein Schwein, ein grässliches fahles Tier hatte die Muttersau gerissen und saugte an seinem Blut. Ein kleines Ferkel lag tot vor der noch zuckenden Mutter, die anderen drängten sich in der äußersten Ecke des kleinen Abteils und schrien schrill. Die Schweine in den drei anderen Pferchen machten einen Höllenlärm. Während der Bauer noch zu begreifen versuchte, was hier geschah, ließ das Monsterschwein plötzlich seine Beute fallen und starrte ihn aus roten, für ein Schwein viel zu großen Augen an. Es knurrte und offenbarte spitze Hauer aus einem blutverschmierten Maul.
Martins Gehirn war wie leer gewischt, er starrte das Biest an und konnte es einfach nicht glauben. Wahrscheinlich lag er schon längst im Bett neben Irmi und träumte diesen Mist nur. Das kam von diesem blöden Film in den ihn Irmi und seine Tochter Emilia geschleppt hatten, so eine Vampir-Liebesschnulze. Die Vampire hatten im Sonnenlicht geglitzert, was Blöderes hatte er noch nicht gesehen. Und das war jetzt dabei herausgekommen, ein Traum über eine Blut trinkende Sau. Schade, dass Nacht war, vielleicht hätte das Vieh ja sonst im Licht, das am Tag durch die Oberfenster scheint, geglitzert. Martin hörte ein irres Kichern und nach einer Weile ging ihm auf, dass er das war. Dieses Geräusch und das Schwein, das plötzlich über die hüfthohe Absperrung sprang, machten ihm klar, dass es doch kein Traum war. Das Gewehr dröhnte zwei Mal, das Tier wurde im Sprung herumgerissen, die Kugeln bohrten sich in Kopf und Seite.
„Ha Irmi, jetzt siehst du mal, warum ich immer hinter dem Haus schießen übe“, rief Martin laut. Das Schwein, obwohl tödlich getroffen, rappelte sich jedoch schon wieder auf und knurrte tief. Noch nie hatte er ein Schwein so ein Geräusch von sich geben hören. Martin blinzelte: Wieso war es nicht tot? Er wollte das Jagdgewehr nachladen, doch er war nicht schnell genug, das Schwein sprang ihn an und die Munition fiel ins Stroh. Er sah das geifernde Maul und die spitzen Zähne genau vor sich, roch den stinkenden Atem. Es roch nach altem fauligem Fleisch. Martin versuchte das Vieh wegzudrücken, dabei rissen zwei Knöpfe seines Hemdes und das Silberkreuz, das er seit seiner Kommunion trug, kam zum Vorschein. Das Schwein quietschte und fuhr zurück.
Martin brauchte einen Augenblick, bis er verstand. Das Kreuz! Er hielt es, soweit es die Kette zuließ vor sich, und trieb das Schwein vor sich her, bis in eine leere Ecke des Stalls. Wenn das Kreuz funktionierte … Er sah sich kurz um. An der Seite lehnte die Mistgabel mit dem angeknacksten Stiel, er hatte ihn reparieren wollen, doch jetzt nahm er die Gabel und knallte den Stiel auf die kleine Abtrennungsmauer. Der Stiel brach, das Teil mit der Mistgabel fiel auf die andere Seite. Martin hatte nun eine Art kurzen Holzspeer in der Hand. Ein Pflock, mit einem Pflock ins Herz tötete man Vampire. Er holte aus und stieß mit aller Kraft zu. Mit einem widerlich knirschenden Geräusch bohrte sich der Pflock in das Schweineherz. Das Monster jaulte auf, dann rührte es sich nicht mehr. Martin stieß es vorsichtig mit der Schuhspitze an, es fiel auf die Seite und war ganz augenscheinlich tot. Er atmete auf. Hinter ihm wurde die Stalltüre geöffnet, er wirbelte herum, doch es standen nur Irmi und seine Tochter Emilia in der Tür, die die Schüsse gehört hatten. „Mann, Papa, das ist ja voll krass, ey!“, flüsterte Emilia.
Inzwischen war Marcel, der dem Geruch des Schweins gefolgt war, beim Bauernhof angekommen. Er sah gerade noch, wie Sira im Stall verschwand, und folgte ihr sofort. Wieso hatte er sich das nicht gleich gedacht, das Schwein war wieder dahin zurückgegangen, wo es hergekommen war. Im Stall stand ein blutbespritzter Bauer über dem gepfählten Schwein und zwei entsetzte Frauen waren gerade dabei, sich vorsichtig das tote Vieh anzusehen. Nun fuhren alle drei erschrocken zu ihm herum. Auf der Brust des Mannes funkelte das schmerzhafte Ding. Marcel spürte, wie das Zeichen des Erlösers an seinem Herzen zog, wie es sein Herz zum Schlagen bringen wollte – oh, dieser Schmerz! Er wandte sein Gesicht ab und stolperte zurück, Sira trat ihm auf die Füße, dann drehte sie sich herum und verschwand in der Nacht.
„Scheiße, noch so ein Biest. Los, hinter meinen Rücken!“ Der Bauer zog seine Frau hinter sich, seine Tochter entwischte ihm jedoch. „Mensch Papa. Das ist ein echter Vampir. Sieh nur, wie er seine Reißzähne fletscht. Cool!“
„Komm sofort her.“ Der Bauer machte einen Schritt auf seine Tochter zu, doch Marcel war schneller. Er packte die Tochter am Arm, riss sie zu sich heran und wich wieder bis an die Wand zurück. Die Kleine wehrte sich nicht einmal, dabei hatte er sie gar nicht bezirzt. „Pack das Kreuz weg“, zischte er, „und ihr passiert nichts.“ Reglos glotzte ihn der Typ an. Seine Frau trat neben ihn und versuchte sein zerrissenes Hemd über dem Kruzifix zu schließen. „Bitte“, flüsterte sie, „tun Sie Emilia nichts.“
Das Mädchen regte sich und Marcel packte fester zu, doch sie wollte gar nicht entkommen. Sie strich sich die schwarz gefärbten Haare zur Seite und entblößte ihren Hals. „Bitte beiß mich, mach mich zum Vampir. Oh, davon träume ich schon so lange …“
„Emilia!“, brüllte ihr Vater. „Hör auf, dich so zu benehmen.“ Dann sah er Marcel an. „Ich habe sie wieder erkannt. Das war meine Sau, meine Zuchtsau. Was hast Du mit ihr angestellt, du blöder Glitzerheini? Meine Tochter wird nicht so ein Monster. Siehst Du, das Kreuz ist verdeckt. Lass meine Tochter los und hau ab.“
Marcel leckte sich über die Lippen, was für eine vertrackte Situation. Und dieser Schwachsinn mit dem Glitzern. Sogar der alte Knacker hatte diesen verschwuchtelten Vampirfilm gesehen. Er wünschte sich so sehr wieder ins achtzehnte Jahrhundert zurück. Das waren noch Zeiten. Er schüttelte den Kopf, um wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden. „Okay, ich lasse sie laufen …“
„Oh nein, bitte, beiß mich.“ Emilia stellte sich nun sogar auf Zehenspitzen. Oh, wie süß ihr Blut roch, Jungfrauenblut. Er hatte sich heute noch nicht genährt. Er sollte sie einfach alle niedermähen, sich dem Blutrausch hingeben, wie früher. Nein, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Nicht wegen der örtlichen Polizei, die kratzte ihn nicht. Doch die Magier würden anfangen in der Umgebung zu jagen. Bis jetzt waren Sira und er hier sicher gewesen. Sira, wie weit war sie weggerannt? Nun, sie war noch jung.
„Beiß mich, beiß mich.“ Das verrückte Mädchen wand sich in seinem Arm. „Wenn du ruhig bist“, sagte er und blinzelte dem Bauern zu. Dann bezirzte er den Bauern und seine Frau. Der Bauer holte einen Spaten und fing an weit hinter dem Schuppen ein Loch zu schaufeln. Marcel würde ihm helfen, das Schwein in das Grab zu werfen. Wenn alles vorbei war, würden sie sich alle an einen tollwütigen Fuchs im Schweinestall erinnern. Dabei war leider noch ein Schwein gestorben. Marcel brauchte schließlich eines für einen neuen Versuch. Und das Mädchen, die brauchte noch eine Lektion. Verdammt. Eigentlich brauchte ihre ganze Generation eine Lektion. Glitzernde Vampire, die mit Sterblichen herumknutschten, ohne sie zu beißen. Igitt. Er würde sich noch etwas einfallen lassen. Mit dem Bezirzen des Mädchens würde er sich noch Zeit lassen. Dazu brauchte er eine richtig gute Geschichte. Er grinste. Zum Vampir würde er diese Irre jedenfalls nicht machen. Vampire überlegten genau, wen sie zu Ihresgleichen erhoben. Hm, vielleicht war das doch eine blöde Idee mit dem Vampirschwein.