
»Wo steht das geschrieben?«, fragte Philippa.
Sie fand, das sei eine vernünftige Frage, doch Nimrod gab keine Antwort. Ihr Onkel hatte Professor Stürlüson entdeckt, der an einem langen Seil aus dem Inneren des Vesuvs hinaufkletterte, und lief bereits über einen verlassenen Pfad in den Krater hinab, um ihn zu begrüßen. Philippa und John folgten ihm zu einem Felsvorsprung, dessen Form an das Matterhorn erinnerte. Dort war die Abseilleine des Professors fachmännisch befestigt, und ein großer blonder Mann verfolgte aufmerksam Stürlüsons mühsamen Aufstieg.
Philippa fand den hochgewachsenen Mann ausgesprochen attraktiv.
»Mein lieber Axel«, sagte Nimrod, »wie geht es Ihnen? Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Neffen und meine Nichte, John und Philippa, vorzustellen. Kinder, dieser wackere Bursche ist Axel Heimskringla.«
Der junge Mann begrüßte Nimrod und die Zwillinge sehr herzlich auf Isländisch, wandte die blauen Augen jedoch keine Sekunde von dem straff gespannten Kletterseil ab. Schließlich tauchte mit einem lauten Ächzen ein drahtig wirkender Mann zu ihren Füßen auf; er war staubig und verschwitzt und trug eine schwarze Harlekinmaske. Er zog sich in den roten Staub des Kraterpfades und setzte sich schwerfällig auf den Hintern.
John beugte sich ein wenig vor, weil er neugierig war und das ganze Ausmaß der schrecklichen Verbrennungen sehen wollte, die hinter der Maske versteckt sein mochten, und entdeckte ein Ohr, das nicht größer war als das eines Kindes.
»Snorri, mein lieber Freund«, sagte Nimrod. »Ich habe mit meiner Nichte und meinem Neffen in Sorrent Urlaub gemacht und die Aschewolke entdeckt. Also dachte ich, ich komme rauf und sehe mir die Sache näher an. Wenn auch nicht ganz so nah wie Sie gerade. Was glauben Sie? Ist die Lage sicher?«
Der Professor antwortete erst, als er ein wenig verschnauft und zweieinhalb Liter Wasser getrunken hatte. Wegen der Maske war es schwer zu sagen, ob er Nimrods Gegenwart überhaupt zur Kenntnis genommen hatte oder nicht. Doch schließlich nickte er erschöpft und sagte: »Im Augenblick ist es einigermaßen sicher, denke ich. Ich habe eine Lavaprobe genommen. Von einer Stelle, die so dicht an der Spalte lag, wie ich mich herangewagt habe. Eigentlich ist es unerlässlich, noch mehr davon einzusammeln, ehe ich eine langfristige Prognose erstellen kann, aber die Hitze und die Erschöpfung waren einfach zu viel. Ich bin nicht mehr der Kletterer, der ich früher einmal war.«
Sowohl der Professor als auch Axel hatten einen starken isländischen Akzent, was sich ein bisschen wie ein skandinavischer Akzent anhörte, nur kälter.
Der Professor hob die Arme und gestattete Axel, das Seil aufzuknoten, das er sich um den Bauch gebunden hatte. In diesem Moment fiel John auf, dass der Wissenschaftler an einer Hand einen Handschuh trug. Als dieser in der Sonne aufleuchtete, glaubte John zunächst, er sei mit Glitzersteinen besetzt, und es dauerte einen Augenblick, ehe ihm klar wurde, dass er aus Kettengewebe bestand.
»Wir werden alle nicht jünger«, erwiderte Nimrod. »Ich fürchte, die Zeit, als ich wie ein Affe an Seilen hoch- und runtergeklettert bin, ist ebenfalls lange vorbei.«
»Ich gehe runter«, sagte Axel und schlang sich das Seil selbst um die Taille.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Du bist zu schwer.«
»Aber es ist ein gutes Seil«, ließ Axel nicht locker. »Da dürfte nichts passieren. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du unbedingt noch ein paar Lavaproben brauchst.«
»Um das Seil mache ich mir keine Gedanken«, erwiderte der Professor, »sondern um den Kraterboden. Ich wiege nur halb so viel wie du, trotzdem hat sich der Boden unter dem Staub sehr spröde angefühlt. Wie eine Honigwabe. Du könntest mit Leichtigkeit einbrechen.«
John sah über den Rand des Pfades und fand, dass das Kraterinnere eigentlich ganz vertrauenerweckend aussah. Der Vulkan war komplett anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Wäre die dicke Rauchwolke nicht gewesen, die aus dem Spalt in der Kraterwand drang, hätte er ihn direkt langweilig gefunden. Da Philippas Unterstellung, er sei nicht mutig genug, einen aktiven Vulkan zu besteigen, immer noch an ihm nagte, wollte er seinem Onkel unbedingt beweisen, dass er nicht nur die Außenseite des Vesuvs erklimmen, sondern auch in sein Inneres absteigen konnte.
»Warum lassen Sie es mich nicht versuchen?«, schlug er daher vor. »Es müssen noch weitere Lavaproben gesammelt werden, sagen Sie? Also, das kann ich. Und die Hitze macht mir nichts aus. Schließlich bin ich … «
Nimrod hielt John den Mund zu. »Vorlauter Bengel«, sagte er. »Professor Stürlüson? Das ist mein Neffe John. Und meine Nichte Philippa, seine Schwester. Wie die meisten Kinder halten sie sich für unsterblich. Vor allem John. Man könnte meinen, er hätte Superkräfte, so wie er sich aufführt. Er hat noch nicht gelernt, dass er auch nur ein Mensch ist wie wir alle. Hab ich recht, John?«
»Wenn du das sagst, Onkel«, murmelte John, der beinahe vergessen hatte, dass diese beiden Menschen nichts von ihrer Herkunft wussten.
Doch Professor Stürlüson ließ sich davon nicht beirren. Er stand auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern, die denen eines altmodischen Bergsteigers entsprachen – Gamaschen, Kniebundhose und Flanellhemd –, packte mit seinem Kettenhandschuh Johns Rechte und schüttelte sie heftig. »Unsinn, Nimrod«, sagte er und schlug John auf die Schulter. »Er ist ein wackerer Bursche. Und Sie sollten stolz auf ihn sein. Sehr stolz. Natürlich kann man einem Jungen nicht erlauben, hinunterzusteigen und echte Männerarbeit zu erledigen … «
»Bei allem gebührenden Respekt, Sir«, sagte John, »aber jetzt sind Sie es, der Unsinn redet. Sie haben selbst gesagt, dass es unerlässlich ist, weitere Proben zu sammeln, und dass Dr. Kreimhingla für den Kraterboden zu schwer ist.«
»Heimskringla«, sagte Axel und gab sich Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. »Ich heiße Heimskringla.«
»Also, wenn er nicht runterkann und Sie und Nimrod auch nicht, bleiben nur noch meine Schwester und ich übrig«, argumentierte John. »Und ich lasse kein Mädchen runtersteigen, wenn ich es selbst erledigen kann.«
»Sexist«, sagte Philippa.
»Hast du dich denn schon einmal mit einem Seil abgelassen, Junge?«, fragte Axel. »Das ist extrem gefährlich. Beim Abseilen verunglücken die meisten Bergsteiger, weil es viel einfacher aussieht, als es ist.«
»Trotzdem ist das Abseilen immer noch leichter, als wieder hinaufzuklettern«, fügte der Professor hinzu.
»Und ob ich an einem Seil hochklettern kann«, sagte John. »Ich bin schließlich ein Junge, und es gibt nichts, was Jungs besser können. Natürlich wünschte ich mir, ich wäre ein noch besserer Kletterer.«
Und indem er leise sein Fokuswort, ABECEDERISCH, murmelte, wurde er es. Die Macht der Dschinn besteht nämlich darin, sich im Handumdrehen neue Fähigkeiten und neues Wissen anzueignen.
»Ich weiß, was ich tue.«
Was jetzt tatsächlich der Fall war.
John nahm ein freies Stück Seil und fing an, Knoten zu knüpfen. »Hier«, sagte er. »Das ist ein doppelt geschlagener Prusik.« Er löste den Knoten so schnell, wie er ihn geknüpft hatte, und fertigte einen neuen an. »Ein französischer Prusik.« Und dann noch einen: »Ein Halbmastwurf.«
»Beeindruckend«, sagte Axel.
»Und hier ein Stopperstek«, prahlte John. »Kann einer von euch einen Stopperstek legen?«
Axel wirkte verblüfft. »Äh, nein«, sagte er.
»Außerdem gibt es einfachere Möglichkeiten, an einem Seil aufzusteigen, als die Art, die ich gerade bei Ihnen gesehen habe, Professor«, sagte John. »Da Sie wissen, wie man sich abseilt, hätte ich vermutet, dass Sie auch ein paar Steigklemmen im Gepäck haben.«
Es war schwer zu sagen, ob der Professor hinter seiner Maske verlegen aussah oder nicht, auf jeden Fall hörte sich sein »Nein« danach an.
»Dann ist es ja gut, dass ich meine eigene Ausrüstung mitgebracht habe.« John ließ seinen Rucksack zu Boden fallen und holte einen Klettergurt, mehrere Karabiner, eine Handvoll Steigklemmen, fingerlose Kletterhandschuhe, einen Eispickel und einen Helm heraus.
»Ich sehe, du bist gut vorbereitet, Bruderherz«, sagte Philippa.
»Mit einem Mann, der seinen eigenen Klettergurt dabeihat, lässt sich schlecht streiten«, sagte der Professor. »Sie haben uns nicht gesagt, dass der Junge so gut ist, Nimrod.«
»Er hat so viele Fähigkeiten, dass mir diese ganz entfallen ist«, sagte Nimrod.
»Solange es das Einzige ist, was fällt«, meinte Philippa, »kann nicht viel passieren.«
Während John seinen Klettergurt anlegte, warf sie ihm einen skeptischen Blick zu. »Weißt du wirklich, was du da tust?«, fragte sie.
»Das weiß niemand besser als du«, erwiderte er.
Philippa nickte. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass ihr Bruder recht hatte, denn Zwillinge besitzen von Natur aus seltsame Gaben und wissen oft von Dingen, die sie nur durch Telepathie erfahren können.
»Also gut«, sagte sie. »Dann gehe ich mal davon aus, dass du wirklich weißt, was du tust.«
Erst als John angeseilt bereitstand, um sich auf den Grund des Kraters hinabzulassen, der sich dreißig Meter unter ihm befand, wurde er ein wenig nervös. Durch den Wunsch, den er geäußert hatte, wusste er zwar, was er tat, aber etwas zu wissen oder es zu empfinden, sind zwei grundverschiedene Dinge. Und John zog seine Zuversicht nun einmal fast gänzlich aus seinem Kopf statt aus seinen Händen und Füßen. Das war nicht überraschend und spielte vermutlich auch keine große Rolle. Denn wie der verstorbene Mr Rakshasas einmal gesagt hatte: »Wer keine Angst vor dem Meer hat, wird bald ertrinken.«
Axel befestigte einen hitzefesten Probenbeutel und eine Teleskopkelle an Johns Gurt, während ihm der Professor einschärfte, was er tun sollte, wenn er unten ankam.
»Bleib so dicht wie möglich an der Kraterwand«, sagte er. »Der Staub ist trügerisch und gibt unter den Füßen nach wie eine Sanddüne. Du musst dich an der Wand bis zum Spalt vorarbeiten. Je näher du ihm kommst, desto wärmer wird das Gestein. Wenn es richtig heiß wird oder du so dicht an der Rauchsäule bist, dass du es nicht mehr ertragen kannst, schlag einen Haken in die Wand und seil dich ein Stück ab. Unterhalb der Rauchsäule befindet sich ein frischer kleiner Lavastrom. Es ist wichtig, dass du Gestein und Lava auseinanderhältst, John, weil uns nur frische Pāhoehoe-Lava einen genauen Eindruck davon vermitteln kann, was unter der Erde vor sich geht. Pāhoehoe-Lava ist glatt und wulstig und wellt sich ähnlich wie ein Vorhangstoff. Aber in Wirklichkeit ist es geschmolzenes Gestein und um die zwölfhundert Grad heiß, also fass es um Himmels willen nicht mit bloßen Händen an. Benutz die Probenkelle. Such dir einen Zacken oder einen Ausläufer am Rand des Hauptstroms und schütte etwas Wasser darauf. Das müsste ihn vom Strom lösen, und du kannst ihn mit der Kelle aufheben.
Und jetzt noch ein paar Verhaltensregeln: Sei mit allen Sinnen wachsam. Solltest du in der Kraterwand eine Erschütterung spüren, dann geh vom Schlimmsten aus und komm sofort wieder nach oben. Das Gleiche gilt, wenn du eine Explosion hören solltest. Versuche, möglichst leicht aufzutreten. Womöglich ist der Boden dünn, und du könntest in die Tiefe stürzen. Und selbst wenn du nicht einbrichst, entsteht durch ein Loch genug Sauerstoff, um eine Stichflamme zu verursachen, die dich mit Sicherheit verbrennt, mein Junge. Und pass auf, dass das Seil nirgendwo herumliegt, damit es nicht schmilzt. Es ist aus Nylon, verstehst du? Nylon schmilzt, wenn es heiß wird. Wie das Hemd deines Papas, wenn deine Mama mit dem Bügeleisen nicht aufpasst.«
John nickte mit ernstem Gesicht. Sein Vater hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein Nylonhemd getragen, aber das tat jetzt nichts zur Sache.
»Wovor du dich am meisten in Acht nehmen musst, ist Gas. Das kann dich am ehesten umbringen, mein Junge. Ich rede hier nicht von Gas, das nach Schwefel und faulen Eiern stinkt und diesem ganzen kjaftæði. Ich rede von etwas viel Schlimmerem: von Kohlendioxid. CO2 kann man weder riechen noch schmecken. Aber es hat eine größere Dichte als Luft, und du siehst es vielleicht wie Rauchschwaden über den Boden ziehen. Also halte die Augen offen. Wenn du das Gefühl hast, müde zu werden, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass dir CO2 zusetzt. Wenn das passiert, machst du dich so schnell wie möglich in die entgegengesetzte Richtung davon.«
Professor Stürlüson zuckte die Achseln. »Ich könnte dir noch jede Menge andere Gefahren beschreiben, aber mit diesen müsstest du zurechtkommen.«
»Bei meiner Lampe«, sagte Nimrod, »noch eine weitere lebensbedrohliche Gefahr und ich lasse den Jungen auf keinen Fall hinuntersteigen. Das schwöre ich Ihnen.«
»Ist schon gut«, sagte John. »Ich nehme mich in Acht. Verlass dich drauf.«
Über die Kante zu gehen, war das Schlimmste, weil dies der Moment war, in dem John sein Leben der Ausrüstung anvertraute, die er aus dem Nichts geschaffen hatte. John überprüfte seinen Karabiner und den Abseilachter, der daran befestigt war, dann gab er Gewicht auf das Seil, lehnte sich nach hinten und begann, über den Kraterrand die glatte Wand hinabzumarschieren.
