
Gelangweilt vom Herumsitzen auf dem Teppich, blätterte Philippa einige der Bücher durch, die Nimrod aus Mr Rakshasas´ Bibliothek geholt hatte. Zwar erfuhr sie eine Menge über die geheime geheime Geschichte der Mongolen und das Kamel Kauwida, aber leider nicht das Geringste über das, was sie wirklich interessierte: das, was Nimrod auf dem Vesuv über das Schicksal der Marid gesagt hatte. Nach einer Weile fragte sie ihren Onkel, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie sich selbst in die Lampe zurückzog und sich ein oder zwei Bücher zum Schmökern holte. Allerdings erwähnte sie nicht, dass sie vorhatte, mehr über seine eigenen Worte herauszufinden.
»Nein, natürlich habe ich nichts dagegen«, sagte Nimrod. »Ich habe grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn ein Kind eine Bibliothek besuchen möchte. Es tut gut, das zu hören. Die meisten Kinder heutzutage scheinen zu glauben, dass Bücher dazu da sind, Räume auszustatten, und nicht, um gelesen zu werden.«
Philippa nickte geduldig, während ihr Onkel weiter auf sie einredete.
»Ich erinnere mich, dass du schon einmal in der Lampe warst, also weißt du von Liskeard, dem Flaschenkobold. Und was noch viel wichtiger ist, er weiß von dir. Flaschenkobolde können gefährlich sein für Leute, die sie nicht kennen.«
»Ja, ich erinnere mich an ihn.«
»Es gibt die Kreaturen des Beelzebub. Es gibt Spottkobolde und kleine Teufel. Außerdem die Flibbertigibetts, die sich früher an Hinrichtungsstätten herumzutreiben pflegten, und Kobolde, die einmal Kinder waren. Es gibt kleine Dämonen und böse Geister, und es gibt Flaschenkobolde, die von Dschinn eingesetzt werden, um die Lampen und Flaschen zu bewachen, in denen sie hin und wieder wohnen. Flaschenkobolde werden mitunter für giftig gehalten, was streng genommen – und anders als streng darf man mit einem Flaschenkobold nicht umgehen – nicht auf Liskeard Karswell du Crowleigh zutraf. Da er eine unerquickliche Vorliebe für verwesendes Tierfleisch hegte, waren lediglich die Bakterien in seinem Mund überaus gefährlich.«
»Wie könnte ich ihn vergessen?«, sagte Philippa. »Er ist, gelinde gesagt, ziemlich übel dran.«
»Nach Mr Rakshasas´ Tod habe ich Liskeard als Belohnung für seine langen und treuen Dienste drei Wünsche angeboten«, erklärte Nimrod. »Aber er lehnte sie mit der Begründung ab, einen Wunsch zu haben, setze voraus, dass er irgendetwas begehre, was er noch nicht habe, und da sein Leben aus der Bibliothek und nichts als der Bibliothek bestehe, könne er sich einfach nichts anderes vorstellen.«
»Auch ein Standpunkt«, meinte Philippa.
»Du weißt natürlich, dass ich außerstande bin, Liskeards hässliches Äußeres zu verändern«, fuhr Nimrod fort. »Vor vielen Jahren beging er den Fehler, den Synopados, den Seelenspiegel eines bösen Dschinn, stehlen zu wollen. Der Spiegel war mit einer sehr mächtigen Fessel geschützt, die ihn in diesen abstoßenden Flaschenkobold verwandelte, den du bereits gesehen hast. Da eine von einem anderen Dschinn verhängte Fessel nicht rückgängig gemacht werden kann und Liskeard keine Ahnung hat, an wessen Spiegel er sich hat vergreifen wollen, wird er wohl für immer so bleiben, fürchte ich. Vermutlich ist das der Grund, warum er lieber in der Lampe bleibt, wo sein abscheuliches Äußeres niemanden beleidigen kann.«
»Nicht nur sein Äußeres«, sagte Philippa. »Auch sein Mundgeruch. Vor allem sein Mundgeruch.«
»Ja«, sagte Nimrod. »Das stimmt. Ich habe bisher gezögert, das Thema zur Sprache zu bringen. Aber du bist jung, du kannst es dir vielleicht erlauben, ihn auf seinen Mundgeruch hinzuweisen. Er riecht so grauenhaft, dass er Milch in Joghurt verwandeln könnte. Oder Butter in Käse. Ja, warum nicht? Vielleicht bietest du ihm eine Zahnbürste an? Etwas Zahnseide und ein paar Zahnstocher. Und Mundwasser.«
»Ich soll ihm sagen, dass er sich die Zähne putzen soll?«
»Wenn du so nett wärst, Philippa. Aber nur, wenn du es für angebracht hältst. Es ist immer schwierig, jemandem klarzumachen, dass sein Atem riecht wie eine stinkende Socke. Vor allem dann, wenn seine Zähne so scharf sind wie die von Liskeard.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Wenn man seinen Atem ertragen könnte, wäre es so viel angenehmer, die Lampe aufzusuchen«, sagte Nimrod, »und sich mit ihm zu unterhalten.«
»Ich werde schauen, was sich machen lässt. Aber ich kann dir nichts versprechen. Es ist eine Sache, John klarzumachen, dass er Mundgeruch hat, weil er zu faul ist, sich die Zähne zu putzen. Aber bei einem so furchterregenden Monster ist das etwas ganz anderes. Selbst wenn es sich um einen Bibliothekar handelt.«
Philippa ließ Moby in Axels Obhut zurück, holte Mr Rakshasas´ Dschinnlampe aus der ledernen Louis-Choppsouis-Reisetasche ihres Onkels und verzog sich in Form einer dicken Wolke aus transsubstantiiertem Rauch in das Lampeninnere. Alle Dschinnlampen sind innen wesentlich größer als außen. Und diese hier war keine Ausnahme. Die Bibliothek von Mr Rakshasas war riesig. Allerdings war sie auch ein Ort, der keine erkennbare Ordnung verriet. Jemand, der Rakshasas´ Bibliothek zum ersten Mal besuchte, hätte wohl kaum geglaubt, dass sie von einem leidenschaftlichen Bibliothekar betreut wurde, der der Bibliothek seit über fünfzig Jahren vorstand.
Es dauerte ein paar Minuten, ehe Liskeard im großen Lesesaal erschien. Er verbeugte sich feierlich und begrüßte Philippa, die er als die Nichte seines neuen Herrn und Meisters wiedererkannte, mit einem höflichen Zischeln.
»Guten Tag, Missss«, zischte er, denn trotz seines schicken grauen Anzugs und seines leicht menschlich wirkenden Auftretens war Liskeard Karswell du Crowleigh am ehesten mit einem Waran zu vergleichen. »Es tut mir leid, dass ich nicht schneller gekommen bin, aber ich war ganz unten im Magazin.«
»Wie geht es Ihnen, Liskeard?«, fragte Philippa und hielt sich die Hand vor Mund und Nase, denn sein Mundgeruch war schlimmer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er war fast ätzend.
Die kleine gespaltene Zunge, die Liskeard hin und wieder aus dem Mund schießt, müsste eigentlich eine rote Flagge sein, die einen davor warnt, sich Liskeard so weit zu nähern, dass man in den Dunstkreis seines haarsträubenden Mundgeruchs gerät, dachte sie.
»Sehr gut, Missss.« Er zeigte ein schreckliches, übel riechendes Lächeln.
»Suchen Sie ein bestimmtes Buch, Missss? Vergessen Sie nicht, dass Sie sich in dieser Bibliothek ein Buch nur wünschen müssen, damit es von selbst zu Ihnen kommt. Deshalb machen wir uns auch nicht die Mühe, die Bücher nach irgendeinem System, Alphabet, Thema oder Autor zu sortieren. Ich bringe sie einfach an ihren Platz zurück, wenn Ihr Onkel mit ihnen fertig ist.« Er schaute zu einem Tisch, auf dem ein Stapel Bücher lag. »Irgendwann.«
»Mein Onkel war vorhin hier«, sagte Philippa.
»Das ist richtig, Missss.«
Sie zeigte auf die Bücher auf dem großen Bibliothekstisch. »Sind das die Werke, die er sich angeschaut hat?«
»Ja. Auch wenn es mir nicht zusteht, um eine Erklärung zu bitten oder eine solche zu erhalten: Warum fragen Sie?«
Philippa zuckte die Achseln. »Weil es die sind, die ich lesen will.«
»Sehr wohl, Missss.« Wieder verbeugte sich Liskeard. »Wenn Sie alles haben, was Sie brauchen, werde ich Sie allein lassen, damit Sie in Ruhe lesen können.«
»Äh, Liskeard, bevor Sie gehen … Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht irgendetwas für Sie tun kann. Aus Respekt gegenüber Mr Rakshasas.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Missss.«
Philippa biss sich auf die Lippe. Es ist nie leicht, jemandem mit Mundgeruch zu sagen, dass er Mundgeruch hat.
»Haben Sie schon mal etwas vom Extralangen Minzkick gehört, Liskeard?«
»Ist das ein Buch, Missss?«
»Äh, nein, das ist – na ja, manchmal lernt man das meiste aus Büchern, die man eigentlich gar nicht lesen soll, und, äh … von Worten, die man nicht hören soll.«
»Das ist mir bekannt, Missss.«
»Und die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen den Bakterien, die man im Mund hat, und, äh … unangenehmem Mundgeruch.«
»Und das ist eine Anspielung auf … was genau?«
Philippa lächelte. »Auf gar nichts. Ich lege jetzt einfach mal mit den Büchern los.«
»Sehr wohl, Missss.«
Liskeard schlurfte davon und ließ Philippa in der riesigen, gruftartigen Bibliothek zurück, sodass sie fast bedauerte, John nicht gebeten zu haben, mitzukommen. Natürlich raubte er ihr oft den letzten Nerv, wenn sie versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, aber es war auch beruhigend, ihn an einem so unheimlichen Ort wie Rakshasas´ Bibliothek dabeizuhaben.
Sie setzte sich und bemerkte als Erstes, dass Nimrod auf dem Tisch seinen goldenen Füller vergessen hatte. Philippa wusste, dass es seiner war, denn er trug Nimrods Initialen und enthielt eine spezielle braune Tinte, die ihr Onkel oft zum Scherz als Blut bezeichnete. Natürlich war es durchaus denkbar, dass es tatsächlich echtes Blut war und er überhaupt keine Scherze trieb. Bei Nimrod wusste man nie.
Sie warf einen Blick auf die Buchrücken der fünf Bände auf dem Tisch, die Nimrod durchgesehen hatte, und sah, dass sie allesamt von Zwillingen handelten. Und da alles, was mit dem Thema Zwillinge zusammenhing, Philippas Interesse weckte, nahm sie das erste Buch, Dualistische Kosmologie und die Macht von Zwillingen von Professor Benito Malpensa, und stellte fest, dass ihr Onkel die für ihn interessanteste Passage unterstrichen hatte:
Fast alle Gesellschaften besitzen wichtige Mythen über die Macht von Zwillingen. Castor und Pollux, die man auch die Dioskuren nannte, sind vermutlich das berühmteste Zwillingspaar. In der griechischen Mythologie galt Pollux als unsterblich, Castor dagegen nicht, sodass Pollux, als sein Bruder starb, Zeus bat, seine Unsterblichkeit mit dem Bruder teilen zu dürfen, damit sie zusammenbleiben konnten. Zeus war damit einverstanden und verwandelte die beiden in das Sternbild des Zwillings.
In der keltischen, hebräischen und indischen Mythologie finden sich viele ähnliche Geschichten.
Doch auch heute noch gibt es zahllose menschliche Gesellschaften, in denen Zwillinge als etwas Besonderes gelten, als »Kinder des Himmels«, die eine magische Macht über die Natur besitzen, insbesondere über Regen und Wetter. Vielfach nahm man an, sie könnten durch eine einzige Bewegung ihrer Hände oder mit ihrem Atem jeden Wind heraufbeschwören, schönes oder schlechtes Wetter machen und seien imstande, es regnen zu lassen, wenn sie sich das Gesicht schwarz anmalten und dann wuschen, was den aus dunklen Wolken herabströmenden Regen symbolisieren mag. Einige nordamerikanische Indianerstämme glaubten, Zwillinge könnten es regnen lassen, indem sie an Fichtenzweigen zogen. Ferner glaubten sie, die Wünsche gewisser Zwillinge würden immer erfüllt. Darum werden Zwillinge gefürchtet, weil sie dem Manne, den sie hassen, schaden können. Nach Ansicht des Autors handelt es sich dabei um reinen Aberglauben, auch wenn der Umfang dieser Macht unklar ist.
In einem weiteren Buch, Amphion und Zethus: Zwillinge in der Semiotik von Gilberto Echo, gab es ebenfalls Unterstreichungen:
Zwillinge, so nimmt man an, können Lachse und Forellen herbeirufen und ihnen ihren Willen aufzwingen. Einige junge Zwillinge haben gar die Macht, sich selbst in Lachse zu verwandeln; deshalb dürfen sie in manchen Geschichten nicht in die Nähe des Wassers gehen, damit sie nicht wieder in Fische zurückverwandelt werden. Aus dem gleichen Grund dürfen manche Zwillinge keinen Lachs fangen und die frischen Fische weder essen noch anrühren. Nicht weniger faszinierend sind jene Geschichten, in denen junge menschliche Zwillinge über die Fähigkeit verfügen, sich in Grizzlybären zu verwandeln. Mitunter werden sie sogar als junge Grizzlys bezeichnet. Nach diesen Geschichten sind Zwillinge ihr Leben lang mit übernatürlichen Kräften begabt.
Das dritte Buch, das sich Philippa ansah, handelte wiederum vom Wesen von Zwillingen: Kinder sind von der Erde, Zwillinge vom Jupiter von Prasad Vilma. Und wieder war die folgende Passage mit brauner Tinte kräftig unterstrichen:
In Trockenzeiten, wenn eine Dürre mit der ihr folgenden Hungersnot droht, und die ganze Natur, die von der seit Monaten am wolkenlosen Himmel strahlenden Sonne versengt und verbrannt ist, nach den wohltuenden Regenschauern lechzt, können Zwillinge den ersehnten Regen auf die durstende Erde herabziehen. Gibt es in einem Dorf oder einer Stadt keine Zwillinge, so müssen sich die Frauen mit Blättern verhüllen und Wasser auf die Gräber von Zwillingen schütten. Denn sie meinen, das Grab eines Zwillings müsse immer feucht sein. Aus diesem Grund werden Zwillinge stets in der Nähe eines Sees begraben. Wenn alle ihre Versuche, Regen zu bekommen, sich als fruchtlos erweisen, werden sich die Menschen darauf besinnen, dass irgendein Zwilling an einer trockenen Stelle an einem Bergabhang begraben wurde. »Kein Wunder«, sagt der Zauberer, »dass der Himmel brennt. Nimm ihn auf und gib ihm ein Grab am Ufer des Sees.« Seinen Befehlen wird unmittelbar gehorcht, denn dies soll das einzige Mittel sein, den Regen zu bringen.
Philippa gähnte und reckte sich. Sie verstand natürlich, warum sie von Zwillingen so fasziniert war. Doch während sie sich einen Moment im Sessel zurücklehnte, fragte sie sich, woher Nimrods Interesse an Zwillingen rührte, wenn man einmal von der Tatsache absah, dass er der Onkel von Zwillingen war. Und so interessant das alles sein mochte, erschien es Philippa doch nicht wirklich wichtig, zumindest nicht im Zusammenhang mit ihrer dringenden Mission, die Welt vor einem heimlichen Drahtzieher zu retten, der möglicherweise irgendwelche mysteriösen uralten Kristalle aus der Gruft Dschingis Khans benutzt hatte, um sämtliche Vulkane auf der Welt gleichzeitig aktiv werden zu lassen. Worauf lief das alles hinaus?
Als sie das nächste Buch aufhob, nahm die Sache eine düstere Färbung an, so als hätte sich eine Wolke aus Vulkanasche vor den heiteren blauen Himmel ihres geistigen Auges geschoben. Der Titel des Buches klang ziemlich mysteriös: Eine Neubetrachtung von Romulus und Remus: Die Geschichte der Kindesopfer von Professor Martin Moustache. Die unterstrichenen Passagen in diesem Buch ließen Philippa sehr verstört zurück:
Der Brauch, übernatürlichen Kräften Kinder zum Opfer zu bringen, zieht sich durch die gesamte Historie. Die wahrscheinlich berühmteste Überlieferung eines Kinderopfers geht auf Abraham und seinen Sohn Isaak in der biblischen Schöpfungsgeschichte zurück, auch wenn sich Gott in diesem Fall natürlich einschaltete und Isaak verschonte. So gut wie alle Zivilisationen haben Kinderopfer dargebracht, wobei die Karthager wohl die Berüchtigtsten waren. An einer karthagischen Ausgrabungsstätte im modernen Tunesien entdeckte man eine Begräbnisstätte mit den Gebeinen von zwanzigtausend Kindern. Auch im alten Rom war es Sitte, Kinder zu opfern: Romulus und Remus zum Beispiel, die neugeborenen Söhne des Gottes Mars, die man in den Tiber warf. Doch die beiden überlebten, wurden von Wölfen aufgezogen und gründeten das alte Rom.
Zwillinge fielen dem Brauch der Kinderopfer besonders häufig anheim. Einige afrikanische Gesellschaften, wie die Hottentotten im südwestlichen Afrika oder die Buschmänner der Kalahari, töteten Zwillinge, weil sie glaubten, sie brächten Unglück. Die Ureinwohner Hawaiis warfen Kinder regelmäßig den Haien zum Fraß vor oder stürzten sie in Vulkane, um ihre Götter zu besänftigen. Auch der Stamm der Kikuyu in Afrika praktizierte die Zwillingstötung, was möglicherweise mit den zwei Dutzend Vulkanen zusammenhing, die in Kenia zu finden sind. Auch in den präkolumbianischen Zivilisationen Südamerikas finden sich zahlreiche Belege für Kindesopferungen. So brachten die Azteken regelmäßig dem Vulkangott Xiuhtecuhtli Kinder zum Opfer, insbesondere Zwillinge; möglicherweise wurden diese unglücklichen Wesen in die mit Lava gefüllten Krater geworfen, um Ausbrüche zu verhindern. Auch bei den Inkas war dieser Brauch verbreitet, da sie besondere Kinder wie Zwillinge oder körperlich vollkommen wirkende Kinder als beste Opfergabe für Apu erachteten, ihren Gott der Berge und der Vulkane, sowie für Catequil, den Gott über Donner und Blitz.
Philippa zog angewidert die Nase kraus und schlug das Buch krachend zu.
»Schrecklich, schrecklich, schrecklich!«, rief sie. »Warum tun Menschen nur so furchtbare Dinge?«
Und warum hatte ihr Onkel diese Passage unterstrichen?
Doch es war das fünfte Buch, das sie am meisten verstörte. Es war das älteste Werk und trug den Titel: Es war zweimal: Die Bedeutung von Zwillingen und wie sie die Welt vor sich selbst retten werden. Eine Prophezeiung von Taranuschi.
Natürlich wusste Philippa nur allzu gut, dass Taranuschi der Name des ersten großen Dschinn war, weshalb die Marid sein Andenken in hohen Ehren hielten. Bevor es die sechs Dschinnstämme gab – von denen die Marid unter den guten Dschinn der mächtigste Stamm waren –, hatte Taranuschi die Aufgabe, die anderen Dschinn zu kontrollieren. Allerdings wurde er von einem bösen Dschinn namens Azazal bekämpft und geschlagen.
Ahnungslos schlug Philippa das Buch auf und begann, eine weitere Passage zu lesen, die ihr wissbegieriger Onkel mit brauner Tinte unterstrichen hatte.
Bei den Dschinn sind Zwillinge selten, sehr selten, aber selbst unter ihresgleichen verfügen sie über besondere Kräfte und tiefe Bande, die alle Dschinn – ob gut oder böse – zu Recht fürchten sollten, vor allem dann, wenn diese Zwillinge noch Kinder und ihre Bande fester sind als bei erwachsenen Zwillingen, die einander häufig fremd werden. Ihre besondere Macht beruht auf dem Umstand, dass sie zwei Hälften des gleichen Ganzen sind, welches, mit zwei multipliziert, doppelt so mächtig ist wie eines. Sie gehen Aufgaben häufig gemeinsam an, und genau darin liegt ihre Macht. Alle Dschinnzwillinge haben ein geheimes Schicksal, auch wenn es leicht möglich ist, dass sich dieses Schicksal nie erfüllt. Zwillinge sind vor allem dann besonders einflussreich und mächtig, wenn es sich um ein männliches und ein weibliches Kind handelt, mit einer Dschinnmutter und einem Menschenvater, weil menschliche Eigenschaften für das Verständnis der eigenen Bestimmung von großer Bedeutung sind. Denn so, wie die Schaffung der Welt mit der Opferung vieler menschlicher Zwillinge einherging, verlangt die Rettung der Welt die Opferung eines Paares von Dschinnzwillingen. Es steht geschrieben, wenn wogender Rauch aus dem Schoß der Erde steigt, um die Brust der Menschen in Stein, den Weizen auf den Feldern in Asche und die Ströme in flüssiges Gestein zu verwandeln, vermögen nur Zwillinge, die Bruder und Schwester und wahre Kinder des Dschinn sind, sich als echte Gefährten der Aufgabe zu stellen, die Welt vor flammender Finsternis und Zerstörung zu retten.
Philippa legte das Buch fort und schüttelte ungläubig den Kopf. Es war eindeutig, dass alle diese Passagen mit Nimrods eigenem Füller unterstrichen worden waren. Ebenso eindeutig wie die Tatsache, dass ihr geliebter Onkel all diese Worte und Vorstellungen, die teilweise entsetzlich waren, nun mit sich herumtrug.
War es möglich, dass er wirklich in Betracht zog – sie konnte den Gedanken kaum zu Ende denken –, sie und John in einen Vulkan zu werfen, um diesen zu besänftigen?
Was sollte sie John erzählen? Sollte sie ihm überhaupt etwas sagen? Hatte er nicht das Recht, es zu wissen, wenn sie tatsächlich in Gefahr schwebten?
Plötzlich drängte sich ihr das, was sie Liskeard wegen seines schrecklichen Mundgeruchs gesagt hatte, wieder ins Gedächtnis.
»Manchmal lernt man das meiste aus Büchern, die man eigentlich gar nicht lesen soll, und von Worten, die man nicht hören soll.«
Wie wahr, dachte sie. Wie wahr.
