Fallout

John, dem der Kummer seiner Schwester sehr zu schaffen machte, ließ Philippa während der ersten Stunden ihres Flugs nach Südostasien in Ruhe.

Doch der Anblick der vielen rauchenden Vulkane auf Sumatra und auch im restlichen Indonesien, wo der Himmel aussah wie nach einem Atomkrieg, veranlasste ihn, nach hinten zu gehen, sich neben seine Schwester zu setzen und ihr den Arm um die Schulter zu legen.

»Sieht ziemlich übel aus«, sagte er.

»Hmmm.« Sie strich Moby über den Kopf. »Ja, sehr übel.«

»Professor Stürlüson meint, wenn es uns gelingt, die Sache rechtzeitig aufzuhalten, könnten die vulkanischen Aktivitäten auch etwas Gutes bewirken. Weil sie die Böden fruchtbar machen. Wie am Vesuv. Vulkanasche enthält alle möglichen Nährstoffe für den Boden. Er meint, es gibt Gegenden auf der Welt, in denen kaum etwas wächst, und die könnten von den vermehrten vulkanischen Aktivitäten profitieren.«

»Immer vorausgesetzt, es kommt noch genug Sonnenlicht durch, damit überhaupt etwas wachsen kann«, sagte Philippa.

John warf einen Blick über die Schulter. »Ich glaube, mit Maske hat er mir besser gefallen«, sagte er.

»Mir auch. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass er aussieht wie ein Mädchen, das ich aus der Schule kenne.«

»Ist das so?«

Philippa nannte einen Namen.

»Oh Mann«, sagte John. »Du hast recht.«

»Vielleicht sollten wir mit Nimrod sprechen«, sagte Philippa. »Und fragen, ob wir ihm zu einem neuen Gesicht verhelfen können.«

»Nimrod meint, es wäre höflicher, zu warten, bis wir gefragt werden«, sagte John. »Aber ehrlich gesagt, habe ich ihm schon geholfen. Er hat es nur einmal kurz erwähnt, und ich dachte mir, Nimrod würde nichts dagegen haben.«

»Was denn?«

»Kannst du es dir nicht denken?«

Philippa überlegte kurz und nickte dann. »Ja, das gefällt mir. Eine gute Idee. Ich hätte das Gleiche getan. Hauptsache, sein Gesicht erinnert uns nicht ständig an … «

»Daisy Bohemio.«

Wieder nickte Philippa.

John grinste. »Worüber hast du nachgedacht«, fragte er, »bevor ich mich neben dich gesetzt habe?«

»Als ob du das nicht wüsstest«, sagte Philippa.

»Das kann schon sein«, sagte er. »Aber mir ist es trotzdem lieber, wenn du es sagst. Ich kann mich nicht so gut in deine Gedanken einblenden wie du in meine.«

»Das ist Telepathie«, sagte Philippa. »Warum sagst du es nicht einfach?«

»Weil es mir Angst macht.« Er zuckte die Achseln. »Außerdem spüre ich es mehr, als dass ich es weiß, falls du verstehst, was ich meine.«

»Das geht mir nicht anders«, sagte Philippa. »Du glaubst, ich kann es besser, Bruderherz, aber das stimmt nicht. Ich habe nur einen direkteren Draht zu meinen Gefühlen als du. Wahrscheinlich, weil ich ein Mädchen bin.«

»Ich dachte, es liegt daran, dass du klüger bist.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Du bist nur auf eine andere Art klug, sonst nichts. Aber wenn du mich schon fragst: Ich habe darüber nachgedacht, dass ich, falls ich jemals vor die gleiche Entscheidung gestellt werde wie Charlie, hoffentlich genug Mumm haben werde, um das Gleiche zu tun.«

»Das hoffe ich auch«, sagte John. »Aber ich glaube nicht, dass man wissen kann, wie man in einer solchen Situation handeln würde, ehe man es wirklich tun muss, oder was meinst du? Natürlich möchte sich jeder gern mutig zeigen, aber nicht jeder kann so aufopferungsvoll sein.«

»Und was willst du damit sagen, Bruderherz?«

John zuckte die Achseln. »Nur, dass ich nicht weiß, ob ich so mutig sein könnte wie Charlie, mehr nicht. Und ich glaube, dass man das erst weiß, wenn der Moment gekommen ist.«

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte Philippa.

»Schön für dich«, sagte John. »Aber ich nicht. Noch nicht. Mehr will ich damit nicht sagen.«

»Glaubst du denn nicht, dass manche Dinge es wert sind, dafür zu sterben?«, fragte Philippa.

»Natürlich tue ich das. Aber ich finde, um wirklich mutig zu sein, muss man zuerst Angst haben. Und an dem Punkt bin ich gerade. Wenn man nicht zuerst Angst hat, ist das, was man tut, nicht mutig, sondern – was weiß ich – verrückt, waghalsig oder unbesonnen.« John lächelte. »Aber hör mal, Phil, das ist alles nur Gerede, nicht? Diese ganze Unterhaltung ist rein theoretisch, oder? Es gibt keinen echten Anlass, darüber zu reden, dass man für eine Sache sein Leben opfert, nicht?«

Philippa zuckte die Achseln. »Nein, vermutlich nicht. Ich wollte einfach, dass du weißt, wie ich über diese Dinge denke.«

John lächelte. »Als ob ich das nicht wüsste«, sagte er.

Auch Nimrod war tief beeindruckt von Charlies mutiger Selbstaufopferung. Er hatte kaum an etwas anderes gedacht, seit sie die Bestattungsfeier am Docker River verlassen hatten. Und es war nicht zu übersehen, dass der Tod des beherzten Aborigines auch auf die Kinder gewaltigen Eindruck gemacht hatte. Er sah und hörte sie miteinander reden und fragte sich, ob dies vielleicht der richtige Zeitpunkt war, das heikle Thema der Taranuschi-Prophezeiung anzusprechen und die ziemlich barbarische Vorstellung, für die Rettung der Welt ein Paar Dschinnzwillinge zu opfern.

Nicht dass er an die Prophezeiung glaubte – jedenfalls nicht an jenen Teil, in dem es um die Opferung von Dschinnzwillingen ging; doch es war kaum zu leugnen, dass bestimmte Aspekte von John und Philippas Dasein mit dem übereinstimmten, was Taranuschi über zwei Dschinn gesagt hatte, die Zwillingsgeschwister und wahre Kinder des Dschinn seien und sich als einzige echte Gefährten der Aufgabe stellen könnten, die Welt vor flammender Finsternis und Zerstörung zu retten.

Anfangs hatte Nimrod entschieden, dass es besser sei, die Prophezeiung den Zwillingen gegenüber gar nicht zu erwähnen, weil er davon ausging, dass sich niemand gern sagen lassen wollte, das zukünftige Überleben des Planeten könne von seinem oder ihrem Tod abhängen.

Doch nachdem Alexandra diese unangenehmen Dinge in Kandahar zur Sprache gebracht hatte, erwartete Nimrod, dass John oder Philippa von selbst darauf zu sprechen kommen würden. Und als das nicht geschah, dauerte es abermals eine ganze Weile, ehe ihm klar wurde, dass es Alexandra immer so erging: Niemand erinnerte sich je an das, was sie den Menschen prophezeite.

Das war ihr Fluch: Man glaubte ihr nicht.

Inzwischen war Nimrod der Ansicht, dass er den Zwillingen doch von der Prophezeiung erzählen sollte – schließlich ist Wissen eine zumindest potenzielle Macht, und wer gewarnt ist, ist auch gewappnet –, wartete aber noch auf die richtige Gelegenheit dafür. Als er ihr Gespräch über Charlies Selbstaufopferung mitanhörte, kam er zu dem Schluss, dass sie nun in der richtigen geistigen Verfassung seien, um über solche Dinge zu reden.

Er hätte es vorgezogen, sich unter vier Augen mit den beiden zu unterhalten, ohne dass Groanin, der Professor und Axel mitbekamen, worüber sie sprachen. Groanin würde mit Sicherheit etwas beisteuern, was nicht gerade hilfreich war. Eine Zeit lang erwog Nimrod, irgendwo zu landen und ein ruhiges Fleckchen zu suchen, wo er in Ruhe mit den Zwillingen reden konnte, doch der Anblick der vielen Aschewolken über Indonesien überzeugte ihn, dass für solche diplomatischen Akte keine Zeit mehr war und sie so schnell wie möglich in die Mongolei gelangen mussten.

Schließlich rief er die Zwillinge zu sich und erzählte ihnen unumwunden, was Taranuschi, der erste große Dschinn, vorhergesagt hatte.

Zu Nimrods Erstaunen wirkte Philippa regelrecht erleichtert.

»Also das ist es, was mir einfach nicht mehr einfallen wollte«, sagte sie. »Seit wir in Kandahar waren, schlage ich mich damit herum.«

»Du hast es vergessen, weil die Menschen Alexandras Prophezeiungen immer vergessen«, erklärte Nimrod.

Philippa nickte. »Wahrscheinlich habe ich deshalb auch nicht mehr an die Bücher mit deinen Unterstreichungen in Rakshasas´ Bibliothek gedacht«, sagte sie.

»Du hat sie gesehen?« Nimrod nickte. »Nun, es gehört alles zum gleichen Thema, deshalb hast du sie ebenfalls vergessen. Kein Zweifel. Allerdings frage ich mich, warum du sie nicht gleich erwähnt hast. Noch vor Kandahar.«

Philippa zuckte die Achseln. »Ich war mir nicht sicher, ob ich dir trauen kann«, sagte sie.

»Das sind wir immer noch nicht«, ergänzte John. »Warum erzählst du uns erst jetzt davon?«

»Hört mal«, sagte Nimrod. »Ich glaube nicht an so etwas. Das ist doch klar.«

»Klar«, murmelte John.

»Aber ich dachte mir, dass ihr es wissen solltet.«

Die Zwillinge schwiegen.

»Ich will nicht hoffen, dass ihr angenommen habt, ich würde so etwas je in Betracht ziehen«, fügte Nimrod hinzu. »Ich meine, Menschenopfer und solche Dinge sind nichts als primitiver Aberglaube. Die Inkas haben jahrhundertelang auf Berggipfeln Kinder geopfert, ohne dass sich je ein Gott davon hätte besänftigen lassen; es hat ihnen keine Ernten beschert und keinen Regen gebracht. Das ist natürlich reiner Unsinn.«

»Aber angenommen, es wäre kein primitiver Aberglaube«, sagte John. »Angenommen, es wäre wahr. Was würdest du dann tun?«

»Warum soll ich etwas annehmen, das niemals wahr sein kann?«, entgegnete Nimrod.

»Angenommen, es wäre so«, ließ John nicht locker. »Angenommen, es gäbe keinen anderen Weg, die Welt zu retten, als Phil und mich zu opfern. Was würdest du dann tun?«

Nimrod schüttelte den Kopf. »Kein intelligentes Wesen würde jemals glauben, dass man jemanden retten kann, indem man einen anderen tötet. Ich schon gar nicht.«

»Das ist keine Antwort«, sagte John. »Überhaupt keine Antwort.«

»Es tut mir leid, dass du so denkst, John«, sagte Nimrod. »Sehr leid sogar.«

»Wir wissen nicht, was wir denken sollen«, sagte Philippa. »Das ist ja das Problem.«

»Vielleicht wäre es anders, wenn du uns gegenüber von Anfang an mit offenen Karten gespielt hättest«, sagte John. »Aber du hast uns nur die Hälfte der Taranuschi-Prophezeiung verraten. Den wichtigsten Teil hast du weggelassen. Den, der uns betrifft.«

Groanin musterte die Zwillinge mit finsterem Blick. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich mal den Tag erlebe, an dem ihr euch mit eurem Onkel Nimrod überwerft«, sagte er. »Und an dem ihr aufhört, ihm zu vertrauen. Ihr solltet euch was schämen. Nach allem, was er für euch getan hat.« Er sah Nimrod an und schüttelte den Kopf. »Das ist das Problem mit den jungen Leuten heutzutage, wenn Sie mich fragen. Sie denken nur noch an sich.«

»Bei allem Respekt«, sagte Philippa, »aber keinen von Ihnen betrifft das Thema Kindesopferung auf die gleiche Weise wie uns.«

Groanin seufzte abgrundtief. »Nach allem, was wir durchgemacht haben«, sagte er, »wir vier. Nach all den Abenteuern, die wir erlebt, und den Gefahren, denen wir ins Auge geblickt haben. Zusammen, wohlgemerkt. Zusammen. Durch dick und dünn. Einer für alle und alle für einen. Nach alldem bringt ihr es immer noch fertig, ihn zu fragen, was er tun würde, wenn die Welt und das Schicksal der Menschheit davon abhingen, euch zu opfern.«

»Wenn ich etwas sagen dürfte«, schaltete sich der Professor ein.

»Aber bitte«, sagte Nimrod.

Der Professor sah John und Philippa an. »Vergesst einmal, was euer Onkel unter diesen merkwürdigen Umständen tun oder nicht tun würde. Wenn diese Prophezeiung wahr wäre – was ich für höchst unwahrscheinlich halte –, was würdet ihr dann tun? Ihr beide?«

John sah Philippa an, die seinen Blick achselzuckend erwiderte.

»Aha«, sagte Groanin. »Das dachte ich mir. Ihr habt keine Ahnung, was ihr tun würdet. Von eurem Onkel erwartet ihr, dass er auf alles eine Antwort hat, aber selbst wisst ihr keine.«

»Nein, sie hat recht, Groanin«, sagte Nimrod. »Sie haben beide recht. Ich hätte es ihnen von Anfang an sagen müssen.«

»Und warum hast du es nicht getan?«, fragte John.

»Weil es nichts ist, was einem leicht über die Lippen geht«, sagte Nimrod. »Außerdem weiß ich selbst nicht viel mehr über diese ganze Sache als ihr. Es mag für euch so aussehen, aber es ist nicht so. Das liegt bloß an meinem Auftreten. Ich sehe immer aus, als wüsste ich alles, aber dem ist nicht so.«

Der Teppich vollzog eine langsame Kehrtwende in der Luft und hielt wieder auf die Küste von Sumatra zu. Gleichzeitig begannen sie zu sinken.

»Was tust du da?«, fragte Philippa.

»Landen«, sagte Nimrod.

»Landen?«

»Ich halte es für das Beste, wenn ich euch von Bord lasse«, sagte Nimrod. »Ich schneide einen Streifen vom Teppich ab, zeige euch, wie man ihn kontrolliert, und dann könnt ihr zu euren Eltern nach New York zurückfliegen. Das dürfte nicht länger als ein, höchstens zwei Tage dauern.«

»Vielleicht dürfte ich den Teppich für Sie schneiden, Sir«, bot Groanin an.

»Hmmm?«

»Mein Vater hat sein Lebtag als Teppichverleger in Burnley gearbeitet. Als Andenken an ihn habe ich immer sein Teppichmesser im Koffer – das und ein Bild unserer Königin. Manchmal hole ich es raus und halte es eine Weile. Es ist schon verrückt, aber wenn ich das Messer in der Hand halte, kann ich neue Teppiche fast riechen. Vielleicht dürfte ich diesen hier für Sie schneiden, Sir?«

»Ja, Groanin«, sagte Nimrod. »Warum nicht? Vielen Dank, alter Freund.«

»Was ist mit dir?«, fragte John seinen Onkel. »Wohin fliegst du?«

»Wir fliegen weiter in die Mongolei«, sagte Nimrod. »Und hoffen einfach, dass wir Dschingis Khans Grab mithilfe der Beschreibung finden, die du mir gegeben hast.«

»Und wenn ihr es nicht findet?«

Nimrod steuerte den Teppich weiter in Richtung Boden und gab keine Antwort.

Sie landeten an einem langen einsamen Strand, der von einer dünnen Schicht Vulkanasche bedeckt war, genau wie die dahinterliegende Vegetation. Doch das war es nicht, was sie am meisten beeindruckte. Kurz nachdem sie gelandet waren, fand Axel einen toten grauen Vogel mit einem großen gebogenen Schnabel und gleich darauf noch einen zweiten. Er reichte dem Professor einen der toten Vögel.

»Buceros bicornis«, sagte Axel. »Doppelhornvögel.«

Der Professor nickte. »Sieht so aus«, sagte er. »Die armen Dinger.«

»Ich dachte, Doppelhornvögel wären schwarz-weiß und hätten einen gelben Schnabel«, sagte John.

»Das sind sie auch«, sagte Axel und blies die Asche vom Gefieder des toten Vogels, um seine wahren Farben zu enthüllen.

»Was ist passiert?«, fragte Philippa.

»Das lässt sich ohne Autopsie schwer sagen, kleine Schwester«, sagte Axel. »Entweder ist er durch eine Aschewolke geflogen und erstickt«– er betrachtete die Flora und Fauna ringsum, selbst die Beeren an den Sträuchern waren von Asche bedeckt –»oder sie haben von den mit Asche bedeckten Früchten gefressen.« Er fuhr sich über sein Stoppelkinn und seufzte unglücklich. »Ein Jammer um die wunderschönen Vögel.«

»Es sind nicht nur die Vögel«, sagte Groanin. »Seht mal.«

Er deutete ins Gebüsch, wo ein großes Tier halb versteckt im grauen Unterholz lag und laut und unregelmäßig schnaufte, als leide es Schmerzen.

Es war ein Tiger.

Groanin ging nicht in die Nähe des kranken Tiers. Er hatte allen Grund, beim Anblick der riesigen Katze nervös zu sein, denn er war vor Jahren von einem Tiger angegriffen worden.

»Du liebe Güte«, sagte Axel. »Das ist ein Panthera tigris sondaica, ein Java-Tiger.«

Allerdings sah er eher aus wie die Schwarzweiß-Aufnahme eines Tigers, denn er war ebenfalls von einer Ascheschicht bedeckt. Sein wunderschönes, gelb gestreiftes Fell hatte nun die Farbe einer schmutzigen Feuerstelle, und die ehemals rosa Zunge, die der Raubkatze aus dem Maul hing, sah aus wie ein alter, zu lange gebratener Speckstreifen. Die Augen waren glasig und trüb, und er war zu müde oder krank, um die zahllosen Fliegen zu vertreiben, die ihm um den Kopf schwirrten.

»Ich dachte, sie seien ausgestorben«, sagte Axel, als ein Rasseln aus der Kehle der Großkatze drang und das Tier seinen letzten Atemzug zu tun schien.

»Jetzt sind sie es«, stellte Groanin fest. »Jedenfalls dieser hier.«

Vorsichtig hob der Professor das Maul des Tiers an, um die verfärbte Zunge zu betrachten, und schüttelte dann den Kopf.

»Er muss sich die Asche vom Fell geleckt haben«, sagte er. »So wie es alle Katzen tun, wenn sie sich putzen. Dadurch hat er sich vergiftet.«

»Ist die Vulkanasche denn auch giftig?«, fragte Philippa.

»Oh ja«, sagte der Professor. »Vulkanasche enthält Fluorid. Das bildet im Magen der Tiere Säure, die ihre inneren Organe zerstört und Blutungen verursacht. Außerdem verbindet es sich mit dem Kalzium im Blut, und das ist auch nicht gut, wie ihr seht.«

Philippa sah Nimrod an. »Können wir irgendwas für ihn tun?«, fragte sie ihren Onkel.

Nimrod legte die Hand auf die Brust des Tigers, dorthin, wo er sein Herz vermutete, und schüttelte grimmig den Kopf.

»Unmögliches kann ich manchmal vollbringen«, sagte er, »aber Wunder übersteigen definitiv meine Macht. Dieses Tier ist tot, fürchte ich.«

»Was für eine Tragödie!«, sagte Axel. Er betrachtete den Dschungel, der bis an den Strand heranreichte. »Ich glaube, wir stehen hier vor einer Umweltkatastrophe, gegen die sich eine Ölpest ausnimmt wie ein Sturm im Wasserglas. Wahrscheinlich liegen jetzt schon Hunderte, wenn nicht Tausende Tiere tot im Dschungel. Es ist wie der Fallout nach einer Atomexplosion.«

»Vielleicht hat die Insel mehr zu leiden als andere Gegenden, bis jetzt jedenfalls, weil es hier auf Sumatra so viele Vulkane gibt. Fünfunddreißig insgesamt«, vermutete der Professor.

»Abgesehen von Island vielleicht«, sagte Axel düster. »Ich frage mich, wie schlimm es wohl zu Hause in Reykjavík steht. Zuerst die Bankenkrise und jetzt das hier.«

Der Professor rieb sich das Kinn. Es klang wie Sandpapier, als seine raue Hand über die Stoppeln fuhr, die seit Kurzem wuchsen. »Ich mag gar nicht daran denken, was dort los sein muss.«

»Wie viele Vulkane gibt es denn auf Island?«, fragte John.

»Einhundertdreißig«, sagte Axel. »Aber bevor dieses Phänomen auftrat, waren nur achtzehn davon aktiv. Nach dem, was wir in letzter Zeit gesehen haben, müssen wir die Zahl jetzt wohl nach oben korrigieren.«

»Wenn die Dinge sich so weiterentwickeln«, sagte der Professor, »könnte es in ein paar Tagen überall auf der Welt so aussehen wie hier.«

»Ein tröstlicher Gedanke«, sagte Groanin.

Er ging zum Teppich hinüber, holte sein Teppichmesser aus dem Koffer und brachte es Nimrod. Dieser war immer noch tief bewegt vom Anblick des toten Tigers und starrte das Messer des Teppichverlegers aus Burnley einen Moment lang verständnislos an. Es war klein und gebogen und scharf wie der Schnabel des toten Doppelhornvogels.

»Solingen?«

»Ein deutsches Fabrikat, Sir«, erklärte der Butler. »Die Deutschen machen nun mal die schärfsten Teppichmesser, die es gibt. Und die besten kamen aus Solingen.«

»Ah ja, natürlich. Nun, vielleicht sollten Sie das übernehmen, Groanin. Womöglich haben Sie das Talent Ihres Vaters geerbt. Fähigkeiten wie diese werden in Familien oft weitergegeben, wissen Sie?«

»Gern. Es stimmt, niemand konnte so gut Teppiche schneiden wie mein alter Herr«, sagte Groanin.

»Trotzdem sollten Sie mir das Messer zuerst geben«, sagte Nimrod. »Sie brauchen einen Tropfen meines Bluts auf der Klinge, ehe Sie den Teppich unbeschadet schneiden können.«

Groanin reichte ihm das Messer, und Nimrod schnitt sich damit, ehe er es blutverschmiert wieder zurückgab.

Der Butler ging zum Teppich hinüber und machte Anstalten, einen Streifen davon abzutrennen.

»Was meinen Sie, wie viel ich für die Zwillinge abschneiden soll, Sir?«, fragte er.

»Was würden Sie vorschlagen?«

»Wenn ich vom Rand aus einen Meter zwanzig abschneide, müssten sie genug Platz haben, dahin zu kommen, wo sie hinwollen«, sagte Groanin.

Nimrod, der in Gedanken immer noch mit dem traurigen Tod des Tigers beschäftigt war, nickte geistesabwesend. »Ja, ja. Was immer Sie für richtig halten, Groanin.«

Groanin setzte die Spitze der gebogenen Klinge an die Teppichkante und wollte gerade losschneiden, als John sagte: »Nicht, Groanin. Zerteilen Sie ihn nicht.«

Groanin lehnte sich zurück und sah sich um. »Wie war das?«

»Schneiden Sie den Teppich nicht durch«, wiederholte John. »Zumindest nicht wegen mir. Ich fliege nicht nach Hause. Jedenfalls noch nicht. Ich komme mit in die Mongolei.«

»Was ist mit dir, Philippa?«, fragte Nimrod.

»Ich fliege natürlich auch nicht nach Hause«, sagte sie. »Wie soll ich das übers Herz bringen, nachdem ich das hier gesehen habe? Nein, ich komme auch mit.«

»Außerdem«, fügte John hinzu, »ist die Beschreibung, die ich dir von der Lage der Gruft gegeben habe, nur sehr vage. Du brauchst mich, um dich zur richtigen Stelle zu lotsen.«

»Danke, John«, sagte Nimrod. »Ich danke euch beiden.«

John grinste. »Außerdem verpasse ich die ersten Spuren vom Bart des Professors, wenn ich jetzt nach Hause fliege.«

»Was redest du da?«, fragte Professor Stürlüson.

»Haben Sie es denn noch nicht bemerkt?«, fragte John. »Ihnen sprießt ein Bart.«

Axel lachte. »Er hat recht, Professor«, sagte er. »Du siehst wirklich aus, als müsstest du dich mal rasieren.«

Der Professor strich über sein junges Gesicht, doch statt der glatten Haut, die er erwartet hatte, fühlte es sich rau und stoppelig an.

»Ich habe vor einer Weile gehört, wie Sie sich einen Bart wünschten«, erklärte John. »Jedenfalls haben Sie es so ähnlich ausgedrückt. Da habe ich mir die Freiheit genommen, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen.«

Groanin fand in seinem Koffer einen Handspiegel und reichte ihn dem Professor, der mit großer Faszination das Spiegelbild seines transplantierten Gesichts – vor allem des Kinns und der Oberlippe – zu begutachten begann.

»Du hast recht«, sagte er. »Mir wächst ein Bart.« Er grinste John an. »Vielen Dank, mein Junge.«

»Der Bart steht Ihnen«, sagte Groanin. »Er lässt Sie vornehm aussehen. Professoraler, könnte man sagen. Ich persönlich wollte nie einen Bart. Das passt einfach nicht zu einem Butler und lässt ihn ungekämmt aussehen. Sogar eine Spur nachlässig.«

»Ganz, ganz herzlichen Dank.« Der Professor schüttelte Johns kompletten Arm. »Ein Bart ist genau das, was ich mir gewünscht habe.«

»Nicht der Rede wert«, sagte John. »Die Maske war gut. Sie hat wirklich Eindruck gemacht, meine ich. Aber Groanin hat recht. Ein richtiger Professor sollte einen Bart haben, finde ich. Oder wenigstens einen großen buschigen Schnauzer.« Er zuckte die Achseln. »Wie wollen Sie die Leute davon überzeugen, dass Sie was auf dem Kasten haben und wissen, wovon Sie reden, wenn Sie nicht wenigstens einen leicht verrückten Schnurrbart haben?« Er grinste. »Ohne Schnauzer und Wuschelkopf hätte auch Einstein nie wie ein Genie ausgesehen. Er wäre zwar immer noch außerordentlich klug gewesen, aber wie ein Genie hätte er nicht gewirkt.« Wieder hob er die Schultern. »Oder was meint ihr?«

»Das nenne ich mal eine Theorie«, sagte Philippa.