
Sie flogen tief über die zu Indien gehörenden Andamanen im Golf von Bengalen und die Vulkaninsel Barren Island, wo der womöglich einzige aktive Vulkan Indiens Asche und Rauch in die Atmosphäre schleuderte. Doch das Gleiche tat auch der Narkondam, von dem der Professor berichtete, dass er jahrhundertelang untätig gewesen sei.
»Das Wort Narkondam geht zurück auf das Sanskritwort Narakakundam«, fügte der Professor hinzu, »das ›Höllenloch‹ bedeutet. Und es wäre euch nicht zu verdenken, wenn ihr das für bare Münze nehmen würdet. Trotzdem ist es nichts im Vergleich zu dem, was vor uns liegt. Wir fliegen demnächst über Indonesien, nicht?«
Nimrod nickte.
»Indonesien gehört zum Pazifischen Feuerring«, fuhr der Professor fort. »Fünfundsiebzig Prozent aller aktiven und untätigen Vulkane der Erde bilden einen hufeisenförmigen Ring um den Pazifischen Ozean. Von Neuseeland bis hinauf nach Sibirien und Alaska und von dort wieder hinunter bis nach Chile. Das sind etwa vierhundertfünfzig Vulkane, von denen sich ungefähr ein Drittel in Indonesien befindet, darunter der Kerinci und der Dempo, die in jeder Hinsicht gewaltig sind.«
Während der Professor fortfuhr, Groanin, Nimrod und John über die indonesischen Vulkane aufzuklären, nahm sich Philippa einen Augenblick Zeit, um mit Axel zu plaudern: »Wie hat es dich eigentlich zu den Vulkanen verschlagen?«, fragte sie ihn.
»Wenn man auf Island lebt, kommt man an ihnen fast nicht vorbei«, sagte er. »Sie sind überall. Es ist ein bisschen so wie in Indonesien. Nur kälter. Unsere Geschichte ist seit je eng mit Vulkanen verknüpft. Als ich ein kleiner Junge war, besaß meine Familie ein Wochenendhäuschen in der Nähe eines Sees und eines Dorfes, die Kirkjubæjarklaustur heißen und nicht weit von der berühmten Lakagíar-Vulkanspalte entfernt liegen, bei deren Ausbruch 1783 fast ein Viertel der isländischen Bevölkerung ums Leben kam. Eine Wolke mit giftigem Gas zog bis nach Prag und Großbritannien, wo dreiundzwanzigtausend Menschen an der Vergiftung starben. Aber erst die daraus entstandene Nebelnot – so nennen wir die schrecklichen Auswirkungen, die der Ausbruch nicht nur auf unser, sondern auf das Wetter in der ganzen Welt hatte – löste eine Hungersnot aus, bei der ein Sechstel der ägyptischen Bevölkerung starb. Kannst du dir das vorstellen, Philippa? Die Nebelnot hat möglicherweise sogar noch in Japan Hungersnöte ausgelöst.«
Er zuckte die Achseln. »Mit einer solchen Vergangenheit kommt man an Vulkanen kaum vorbei. Allerdings hat meine Familie auch einen ganz besonderen Grund, sie zu fürchten. Als ich dreizehn war, verschwand mein Vater, der Kameramann war, bei der Ersteigung eines kleinen und schon lange inaktiven Vulkans, dem Guðnasteinn, der in der Nähe des viel größeren und aktiveren Eyjafjallajökull-Gletschers liegt. Als die Suchmannschaft seine Kamera fand, lief sie noch, aber von meinem Vater fehlte jede Spur. Sie spulten den Film zurück und fanden nichts. Ich bin also auch deshalb Vulkanologe geworden, weil ich herausfinden wollte, was ihm zugestoßen ist.«
»Lange Zeit nicht. Sein Verschwinden blieb ein Rätsel. Ich hatte sogar den Verdacht, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hat, um von mir und meiner Mutter fortzukommen. Doch dann fiel die Erklärung eines Tages buchstäblich vom Himmel. Ich sagte vorhin, der Guðnasteinn sei ein schon lange inaktiver Vulkan. Und das war er auch. Viele Jahre lang. Bis er vor Kurzem ausbrach.« Axel schüttelte seufzend den Kopf.
»Was ist?«, fragte Philippa.
»Es ist nicht angenehm, das zu erzählen. Eines Tages gab es eine beängstigende Explosion. Asche verdunkelte den Himmel und Vulkanbomben wurden Hunderte Meter hoch in die Luft geschleudert. Das sind fast geschmolzene Gesteinsbrocken. Einer davon stürzte auf ein Auto, das auf der Ringstraße 1, der größten Straße Islands, fuhr. Der Fahrer hielt an und stieg aus, um sich die Sache anzusehen. Dabei fand er die Überreste eines Mannes, dessen Körper durch die Vulkanasche noch teilweise erhalten war. Genau wie in Pompeji. Dieser Mann war mein Vater, Philippa. Man konnte ihn am Gebiss identifizieren.«
»Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte Philippa. »Ich meine, sie ist interessant, aber auch ganz schrecklich.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das trifft es auch nicht.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Axel. »Ist schon in Ordnung. Aber das ist erst die halbe Geschichte. Der Fahrer des Wagens war nämlich ich, Philippa. Nachdem ich so lange gesucht und studiert hatte, beschloss der Vulkan plötzlich, das Geheimnis darüber, was meinem Vater zugestoßen war, preiszugeben. Einfach so. Es ist, als hätte er mit mir gespielt. Jahrelang habe ich nach Hinweisen gesucht, und dann sagt es mir der Vulkan einfach. Mit seiner eigenen Art von Humor.« Axel lächelte bitter. »So sind Vulkane, Philippa. Sie sind launenhaft, und ich glaube, es gefällt ihnen, uns zu überraschen. Gerade, wenn man denkt, sie seien zur Ruhe gekommen, wachen sie mit einem Knall wieder auf.«
Er klatschte laut in die Hände und hatte Erfolg damit. Philippa schrak heftig zusammen.
»Genau wie der Vesuv. Achthundert Jahre lang hielten die Menschen von Pompeji ihn für einen x-beliebigen Berg, und dann, eines Tages, bumm!, geht er hoch, und Tausende kommen ums Leben.«
»Ja, sie sind wirklich unberechenbar.«
»Nachdem die Asche des Eyjafjallajökull den ganzen Flugverkehr von und nach Europa beeinträchtigt hatte, wurden von der Regierung natürlich Katastrophenpläne für den Ausbruch des Katla entworfen. Er bricht immer kurz nach dem Eyjafjallajökull aus. Aber mit so etwas hat niemand gerechnet.«
»Nein«, stimmte Philippa ihm zu. »Das hier scheint wesentlich gravierender zu sein.«
»Und du, kleine Schwester?«, sagte Axel. »Stört es dich, wenn ich dich ›kleine Schwester‹ nenne? Ich hatte nämlich nie eine kleine Schwester und habe mir immer eine gewünscht.«
Philippa schüttelte den Kopf. »Nein, es stört mich nicht«, sagte sie.
»Was war das für ein Gefühl, als du herausgefunden hast, dass du ein Dschinn bist, kleine Schwester?«
»Anfangs«, sagte sie achselzuckend, »war es nur wie ein Abenteuer für mich. Und obwohl John und ich eine Menge beängstigende Dinge erlebt haben, hat es auch viel Spaß gemacht. Aber in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass mir alles ein bisschen zu viel wird, weißt du? Es bedeutet eine ungeheure Verantwortung, so viel Macht zu besitzen. Du glaubst nicht, wie bedrückend das sein kann, Axel. Du gewährst jemandem drei Wünsche, und dann wünscht sich dieser Mensch etwas ganz Furchtbares und du musst es wahr werden lassen. Oder jemanden in ein Tier verwandeln.« Sie schauderte. »Das ist grauenhaft. Manchmal denke ich, wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, kein Dschinn, sondern einfach nur ein ganz normaler Teenager zu sein, verstehst du?« Sie lächelte. »Ich weiß, das hört sich komisch an. Aber genau aus diesem Grund hat meine Mutter aufgehört, ein Dschinn zu sein. Und ich fange an, das zu verstehen. Ein Dschinn zu sein, ist ein bisschen so, als wäre man von diesem Feuerring umgeben, von dem der Professor vorhin gesprochen hat. Ich bin davon umgeben und finde keinen Ausweg.«
Axel drückte ihre Hand. »Das verstehe ich«, sagte er. »Es ist für alle schwer, zu begreifen, wer und was wir sind. Vor allem, wenn wir jung sind. Aber für jemanden wie dich und John muss es besonders schwierig sein.«
»Ich weiß nicht, ob es ihm genauso geht«, gab Philippa zu.
»Ich könnte es mir vorstellen. Immerhin seid ihr Zwillinge.«
Sie nickte. »Aber da ist noch etwas, das mir nicht aus dem Kopf geht. Mich verfolgt etwas, was diese Frau in Kandahar gesagt hat.«
»Alexandra, ja.« Axel lächelte. »Ich fürchte, ich kann mich an nichts von dem erinnern, was sie gesagt hat. Ich war wie geblendet von ihrer Schönheit.«
»Das habe ich gesehen.« Philippa nickte. »Ist schon in Ordnung. Du bist schließlich auch nur ein Mensch.«
»Eines Tages werden die Männer von dir geblendet sein, kleine Schwester.«
»Glaubst du?«
»Ich weiß es. Aber was hat sie gesagt, dass es dich so verfolgt?«
Philippa zuckte die Achseln. »Das Komische ist, dass ich mich inzwischen nur noch an die schrecklichen Dinge erinnern kann, die sie gesagt hat. Alles andere ist seltsamerweise wie weggeblasen. Und doch … «
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, dass sie mir und John etwas Wichtiges gesagt hat. Aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was es war. Seltsam, nicht?«
»Hast du mit John darüber geredet?«
»Ja«, sagte Philippa. »Er meint, er habe aufgehört, ihr zuzuhören, nachdem sie ihn als Idiot bezeichnet hat.«
»Verständlich. Und Groanin?«
»Er sagt, er sei viel zu traumatisiert gewesen von der Kamelspinne, um sich irgendetwas von dem zu merken, was sie gesagt hat.«
»Kann man ihm auch nicht zum Vorwurf machen«, sagte Axel. »Sie sind wirklich außerordentlich gruselig.«
»Professor Stürlüson sagt, er könne Leute, die Englisch sprechen, leichter verstehen, wenn er ihre Lippen beobachtet, weil er ein bisschen schwerhörig ist.«
»Das stimmt«, sagte Axel.
»Und weil er diese Burka anhatte, mit dem kleinen Stoffgitter vor den Augen, hat er meiner Tante nicht so gut folgen können. Also weiß er auch nicht mehr, was sie gesagt hat.«
»Und dein Onkel?«
»Er sagt, er will lieber nicht darüber reden. Ich glaube, das Wiedersehen mit seiner Frau hat ihn sehr mitgenommen.«
»Ja, natürlich. Das war zu erwarten, unter diesen Umständen.«
Philippa seufzte. »Du siehst also, ich bin kein bisschen schlauer.«
»Also, ich sage immer, wenn man sich an Dinge nicht mehr erinnern kann, waren sie es auch nicht wert, dass man sich an sie erinnert«, meinte Axel.
»Hoffentlich hast du recht«, sagte Philippa.
Das Erste, was sie von Indonesien erblickten, waren mehrere Rauchsäulen am Horizont. John fand, dass es aussah, als hätte in der Gegend ein kleiner Atomkrieg stattgefunden, und Nimrod war bald gezwungen, in größere Höhe aufzusteigen, um dem schlimmsten Rauch zu entkommen.
»Jetzt weiß ich, wie sich ein Kipper fühlt«, sagte Groanin.
»Was ist ein Kipper?«, fragte Philippa.
»Ein Räucherfisch«, sagte Groanin.
»Ich fürchte, wenn wir dieses Rätsel nicht bald lösen«, sagte Professor Stürlüson, »und all diesen vulkanischen Aktivitäten ein Ende bereiten, kommen wir zu spät.«
Nimrod pflichtete ihm bei und bemühte sich, in noch größerer Höhe und mit noch mehr Geschwindigkeit auf die nordaustralische Küste zuzuhalten.
Kurz darauf wies der Professor auf das Meer direkt unter ihnen.
»Nach meinen Berechnungen müsste dort unten die Insel Krakatau liegen. Eine Vulkaninsel, die 1883 explodiert ist und dabei Zehntausende Menschen getötet hat. Es heißt, es sei die lauteste Explosion der Geschichte gewesen – etwa dreizehntausendmal gewaltiger als die Bombe, die Hiroshima zerstört hat –, und man habe sie bis nach Westaustralien gehört, das fünftausend Kilometer weit weg ist.«
»Ich wette, der Knall hat ein paar Fensterscheiben ruiniert«, sagte John.
»Oh ja, das hat er.«
»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Sir«, sagte Groanin. »Aber ich frage mich langsam, ob wir der gewaltigen Aufgabe, die wir uns da vorgenommen haben, wirklich gewachsen sind. Ich weiß, dass Sie ein mächtiger Dschinn sind, Sir, und damit haben wir einen kleinen Vorteil, aber haben Sie nicht Angst, dass wir uns diesmal vielleicht zu viel zugemutet haben?«
»Natürlich habe ich Angst«, sagte Nimrod nüchtern. »Selbstverständlich. Und ich habe das bestimmte Gefühl, dass keiner von uns mehr der Alte sein wird, wenn das hier vorüber ist.«
