
Bei Tagesanbruch segelte der fliegende Teppich irgendwo über Ägypten durch die Lüfte. Die uralte Stadt Kandahar lag zu diesem Zeitpunkt mehr als dreitausend Kilometer weiter östlich.
Auf direktem Weg wäre das ein Achtstundenflug gewesen. Doch aus Sicherheitsgründen entschied sich Nimrod, einige Länder lieber nicht zu überfliegen, darunter Israel, Syrien, Irak und Iran, da man dort etwas gegen nicht identifizierte Flugobjekte im eigenen Luftraum hatte.
»Das ist noch ein Nachteil von fliegenden Teppichen gegenüber Wirbelstürmen«, erklärte Nimrod, als sie die Arabische Halbinsel weiter südlich überquerten, um die kriegerischen Länder zu umgehen. »Da er ein fester Gegenstand und etwa genauso groß ist wie ein mittelgroßes Flugzeug, erscheint der Teppich auf den Radarschirmen. Und es macht keinen Spaß, Ausweichmanöver fliegen zu müssen, weil ein dummer General meint, man habe feindselige Absichten, und er einen Abfangjäger losschickt, der einen abschießen soll.«
»Ich bin froh, dass ich davon bisher keine Ahnung hatte«, sagte der Professor.
»Ich hätte lieber nie davon erfahren«, meinte Axel.
»Können diese Jets denn fliegen, wenn so viel Asche in der Luft ist?«, fragte John. »Das hätte ich nicht gedacht.«
»Ich würde vermuten, dass Militärjets noch fliegen, wenn viele normale Flugzeuge bereits unten bleiben müssen«, sagte Nimrod. »Aber im Ernst, es gibt keinen Grund, sich große Sorgen zu machen. Selbst wenn man einer F-15 oder MiG-17 nicht immer ausweichen kann, sind die Piloten beim Anblick einer Gruppe Leute, die auf einem fliegenden Teppich hockt, normalerweise viel zu verblüfft, um einen abzuschießen. Meistens melden sie ein Ufo, und das war´s.«
»Sehr beruhigend«, meinte Philippa.
»Es sind die Flugabwehrraketen, um die wir uns Gedanken machen müssen«, erklärte Nimrod weiter. »Sie tauchen ohne Vorwarnung aus dem Nichts auf. Also sollten wir von jetzt an lieber Wache halten. Selbst die Saudis haben dieser Tage den Finger ziemlich schnell am Abzug.«
»Wache halten?« John runzelte die Stirn. »Wie soll das gehen?«
»Genauso wie auf einem Walfangschiff«, sagte Nimrod. »Du und Philippa habt die besten Augen. Ihr setzt euch jeder an ein Ende des Teppichs und gebt Laut, wenn ihr seht, dass die Schnauze von irgendetwas auf uns zukommt. Wenn ihr auch nur den kleinsten Feuerwerkskracher heranrauschen seht, lenkt ihr ihn ab. Am besten verlasst ihr euch ganz auf eure Dschinnalität.«
John zuckte förmlich zusammen bei diesem grauenhaften Witz.
»Wie denn?«, fragte Philippa. »Wie soll man deiner Meinung nach eine Flugabwehrrakete ablenken?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht mit einer Schar Wildgänse. Einem glühend heißen Stück Wellblech. Einem Klavier. Lasst euch etwas einfallen.«
Die Zwillinge taten, worum ihr Onkel sie gebeten hatte, und krochen jeder an ein Ende des Teppichs, wo sie vorsichtig über den Rand spähten.
Es ging tief hinunter.
Philippa drückte Moby an ihre Brust und dachte, dass das Letzte, womit sie eine Flugabwehrrakete ablenken würde, eine Schar Wildgänse wäre. Außerdem war es schwer genug, ein einzelnes Lebewesen zu erschaffen, von einer Schar ganz zu schweigen.
John hatte seine Zweifel an dieser Sache. Da er in militärischen Dingen ziemlich gut informiert war, weil er früher viele Actionfilme gesehen hatte, meinte er zu wissen, dass Flugabwehrraketen auf die Hitze von Flugzeugmotoren reagieren. Und da fliegende Teppiche keinen Motor besaßen, fragte er sich, wie die Raketen ihr Ziel überhaupt anpeilen sollten. Andererseits konnte jede Rakete Glück haben, wenn sie nur gezielt genug abgeschossen wurde. Daher kam er zu dem Schluss, dass Nimrod wahrscheinlich recht hatte, in dieser Hinsicht Vorsicht walten zu lassen.
Einmal sahen sie sogar das winzige Piratenschiff, das ihren alten Freund Groanin davontrug, während es im Roten Meer nach Süden stampfte. In diesem Moment wurden in jedem der Zwillinge zärtliche Erinnerungen an ihn wach, und sie fragten sich, was er wohl gerade tat; was natürlich eine unmittelbare Folge der sehnsüchtigen Wünsche war, die Groanin in diesem Moment unter ihnen zum Himmel schickte.
Wahrscheinlich ist er inzwischen wieder in London, dachte John. Oder vielleicht in Manchester. Vorausgesetzt, er hat es aus Italien herausgeschafft, bevor sie die Flughäfen dichtgemacht haben. Himmel, der Kerl fehlt mir. Auch wenn er ständig gemeckert und gemault hat, war er immer ein treuer Freund. Ohne ihn ist dieses Abenteuer einfach nicht dasselbe.
Philippa dachte mehr oder weniger das Gleiche. Doch weil ihre Dschinnkraft ein wenig stärker war als die ihres Bruders, konnte sie Groanins Anwesenheit förmlich spüren und musste sich vor Augen halten, dass er bei ihrem jüngsten und vielleicht letzten Abenteuer nicht dabei war.
Wirklich eigenartig, dachte sie, während sie sich vergewisserte, dass Groanin nicht doch neben Nimrod saß. Ich bin so daran gewöhnt, ihn um mich zu haben, dass ich kaum glauben kann, dass er nicht da ist. Wahrscheinlich war das der Grund für dieses komische Gefühl gerade. Ja, das muss es sein. Aber wie komme ich auf die Idee, dass es unser letztes Abenteuer sein könnte? Das ist nicht so leicht zu erklären. Lag es an dem, was Nimrod auf dem Vesuv gesagt hat? Dass Vulkane mit dem Schicksal unseres Stammes verbunden sind, den Marid? Vielleicht war es auch nur die selbstherrliche Art, wie er es gesagt hat. Als hätte er immer damit gerechnet, dass so etwas geschieht. Ja, das muss es wohl sein. Hoffe ich jedenfalls. Es wäre schade, wenn dies unser letztes Abenteuer wäre.
Allein mit ihren Gedanken, hielten die Zwillinge zwei Stunden lang Wache, bis sie über dem Arabischen Meer in eine dicke Wolkenbank eintauchten und unter ihnen nichts mehr zu sehen war.
John kehrte in die Mitte des Teppichs zurück. »Bei diesen Wolken hat es keinen Zweck, nach irgendwas Ausschau zu halten«, sagte er.
»Glaubt ihr, dass das eine normale Wolkenbank ist?«, fragte Philippa. »Oder ist das eine Aschewolke?«
»In diesem Teil der Welt gibt es kaum vulkanische Aktivität«, sagte der Professor. »Der nächste Vulkan ist vermutlich der Taftan, im Südosten Irans, das gut anderthalbtausend Kilometer nordöstlich von hier liegen müsste.« Er zog laut die Luft ein und leckte sich hinter der Maske die Lippen. »Außerdem riecht und schmeckt die Wolke nicht vulkanisch.«
»Trotzdem«, sagte Philippa, »ich kann irgendwas rumoren hören.«
John spitzte die Ohren. »Sie hat recht«, sagte er. »Da ist irgendwas. Und es scheint näher zu kommen.«
Alle außer Nimrod standen auf und spähten besorgt in die Wolke.
»Das ist kein Vulkan«, sagte Axel kurz darauf. »Das hört sich eher wie ein Motor an.«
»Ein einmotoriges Flugzeug«, sagte John.
»Hoffentlich fliegen sie nicht in uns rein«, sagte der Professor.
»Das werden sie nicht«, sagte Nimrod. »Dafür sorge ich schon.«
»Aber was ist, wenn sie uns sehen?«, fragte der Professor.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte Nimrod fröhlich. »Würden Sie es melden, wenn Sie einen mit fünf Personen besetzten fliegenden Teppich gesehen hätten?«
»Äh, nein«, sagte der Professor. »Nicht, wenn mir mein Pilotenschein lieb wäre.«
»Genau«, sagte Nimrod. »Außerdem kann ich nicht allzu viel tun, um uns zu tarnen, während ich dieses Ding hier fliege. Ein Teppich verlangt wesentlich mehr Konzentration als ein Wirbelsturm.«
John deutete nach hinten. »Es kommt von dort. Da, seht mal!«
Ein merkwürdiges, insektenartiges Flugzeug tauchte direkt hinter ihnen aus der Wolke auf. Es hatte lange graue Flügel, spindeldürre Radstützen und einen großen, am Heck befestigten Propeller. Unter den Flügeln befand sich ein ganzes Arsenal an Bomben und Raketen, während unter der Flugzeugnase die Linse einer starken Videokamera zu sehen war.
»Es ist ein Überwachungs-UAV!«, schrie John.
»Ein was?« Nimrod runzelte die Stirn. »Sprich Klartext, Junge.«
»Ein unbemanntes Luftfahrzeug«, erklärte John. »Eine ferngesteuerte Drohne, die ohne Besatzung fliegen kann.«
»Ja, das dachte ich mir schon, als du ›unbemannt‹ sagtest«, bemerkte Nimrod.
»Der Propeller erklärt, warum es überhaupt abheben konnte«, sagte der Professor. »Diese Art Motor nimmt keinen Schaden wie Düsenjets, die überhitzen, wenn sie mit der Luft auch Asche einsaugen.«
»Wahrscheinlich hocken die Piloten irgendwo am Boden vor ein paar Computerbildschirmen«, fügte John hinzu.
Nimrod war entsetzt. »Du meinst, wir werden aufgenommen? Mit einer Kamera?«
»Ganz bestimmt.«
»Dann weg damit«, sagte Nimrod.
»Weg damit?«
»Ich kann es selbst in guten Zeiten nicht ausstehen, fotografiert zu werden«, sagte Nimrod. »Und ich hasse es ganz besonders, wenn es ohne meine Erlaubnis geschieht. Das kommt heutzutage viel zu häufig vor. Jedes Mal, wenn man beim Friseur eine Zeitschrift aufschlägt, hat man das Foto irgendeiner armen Schauspielerin vor sich, wie sie mit unordentlicher Frisur und einem Muffin im Mund aus einem Coffeeshop kommt. Es ist widerlich und ungehörig, Leute auf diese Art zu fotografieren.«
»Ich glaube nicht, dass das hier für eine Zeitschrift gedacht ist«, meinte John. »Außerdem ist es gut möglich, dass sie gar nicht uns, sondern etwas anderes ausspionieren und wir ihnen nur in die Quere gekommen sind.«
»Das mag sein«, sagte Nimrod. »Aber jetzt trifft es nicht mehr zu. Die Kamera filmt uns gerade, wenn ich mich nicht irre. Und sieh dir nur die Bomben und Raketen an, die dieses Ding mit sich trägt! Wer immer uns durch diese Linse beobachtet, wird jeden Moment beschließen, dass wir gefährlich sind, und uns unter Beschuss nehmen.«
»Fünf Leute, die auf einem Teppich sitzen?« Axel schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht. Warum sollte uns jemand für gefährlich halten? Keiner von uns ist bewaffnet. Deshalb stellt auch keiner eine Gefahr dar. Nicht mal die US-Armee würde auf Leute schießen, die auf einem Teppich sitzen.«
»Sei dir mal nicht so sicher«, sagte John.
»Darf ich euch daran erinnern, dass das hier ein fliegender Teppich ist?«, sagte Nimrod. »Ohne Flugnummer. Was uns zu einem nicht identifizierten fliegenden Teppich macht.«
Axel zuckte mit den Schultern. »Na und?«
»Hat einer von euch schon jemals von einem nicht identifizierten Objekt gehört, das läuft oder schwimmt? Nein, natürlich nicht. Und das liegt daran, dass man für Dinge, die fliegen, sehr viel weniger Verständnis hat als für Dinge, die sich auf dem Erdboden befinden. Vor allem dann, wenn es sich um Objekte handelt, die gar nicht fliegen sollten. Für Untertassen zum Beispiel. Oder für einen Teppich. Aber auch für ein ganz normales Passagierflugzeug, das sich am falschen Ort befindet. Vor allem, wenn das Militär gefordert ist, Verständnis zu zeigen. Oder Unverständnis, um genauer zu sein. ›Erst schießen, dann Fragen stellen‹ ist das Motto der Generäle auf der ganzen Welt. Außerdem«, fuhr Nimrod fort, »wäre da noch die Tatsache, dass die meisten Menschen fliegende Teppiche nur aus Filmen kennen, die mit dem Mittleren Osten zu tun haben, wie ›Sindbad‹ oder ›Aladdin‹. Und heutzutage ist man für alles, was mit dem Mittleren Osten zu tun hat, weit weniger aufgeschlossen als früher. Philippa? Lass es verschwinden.«
Philippa zögerte. Sie gehörte nicht zu jenen Dschinn, die Dinge leichtfertig zerstören. Sie war in ihrem kurzen Leben schon mehreren zerstörerisch veranlagten Artgenossen begegnet, und das hatte sie gelehrt, bei der Anwendung ihrer Macht ein gehöriges Maß an Zurückhaltung walten zu lassen.
»Muss ich dich daran erinnern, dass wir uns auf einer Mission befinden, die den Zweck verfolgt, den Planeten zu retten?«, ermahnte Nimrod sie. »Es ist ungeheuer wichtig, dass unsere Reise nach Afghanistan nicht unterbrochen wird. Dann lass du das Ding verschwinden, John, bevor es uns verschwinden lässt.«
John musste zugeben, dass das ein gutes Argument war. Dass es sogar mehrere gute Argumente waren. Aber wie sollte er die Drohne loswerden? Sie in die Luft zu jagen, kam nicht infrage, nicht mit all den Sprengkörpern, die sie an Bord hatte.
Er dachte abermals nach, und plötzlich hatte er ein einfaches, aber sehr effektives Werkzeug vor seinem jungen geistigen Auge. Mithilfe seines Fokuswortes bündelte er seine gesamte Dschinnkraft auf die Schaffung einer Dose Farbspray.
»ABECEDERISCH!«
Kaum hielt er das Farbspray in der Hand, ging John auch schon zum hinteren Ende des Teppichs, streckte die Hand aus und besprühte die Fischaugenlinse der Kamera.
»Wenn das Ding nicht sieht, wo es langgeht, kann es auch nicht fliegen«, sagte er.
»Perfekt.«
Nimrod lachte und nickte anerkennend, während er den Teppich ein ganzes Stück aufsteigen ließ, für den Fall, dass die mit Blindheit geschlagene Drohne aus lauter Frust eine Rakete abfeuerte.
»Gut gemacht. Das wird sie lehren, andere Leute auszuspionieren.«
Natürlich ahnte Nimrod nicht, dass die Drohne, die in Wirklichkeit die somalischen Piraten ausspionierte, zu Groanins Rettung hätte beitragen können. Vermutlich hätte er dann ganz anders darüber gedacht.
Währenddessen starrten einige Hundert Kilometer entfernt, im voll ausgestatteten Überwachungsraum der USS Wisconsin, die beiden Operateure des UAV halb ungläubig, halb entsetzt erst auf ihre Bildschirme und dann einander an.
»Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?!«
»Ich hab es gesehen, Kamerad. Aber ich will lieber nicht aussprechen, was wir da gesehen haben. Es ergibt einfach keinen Sinn. Dabei bin ich nicht mal müde.«
»Es sah aus wie ein Haufen Leute auf einem fliegenden Teppich«, sagte der erste Operator. »Einer von ihnen hatte eine schwarze Maske auf, wie ein Harlekin. Das muss der böse Anführer gewesen sein.«
»Aber zwei von ihnen waren Kinder. Und eines hatte eine Ente im Arm. Eine Stockente, glaube ich.«
»Und das andere hatte eine Farbdose in der Hand. Er hat mir meine Linse vollgesprüht, der kleine Witzbold.«
»Genau so hat es ausgesehen. Du hast recht, Kamerad. Die Frage ist nur, was wir machen sollen. Wenn wir die Sache melden, degradieren sie uns, weil sie uns für zwei durchgeknallte Spinner halten.«
»Die werden uns für verrückt erklären und aus der Armee werfen.«
»Keine Ahnung. Da der Knabe uns die Linse vollgesprüht hat, sind wir blind. Wir können nicht viel tun. Wir können den Vogel nicht mal landen.«
»Drück auf den Knopf, lass die Drohne geradewegs ins Meer sausen und melde sie als vermisst. Sollen die Leute, die sie entwickelt haben, rausfinden, was passiert ist.« Der zweite Operator zuckte die Achseln. »Wenn wir uns nicht um Kopf und Kragen bringen wollen, haben wir keine andere Wahl.«
»Einverstanden.«
»Wer weiß? Am Ende haben wir Glück, und die Drohne fällt genau auf das Piratenschiff.«
Zehn Minuten später stürzte das UAV weit weg von der Shebelle ins Arabische Meer und zerstörte damit auch die Pläne der NATO zur Vernichtung der somalischen Piraten und der Entführung des fast legendären Scheichs Dabbeljuemmdhi – auch bekannt als Mr Groanin.
Die Piraten fuhren weiter und hatten nach wie vor keine Ahnung, welcher fliegenden Gefahr sie so knapp entgangen waren.
