
»Ein Kamel?«, fragte Philippa. »Warum ein Kamel?«
»Genau«, sagte John, der sich noch lebhaft an seine erste Tiertranssubstantiation erinnern konnte, bei der er gezwungen gewesen war, in Ägypten als Dschinngeist in ein Kamel einzufahren. Er hatte den Gestank des Tiers immer noch in seiner geistigen Nase, ganz zu schweigen von dem Geschmack, den er anschließend im Mund gehabt hatte. »Und was soll uns ein Kamel außer einem Riesenrülpser noch erzählen können?«
»Um das zu verstehen«, sagte Nimrod, »muss ich euch eine traurige Geschichte über den Tod von Dschingis Khan erzählen. Nicht dass sein Tod eine besonders traurige Tatsache gewesen wäre; er war ein durch und durch widerlicher Geselle, und es scheint ihm einen Heidenspaß gemacht zu haben, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Mitunter wurden ganze Städte niedergemetzelt, wenn sie sich seiner Eroberung widersetzten. Nein, was die Geschichte so traurig macht, war etwas anderes. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass du das so sehen wirst, Philippa. Es ist mit Sicherheit die allertraurigste Geschichte, die ich je gehört habe.«
Es war stockdunkel auf dem seidenweichen Teppich, und nur die warme Brise, die ihnen ins Gesicht wehte, erinnerte daran, dass sie tatsächlich durch die Luft flogen. Nimrods samtene Stimme hatte eine beruhigende, fast hypnotische Wirkung, sodass selbst der Professor Mühe hatte, wach zu bleiben und ihm zuzuhören. Immer wieder stach er sich mit einem spitzen Fingernagel in die Handfläche, damit er zumindest erfuhr, warum sie nach Afghanistan mussten. Wie allen Professoren war es auch Snorri Stürlüson wichtig, die Dinge zu verstehen.
Axel lauschte Nimrods Stimme nicht weniger aufmerksam, und das vor allem deshalb, weil er einmal von einer Kamelspinne gebissen worden war, die die Größe eines Hamburgers gehabt und ihn ins Krankenhaus befördert hatte, wo man ihn an einen Tropf mit Antibiotika hängte. Es spielte für ihn keine Rolle, dass Kamelspinnen eigentlich nichts mit Kamelen zu tun haben; sie heißen nur so, weil sie in der Wüste leben. Die bloße Erwähnung des Wortes Kamel löste in Axel jedes Mal die Erwartung aus, gleich das Wort Spinne mit sechzehn Stundenkilometern hinterherflitzen zu hören, was für jedes kleine Tier ungeheuer schnell ist. Deshalb zuckte er im Dunkeln zusammen, als die Finger von Philippas Hand sich zu seinen vortasteten.
»Ich mag keine traurigen Geschichten«, gestand sie.
»Ich auch nicht«, sagte John.
»Wofern ihr Tränen habt, bereitet euch, sie jetzo zu vergießen«, sagte Nimrod. »Temujin, der Große Herrscher über die Erde und den Himmel und natürlich über die Mongolen, auch bekannt als Dschingis Khan, starb im August 1227. Sein Tod unterlag der strengsten Geheimhaltung, weil die Mongolen gerade irgendeine Stadt belagerten und ihnen nicht daran gelegen war, ihre Feinde durch die Nachricht von seinem Tod zu ermutigen. Dschingis Khan selbst hatte diesbezüglich strikte Anweisungen gegeben.
›Lasst den Feind nichts von meinem Tode wissen‹, befahl er seinen Männern. ›Zeigt auf keine Weise Trauer um mich, damit der Feind nichts davon erfahre. Setzt die Belagerung fort, und wenn sie irgendwann aufgeben, vernichtet sie.‹
Klar, dass seine Söhne und Generäle diesen Befehlen gehorchten. Dschingis Khan hatte immer bedingungslosen Gehorsam gefordert. Außerdem galt es, neben diesem Feldzug das Erbe seiner Söhne und die Sicherheit des gesamten Mongolischen Reichs zu bedenken. Stellt euch nur mal vor: ein Reich, das sich über ein Fünftel der gesamten Landmasse der Erde erstreckt, neunzehn Millionen Quadratkilometer, vom Pazifik bis zum Kaspischen Meer. Dschingis wusste, wie schwer es war, ein Reich dieser Größe unter Kontrolle zu halten. Viele würden auf die Nachricht seines Todes mit Freude und höchstwahrscheinlich auch mit Aufständen reagieren, da die Menschen überall in Europa und Asien versuchten, das grausame Joch der Mongolen abzuwerfen.
Es mag diese strategische Notwendigkeit der Geheimhaltung gewesen sein, die dafür sorgte, dass sein Begräbnis bis heute von Geheimnissen umwittert ist. Und sie hat vermutlich funktioniert, denn die Menschen hielten Dschingis Khan noch Jahre später für lebendig oder für einen Gott, der nicht sterben konnte. Alles in allem war der Umgang der Mongolen mit Dschingis Khans Tod ein Lehrstück in Sachen Öffentlichkeitsarbeit und Medienmanipulation.
Natürlich war es Sitte, einen großen Herrscher angemessen zu begraben, mit vielen seiner Schätze und Besitztümer. Im Fall von Dschingis Khan bedeutete das riesige Mengen an Gold und Juwelen, seinen Lieblingssattel, sein Schwert, mehrere Ehefrauen und die Hotaniya-Kristalle des Kaisers von Xixia, Xuanzong. Und damit standen die Mongolen vor einem Problem. Wie und wo sollten sie Dschingis Khan in Ehren begraben, ohne Aufmerksamkeit auf seine Begräbnisstätte zu lenken? Schließlich ging es seinen Söhnen nicht nur darum, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, ihr Vater sei noch am Leben, sondern auch das Grab davor zu bewahren, von Grabräubern geplündert zu werden.
Sklaven hoben ein riesiges unterirdisches Mausoleum aus und wurden anschließend bis auf den letzten Mann niedergemetzelt. Auch die Soldaten, die diese Sklaven töteten, wurden hingerichtet. Ihre Leichen füllten einen großen Teil des Mausoleums.
Als das Grab fertig war, machte sich der Leichenzug auf den Weg, und da man nichts dem Zufall überlassen wollte, wurden alle, denen man unterwegs begegnete, ebenfalls umgebracht. Es heißt, zwanzigtausend Menschen seien getötet worden, um die Stätte von Dschingis Khans Grab geheim zu halten.
Natürlich war den Söhnen und Brüdern von Dschingis Khan daran gelegen, sein Grab wiederfinden zu können, damit sie es besuchen und seiner gedenken konnten. Doch das stellte sie vor ein Problem. Wie sollten sie sich die Stelle merken, an der er begraben lag, wenn diese nicht gekennzeichnet war? Es gab weder genaue Karten noch Längen- oder Breitenangaben oder irgendwelche Satellitennavigationsmittel, die ihnen hätten helfen können. Was die Sache noch komplizierter machte, ist die Tatsache, dass die Mongolei, wie ihr noch sehen werdet, aus riesigen Ebenen besteht, die man Steppen nennt und in denen kaum geografische Orientierungspunkte wie Berge oder Täler zu finden sind, die einem weiterhelfen können.
Als sich schließlich eine Lösung fand, stellte sich heraus, dass sie diese buchstäblich die ganze Zeit über vor der Nase gehabt hatten. Gerüche spielen in der mongolischen Kultur eine große Rolle. Körpergeruch hielt man sogar für einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit. Wenn man bedenkt, dass sie damals nie gebadet haben, muss die menschliche Seele also ziemlich stark gemüffelt haben. Infolgedessen pflegten die Mongolen, so wie andere Leute sich küssten oder die Hände schüttelten, einander zu beschnüffeln wie Hunde. Auf jeden Fall kamen sie zu dem Schluss, dass die beste Erinnerungsstütze zum Auffinden von Dschingis Khans Grab der Geruch sei – allerdings nicht der Geruch Dschingis Khans, der sicher auch kräftig genug gewesen wäre –, nein, es war ein anderer Geruch, den sie zu verwenden beschlossen.
Als Volk von Nomaden kannten sich die Mongolen mit Tieren gut aus, besonders mit Pferden, Ziegen und Kamelen. Sie wussten, dass Kamele einen ausgezeichneten Geruchssinn besitzen, ganz zu schweigen von einem phänomenalen Gedächtnis. Kamele sind in der Lage, in der Wüste Wasser zu finden, weil sie etwas riechen können, das Geosmin heißt und von Bakterien in frischer Erde produziert wird. Aber noch besser sind sie, wenn es darum geht, sich an ihren eigenen Nachwuchs zu erinnern und seine Witterung aufzunehmen.«
»Mir gefällt die Richtung nicht, in die sich diese Geschichte entwickelt«, sagte Philippa.
»Dann wappne dich, Philippa«, sagte Nimrod. »Die Mongolen nahmen eine Kamelstute und das frisch geborene Fohlen, das sie säugte, und begruben das Fohlen zusammen mit Dschingis Khans Leichnam in dessen Mausoleum. Lebendig. Sie wussten, dass sich die Mutter zeitlebens an diese Stelle erinnern würde. Und dass sie das Muttertier in den kommenden Jahren einfach nur freilassen und ihm folgen mussten, damit es sie dorthin führte, wo das Kalb – so kann man ein junges Kamel auch nennen – begraben war.«
Philippa stieß einen Klagelaut aus, der in der Dunkelheit große Ähnlichkeit hatte mit dem, was ein lebendig begrabenes Kamelfohlen von sich geben würde, was alle zusammenfahren ließ, selbst Nimrod.
»Das ist ja furchtbar!«, rief sie. »Wie konnten sie nur so etwas tun? Wie können Menschen nur so grausam sein?«
John brach in schallendes Gelächter aus.
»Typisch Mädchen«, sagte er. »Wenn sie hört, dass man zwanzigtausend Menschen niedergemetzelt hat, bloß damit sie den Mund halten und Dschingis Khans Grab nicht verraten, sagt sie keinen Ton. Aber wenn ein kleines Tier getötet wird, löst sie sich in Tränen auf.«
»Das ist wirklich die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe«, beteuerte Philippa und ignorierte ihren Zwillingsbruder, wie so oft.
»Das kann schon sein«, gab der Professor zu. »Aber all das ist vor achthundert Jahren passiert. Und selbst Sie, Nimrod, können nicht ernsthaft behaupten, dass diese Kamelstute immer noch am Leben ist. Ich habe heute einige bemerkenswerte Dinge erlebt, die mir klargemacht haben, dass an dieser Welt mehr dran ist, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Aber ein achthundert Jahre altes Kamel? Nein, gewiss nicht.«
»Ich bin mit meiner Geschichte noch nicht fertig«, sagte Nimrod. »Die Mongolen waren also überzeugt, ungeheuer schlau vorgegangen zu sein. Jedes Frühjahr, wenn das Andenken von Dschingis Khan gefeiert werden sollte, ließen seine Nachkommen das Muttertier frei, das unweigerlich zu der Stelle zurücklief, wo das Fohlen begraben war. Natürlich behandelte man dieses Kamel sehr gut. Es wurde Kauwida genannt … «
»Ein guter Name für ein Kamel«, bemerkte John.
»Nach einer der Frauen des Khan. Man fütterte es mit dem besten Gras und Getreide und schmückte es mit einem juwelenbesetzten Zaumzeug und einem wunderschönen Sattel, was das Tier in den Augen anderer Leute ungeheuer wertvoll machte. Zu wertvoll, wie sich herausstellte, denn eines Tages wurde es gestohlen.«
»Geschieht ihnen recht«, sagte Philippa.
»Die Mongolen waren außer sich vor Wut und Verdruss«, fuhr Nimrod fort. »Wie sollten sie das versteckte Grab ohne das Muttertier jemals wiederfinden? Sie suchten überall nach dem Kamel. Und der Verdacht fiel auf einen berühmt-berüchtigten Kameldieb namenes Hotak, aus der afghanischen Stadt Parwan, nördlich von Kabul, die heute als Charikar bekannt ist. Doch Hotak entging der Gefangennahme und floh mit seinen Kamelen nach Kandahar.
In der Zwischenzeit wurde ein ganz besonderer mongolischer Clan gegründet, die Darkhat, dem die Aufgabe zufiel, das Grab zu finden und zu verhindern, dass jemand anders es fand. Der Clan besteht noch heute, auch wenn unklar ist, ob die Darkhat selbst die Gruft jemals gefunden haben.«
»Jetzt komme ich langsam durcheinander«, sagte der Professor. »Was hat all das mit Sidi Mubarak Bombay und John Hanning Speke zu tun?«
»Eine gute Frage«, sagte Nimrod. »Auch wenn die beiden es nicht geschafft haben, das Grab von Dschingis Khan zu finden, entdeckten sie, laut Bombays Buch, mit Sicherheit einen wunderschön gefertigten Kamelsattel samt Zaumzeug, vermutlich mongolischen Ursprungs, der einem Kamelhändler namens Ali Bilharzia in Kandahar gehörte. Und sie waren überzeugt, dass Sattel und Zaumzeug mehr als fünfhundert Jahre alt waren und einmal Kauwida geschmückt hatten, jenes Kamel, das im verzweifelten Besitz des Wissens war, wie man zur Gruft von Dschingis Khan gelangt.«
»Ich glaube, ich verstehe langsam, worauf du mit der Geschichte hinauswillst«, sagte Philippa.
»Da bin ich aber froh«, sagte Axel. »Ich tappe nämlich immer noch im Dunkeln.« Er sah blinzelnd in den schwarzen Nachthimmel auf, der sie umgab, um irgendetwas zu entdecken, was ihn in Bezug auf ihre Mission erleuchten würde, doch für ihn blieb – in wörtlichem wie in übertragenem Sinne – alles im Dunkeln.
»Ich auch«, sagte der Professor. »Bombay und Speke machten diese Entdeckung vor fast hundertfünfzig Jahren. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass sich die Dinge in Afghanistan seitdem erheblich verändert haben. Vier Kriege hinterlassen ihre Spuren.«
»Vier?« John klang überrascht.
»Die beiden Anglo-Afghanischen Kriege im neunzehnten Jahrhundert«, sagte der Professor, »nach denen hundert Jahre Frieden herrschte. Dann die russische Invasion, 1979, die einem zehnjährigen Krieg vorausging, und zuletzt die Amerikaner, die im Rahmen der Operation Enduring Freedom dort kämpfen.«
»Trotzdem ändern sich in Afghanistan manche Dinge nie«, sagte Nimrod. »Das ist etwas, was die Menschen einfach nicht begreifen wollen. Es ist ein Fehler, dieses Land verändern zu wollen, und heute ebenso falsch, wie es das 1839, zu Beginn des ersten Anglo-Afghanischen Krieges, war.«
»Ich nehme an, Sie waren schon mal in Afghanistan«, sagte Axel.
»Oh ja. Zu meiner Studienzeit war es ein sehr beliebtes Reiseziel.«
»Damit ich das richtig verstehe«, sagte der Professor, »Sie schlagen vor, dass wir nach Afghanistan reisen, um nach einem Kamel zu suchen, das seit fast achthundert Jahren tot ist. Ist das richtig?«
»Es wird sich alles weisen«, sagte Nimrod. »Zur rechten Zeit.«
