
Zwei Männer stiegen aus dem zweiten Eiswagen. Und keiner von beiden sah sonderlich freundlich aus.
Einer der beiden drängte sich mit einer Zigarette im Mund an Bruno vorbei und beugte sich ins Wageninnere. Dort inspizierte er die Eistrommel, die voller Vanilleeis war, schaltete sie aus, und wie um sicherzugehen, dass das Eis nun auch wirklich verdorben war, warf er seine Zigarette hinein.
Groanin fand das ein wenig unnötig. Trotzdem lächelte er und tippte grüßend an seinen Bowlerhut, als der andere, größere Italiener auf ihn zukam. Der Mann trug Brunos Flinte, was der Hauptgrund dafür war, dass Groanin sich genötigt fühlte, besonders höflich zu sein. Seiner Meinung nach machte es sich immer bezahlt, sich gegenüber Menschen mit Gewehren manierlich zu zeigen, besonders im Ausland.
»Guten Morgen, verehrter Herr«, sagte er munter. »Ein herrlicher Tag, finden Sie nicht? Einfach perfekt, um Eis zu verkaufen, würde ich sagen. Natürlich liegt das nicht in unserer Absicht. Nicht im Geringsten. Wir haben bloß angehalten, um uns nach dem Weg zum Flughafen zu erkundigen, zu dem ich unterwegs bin. Wir sind wirklich nicht stehen geblieben, um Eis zu verkaufen, verstehen Sie? Im Gegenteil. Die Tatsache, dass mein Freund hier einen Eiswagen fährt, ist mehr oder weniger Zufall, weil er eigentlich als Taxifahrer fungiert. In ganz Neapel ist nämlich kein Taxi aufzutreiben, wegen des Eisenbahnerstreiks und der Vulkanasche und so weiter. Es hätte ebenso gut ein Möbelwagen sein können. Oder ein Gemüselaster. Es ging nur darum, dass ich so bald wie möglich nach England zurückreisen kann. Ich habe wichtige Geschäfte, um die ich mich kümmern muss. In Manchester. Ich mag Eis nicht einmal besonders. Es ist zu kalt für meinen Magen, wissen Sie?«
Während Groanin seine Erklärungen vorbrachte, musterte der Mann von der Mafia – der Vito hieß – den Butler einigermaßen ungläubig von Kopf bis Fuß. Was er sah, war ein Engländer mit Nadelstreifenhosen, einem dunklen Jackett mit passender Weste, einem frischen weißen Hemd, schwarzem Schlips und einem Bowlerhut. Kurz gesagt, Groanin sah ziemlich genauso aus wie das Bild von Winston Churchill, einem früheren britischen Premierminister, das der Mafioso einmal gesehen hatte. Daher lag es für den Mann auf der Hand, dass Groanin auch ebenso bedeutend sein musste wie dieser. Bestimmt würde nur ein sehr wichtiger Mensch in einer derart lächerlich steifen Aufmachung herumlaufen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als der Mafioso Groanins Taschen durchsuchte, von denen eine voller Geld war.
»Sprechen Sie Italienisch?«, fragte Vito Groanin.
»Ich fürchte, nein«, sagte Groanin. »Nur Englisch.«
»Machte nix«, sagte Vito. »Ich spreche sehr gute Englisch, eh?«
»Ja«, bestätigte Groanin, »Sie sprechen sehr gute Englisch.«
Vito rief den anderen, kleineren Mafioso zu sich, und die beiden diskutierten einen Moment über das Geld.
»Wie kommt es, dass Sie so viel Geld haben?«, wollte Vito von Groanin wissen. »Was haben Sie für eine Beruf, Engländer?«
»Ich bin Butler«, sagte Groanin.
»Was ist eine Butler?«
»Ein Diener«, sagte Groanin.
»Für wichtige Person?«
Plötzlich hielt Groanin es für besser, lieber nicht arbeitslos, sondern jemand mit einem einflussreichen Arbeitgeber zu sein.
»Oh ja«, sagte er. »Sehr wichtig. Und auch sehr mächtig. Sie können sich nicht vorstellen, wie mächtig er ist. Er wäre außer sich, wenn mir irgendetwas zustieße.«
»Ist das seine Geld oder Ihre?«
»Sein Geld«, sagte Groanin. »Ich passe nur darauf auf.«
»Dann ist das reiche Person, für die Sie arbeiten, sì?«
Groanin lachte bitter. »Oh, sich Geld zu verschaffen, war noch nie sein Problem. Wenn er Geld braucht, macht er sich welches.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
»Dann vielleicht bezahlt dieser Mann, für den Sie arbeiten, Belohnung, wenn wir auf Sie aufpassen. Für Schutz? Für sicheres Zurückgeben.«
»Vielleicht«, erwiderte Groanin. »Ja, das wäre denkbar. Aber ich brauche im Augenblick keinen Schutz, vielen Dank. Was ich brauche, ist ein Transport zum Flughafen.«
Vito legte Groanin die Hand auf die Schulter.
»Jede Mensch brauchte Schutz«, beharrte er. »Besonders hier. Ist keine sichere Gegend, Engländer. Sind viele Diebe und Räuber, die Ihre Geld stehlen wollen. Aber keine Sorge. Ich und meine kleine Freund Toni hier, wir passen gut auf Sie auf. Eh, Toni?«
Toni zeigte ein Zahnlückengrinsen und nickte.
»Der Flughafen von Rom ist Chiuso«, sagte Vito. »Ganze Luftraum von Italien ist jetzt wegen Vulkan geschlossen. Aber wir bringen Sie hin, wo Sie mit Lastwagen oder Boot fahren können, sì? Und dann Sie rufen vielleicht Ihre Boss an und sagen ihm, Sie sind okay, und Ihre Boss gibt uns Geld, und alles ist gut.«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte Groanin. »Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
»Ist keine Mühe«, beteuerte Vito. »Sie steigen in Auto und ich fahre Sie an sichere Ort.«
Im Glauben, dass der Mafioso Wort halten würde, kletterte Groanin in den anderen Eiswagen und wartete, während Vito und Toni sich auf Italienisch mit Bruno unterhielten. Zum Schluss bissen sie sich einhellig in den Daumen, was, wie Groanin annahm, ein örtlicher Brauch sein musste, dann stiegen die beiden Mafiosi zu ihm in den Wagen.
Sie fuhren einige Minuten, ehe Vito sich erkundigte, ob Groanin ein Handy habe. Als Groanin bejahte, schlug Vito vor, er solle seinen Boss anrufen und ihm sagen, dass er wohlauf sei und man sich gut um ihn kümmere.
Groanin hatte nicht das geringste Bedürfnis, Nimrod so kurz nach seiner Kündigung anzurufen, weil es aussehen würde, als krieche er bereits zu Kreuze und bettle um seinen alten Arbeitsplatz. Aber Vito war sehr beharrlich, und da Groanin jemanden, der ihm Schutz anbot, nicht beleidigen wollte, gab er schleunigst nach und wählte Nimrods Nummer.
Ohne Erfolg.
»Merkwürdig«, sagte er und betrachtete sein Handy. »Ich kriege kein Signal.«
Toni überprüfte sein eigenes Handy und erklärte, dass auch er kein Signal empfange; und als auch Vito bestätigte, dass er sein Handy nicht benutzen könne, vermutete Groanin, dass es vielleicht mit der ganzen Vulkanasche in der Atmosphäre zusammenhing.
»Ich habe gestern Abend ferngesehen«, erzählte er, »und sie haben gesagt, dass die Aschepartikel elektrisch aufgeladen sind, was sich auf die Funksignale der Handys auswirkt.«
Beim Blick aus dem Wagenfenster sahen sie, dass an dem von der Dämmerung lila gefärbten Abendhimmel über ihnen ein kleiner elektrischer Sturm im Gange war.
Nach einer Weile hielt Vito den Eiswagen an und versuchte, Nimrod von einer Telefonzelle aus zu erreichen, doch auch diesmal gelang es ihm nicht, Kontakt aufzunehmen.
»Alle Leitungen in Umgebung sind lahmgelegt«, erklärte Vito. »Von elektrische Sturm.«
Toni schien das sehr zu beunruhigen, denn er sagte auf Italienisch zu Vito: »Wenn wir diesen Nimrod gar nicht erst anrufen können, wie sollen wir dann ein Lösegeld für seinen fetten Freund hier verlangen?«
»Keine Ahnung«, gab Vito zu.
Toni sah Groanin an und lächelte ihm aufmunternd zu.
Groanin, der sich nur bedingt aufgemuntert fühlte, nickte lächelnd zurück, denn er verstand kein Wort von dem, was die beiden über ihn sagten.
»Eine seltsame Entführung ist das«, meinte Toni.
»Da hast du recht. Ich habe es mir viel einfacher vorgestellt.«
»Weißt du, was ich denke? Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich denke, wir sollten uns damit zufriedengeben, das viele Geld zu klauen, das er in der Tasche hat, und Schluss. Wir setzen den Kerl am Straßenrand ab und schenken es uns, diesem Nimrod ein Lösegeld abzupressen. Alles ist gegen uns. Der Vulkan, das Wetter, die Telefone.«
»Ich hab eine bessere Idee, Toni«, sagte Vito. »Wir verkaufen den Kerl.«
»Ihn verkaufen?« Toni musterte Groanin skeptisch. »Warum sollte jemand einen glatzköpfigen fetten Engländer kaufen wollen?«
»Ich habe mir gedacht, wenn sein Boss wirklich so reich ist, wie er sagt, dann ist er bestimmt einiges wert«, sagte Vito. »Wir könnten ihn an die rumänische Mafia verkaufen. Die Kerle kaufen alles, was Profit verspricht. Die sind viel brutaler als wir.«
»Gute Idee«, sagte Toni. »Außerdem sind Entführungen ihre Spezialität.«
»Genau.«
»Kennst du jemanden von der rumänischen Mafia?«
»Sicher. Du erinnerst dich doch an den rumänischen Jungen. Wie hieß er noch mal? Decebal?«
»Der Vierzehnjährige, der in Guidonia das Sagen hat? Sicher. Wie könnte ich den vergessen? Seit er im Fernsehen war, ist er so ziemlich der berühmteste Ganove von ganz Italien. Aber er ist brutal, Vito. Ein Verrückter. Sie nennen ihn nicht umsonst den Wolf von Guidonia. Er beißt Leute. Bloß hinzufahren und mit dem Knaben zu reden, ist gefährlich.«
»Entspann dich.« Vito lachte vor sich hin. »Er und seine Freunde kriegen von mir ein Eis umsonst.«
Die beiden Italiener betrachteten Groanin, der wie eine Salamischeibe zwischen ihnen eingeklemmt war, und lächelten.
Groanin lächelte zurück, doch tief in seinem Innern begann er zu ahnen, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten steckte.