Eine menschliche Denkweise

John schlug die Augen auf und sah in einen wunderschönen, wolkenlos blauen Himmel. Wie eine silberne Schnecke zog hoch oben in der Troposphäre ein Flugzeug dahin und ließ einen weißen Kondensstreifen hinter sich zurück. Die Sonne schien ihm angenehm warm ins Gesicht und die frühmorgendliche Luft war erfüllt von Vogelgesang und einem starken Blumenduft. Seine Kleider waren ein wenig feucht, doch das war nach so viel Regen nicht anders zu erwarten. Als ihm einfiel, wo er war, richtete er sich auf und sah sich um.

Er saß am Rand des Pfads, der um den Krater des Vesuvs führte. Die turmhohe Rauch- und Aschewolke vom Vortag war verschwunden. Und im Krater zu seinen Füßen, der noch vor Kurzem voller geschmolzenem Gestein und Feuer und davor eine riesige staubige Schüssel gewesen war, befand sich nun eine riesige Wasserfläche.

Philippa lag neben ihm, in einem ähnlich feucht-schmuddeligen Wachzustand wie er selbst. Die roten Haare klebten ihr am Schädel wie ein Kopftuch. Ihr Gesicht war bereits von der Sonne gerötet, was John, wie ihm klar wurde, noch nie zuvor gesehen hatte.

Sie setzte sich auf und zupfte ihr feuchtes T-Shirt von den Schultern. Dann nahm sie die Brille ab, säuberte sie am Saum des T-Shirts und setzte sie wieder auf.

»Bist du in Ordnung?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube schon. Ich fühle mich ein bisschen schlapp. Und du?«

»Okay, glaube ich.« Er nickte. »Anscheinend hat es geklappt. Jedenfalls hier auf dem Vesuv. Sieh mal.« Er zeigte auf den See zu ihren Füßen. »Der Regen hat den Krater aufgefüllt.«

»Sieht friedlich aus, findest du nicht? Wie einer dieser Schweizer Seen, nur kleiner. Kaum zu glauben, dass es der gleiche Krater ist.«

»Hm.«

»Ich frage mich, ob es anderswo auch geklappt hat«, sagte Philippa. »Auf anderen Vulkanen.«

»So, wie ich mich fühle, kann ich mir kaum vorstellen, dass es nicht funktioniert hat.« John zuckte die Achseln. »Aber das wird sich schon noch herausstellen, denke ich.«

Philippa gähnte. Es war ein mächtiges, ausgedehntes Gähnen, das wie ein Jodler durch den Krater hallte.

»Es fühlt sich an wie ganz früh am Morgen«, sagte sie und sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich hat es den ganzen Tag und die Nacht durchgeregnet.«

»Wie fühlst du dich?«, fragte John. »Wirklich, meine ich.«

»Nass«, sagte Philippa. »Meine Klamotten kleben an mir wie Briefmarken.«

»Meine auch. Nein, ich meinte, du weißt schon, innerlich.«

»Innerlich?« Philippa dachte einen Moment nach. »Anders. Ganz anders. Als würde ich die Welt mit anderen Augen sehen. Oder als hätte ich etwas vergessen. Nur dass ich weiß, was ich vergessen habe.« Sie zuckte die Achseln. »Falls du verstehst, was ich meine. Und du? Wie fühlst du dich?«

»Eigentlich weniger schlecht, als ich erwartet hatte«, sagte John. »Wenn man bedenkt, was passiert ist.« Er zuckte ebenfalls die Achseln. »Es tut überall ein bisschen weh. Und ich habe so ein Gefühl von Verlust.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist vielleicht zu stark. Aber ich fühle mich ein bisschen wie ein Auto, dem gerade das Benzin ausgegangen ist.«

Philippa stand auf, reckte sich und sah sich um. »Wo die anderen wohl sind?«

»Gehen wir sie suchen.«

Sie liefen den Kraterweg zum Souvenirladen entlang, wo sie Groanin schlafend auf dem Zementboden fanden. Als er den Picknickkorb des Hotels sah, fiel John ein, dass er Hunger hatte, und er bediente sich an den Köstlichkeiten, die Groanin vorausschauend eingepackt hatte: Gebäck, Obst, Orangensaft, Sandwiches, Kuchen, Kaffee und Tee. Sogar Schokolade gab es, was unter den gegebenen Umständen beinahe ironisch wirkte.

John schenkte sich etwas Kaffee ein, stellte aber fest, dass kein Zucker da war.

»Ich wünschte, ich hätte ein bisschen Zucker«, sagte er. »Ich mag keinen Kaffee ohne Zucker.«

Er trank die Tasse trotzdem aus.

Groanin erwachte und richtete sich auf. »Vergebt mir«, sagte er. »Ich muss eingeschlafen sein.« Er rieb sich die Augen und richtete seinen Schlips. »Was müsst ihr von mir denken, dass ich schlafe, während ihr eine solche Tortur durchmacht.« Er beäugte die Kinder. »War es schlimm?«

»Es war harte Arbeit«, sagte John. »Das gebe ich gern zu. Wahrscheinlich das Anstrengendste, was ich je gemacht habe. Aber ganz so schlimm war es nicht.« Er zuckte die Achseln. »Schließlich sind wir immer noch da.«

Auch Philippa hatte Hunger. Sie aß ein Stück Kuchen und dann noch eines.

»Ich wünschte, der Kuchen wäre nicht so lecker«, sagte sie glücklich. »Aber er ist es. Ich kann es nicht ändern.« Sie schob ein Stück in Johns Richtung. »Hier. Probier mal.«

»Danke. Mach ich.« John stopfte sich das ganze Stück auf einmal in den Mund und nickte.

»Wie lange sind wir schon hier oben?«, fragte Philippa und umarmte Groanin herzlich.

»Wir sind vor drei Tagen heraufgekommen«, sagte Groanin. »Und seitdem hat es Tag und Nacht geregnet. So viel, dass ich fast erwartet habe, Noah in seiner Arche vorbeischippern zu sehen.« Er sah zum Himmel auf. »Sieht aus, als hätte es geklappt.«

»Scheint so«, sagte John. »Jedenfalls hier.«

»Wo sind Nimrod und der Professor?«, fragte Philippa.

»Sie sind zum alten Observatorium hinuntergegangen«, sagte Groanin. »Um die Fernsehnachrichten zu verfolgen und zu schauen, was in den übrigen vulkanischen Regionen der Welt passiert.« Er kramte in seiner Tasche. »Ich frage mich … Jetzt, wo die Aschewolke verschwunden ist, könnte es doch sein, dass mein Handy wieder funktioniert.« Er schaltete es ein. »Da ist schon mal das Signal«, sagte er aufgeregt und gab Nimrods Nummer ein. »Vielleicht bedeutet es ja, dass sich einiges wieder normalisiert.«

»Ja, so ist es«, sagte John. »Es kann nicht anders sein. Vor ein paar Minuten habe ich ein Flugzeug gesehen. Also müssen sie den Luftraum wieder freigegeben haben.«

»Ich höre ein Telefon klingeln«, sagte Philippa. Sie trat aus dem Souvenirladen und sah Nimrod und den Professor langsam den Pfad heraufkommen. Beide hatten ein breites Grinsen im Gesicht, und es war klar, dass sie gute Nachrichten überbrachten.

Philippa rannte los, um ihren Onkel zu begrüßen, und umarmte ihn auch.

»Hat es geklappt?«, fragte sie begierig. »Ja?«

»Ob es geklappt hat?«, rief der Professor. »Und wie!«

»Ja«, sagte Nimrod, »es hat geklappt.«

»Überall?«, rief John.

»Überall dort, wo ein Vulkan auszubrechen drohte, befindet sich jetzt ein schöner Bergsee oder Wasserspeicher wie dieser hier«, sagte Nimrod.

»Überall?« Obwohl er wusste, dass er und Philippa dafür verantwortlich waren, klang John überrascht.

»Überall«, erwiderte der Professor. »Von Island bis nach Hawaii. Von Sumatra bis Chile. In Afrika und in Japan. Auf der ganzen Welt berichten die Medien von dem Bergwunder.«

»Na, das glaube ich gern«, sagte Groanin. »Das letzte Wunder dieser Art ist schon eine ganze Weile her.«

»Der Rauch und die Asche verziehen sich, und überall scheint sich das Wetter zu normalisieren«, fügte Nimrod hinzu. »Die Gefahr einer weltweiten Katastrophe ist vorbei.«

John stieß die Faust in die Luft. »Das sind tolle Neuigkeiten«, sagte er. »Besser geht´s nicht.«

»Wie fühlt ihr euch?«, fragte Nimrod.

»Ziemlich müde und nass«, gab Philippa zu. »Und … «, sie zuckte die Achseln, »ein bisschen zu normal, würde ich sagen. Aber daran werde ich mich schon noch gewöhnen. Mit der Zeit.« Sie überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Etwa so, wie wenn man einen Arm oder ein Bein verliert und trotzdem weiter das Gefühl hat, sie seien noch da.«

»Ein Phantomglied«, sagte Groanin. »Ja, daran kann ich mich noch gut erinnern.«

»Genau so fühle ich mich auch«, sagte John. »Als ob irgendwas in meinem Innern erloschen sei.«

»Na, das kann sich natürlich alles noch ändern«, sagte Nimrod strahlend. »Ihr friert. Und bei jungen Dschinn funktioniert die Dschinnkraft nie, wenn ihnen kalt ist. Das wisst ihr ja.«

»Nein«, sagte Philippa. »Das hier fühlt sich anders an, als wenn einem einfach nur kalt ist.«

»Und ihr seid natürlich müde«, fuhr Nimrod fort. »Alle beide. Und erschöpft. Ihr braucht Zeit, um eure Batterien wieder aufzuladen, wie man so schön sagt. Wie dieser Mongolische Todeswurm. Ich wette, in ein paar Tagen werdet ihr feststellen, dass eure Kräfte wieder ganz die alten sind. Ihr werdet sehen, dass ich recht habe.«

»Nein«, sagte Philippa, »ich bin sicher, dass es nicht so sein wird. Es ist vorbei. Du weißt es. Ich weiß es. Und John weiß es auch. Wir haben von Anfang an gewusst, dass wir jeden Funken Kraft, den wir haben, einsetzen müssen, um es zu schaffen.«

»Philippa hat recht«, sagte John. »Vor ein paar Minuten habe ich mir etwas gewünscht. Zucker. Aber ich habe keinen bekommen. Sobald mir das Wort auf der Zunge lag, habe ich mein Fokuswort geflüstert, aber ich wusste, dass es keinen Zweck hat. Da ist nichts mehr. Wie bei einer Lampe, wenn der Strom ausgefallen ist. Ich drücke immer wieder auf den Schalter, aber es ist kein Saft auf der Leitung. Nichts. Gar nichts.«

»Und das wird sich auch nicht mehr ändern«, fügte Philippa hinzu. »Was weg ist, ist weg.«

»Genau wie bei Dybbuk«, sagte John. »Er ist ausgebrannt. Weißt du noch?«

Groanin stieß einen tiefen, zittrigen Seufzer aus. »Wie, meine Goldkinder, ihr habt kein bisschen Dschinnkraft mehr in euch?«

»Gar keine.« Philippa lächelte unter Tränen. »Ich weine nicht, weil ich traurig bin, sondern weil ich glücklich bin.«

»Glücklich?« Nimrod runzelte die Stirn. »Wie ist das möglich?«

»Ich bin glücklich, weil ich jetzt normal sein kann. Weil ich ein Mensch sein kann wie alle anderen auch.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber mir geht es genauso«, sagte John. »Ich bin sogar froh, dass ich meine Dschinnkraft aufgegeben habe, nicht, weil ich nicht damit umgehen konnte oder aus irgendeinem anderen mickrigen Grund, sondern weil ich sie für etwas geopfert habe, das die Sache wirklich wert war.«

Nimrod nickte. »Ich bin stolz auf euch«, sagte er. »Besonders deshalb, weil die Welt nie erfahren wird, wie viel sie euch verdankt.«

»Das ist mir ganz recht so«, sagte Philippa.

John lächelte. »Das würde kein normaler Mensch wollen«, sagte er. »Außerdem, wer würde uns jetzt noch glauben?«

»Wisst ihr, worauf ich mich am meisten freue?«, fragte Philippa.

»Nein«, sagte Groanin. »Verrate es uns.«

»Nach Hause zu fahren«, sagte Philippa. »Und wieder zur Schule zu gehen. Mit meinen Freunden rumzuhängen. Ein Ziel zu haben. Und ein normales Leben zu führen.«

»Sich Dinge erarbeiten zu müssen«, sagte John mit einem Achselzucken. »Und nichts Besonderes zu sein. Nichts Wichtiges. Nur ganz normal.«

»Zu Hause zu bleiben. Keine Abenteuer mehr zu erleben. Keine Kinder des Dschinn mehr zu sein. Einfach nur so zu sein wie alle anderen auch.«

»Nicht mehr nach Kamel zu riechen; oder schmecken zu müssen, was ein Kamel gefrühstückt hat.«

»Sich nicht mehr darum zu sorgen, jemandem drei Wünsche erfüllen zu müssen. Oder darüber, was sie sich wünschen. Das ist eine so große Verantwortung.« Philippa schüttelte den Kopf. »Das wird mir kein bisschen fehlen.«

John nickte. »Niemanden mehr in ein Tier verwandeln zu müssen. Ich hasse das.«

»Es ist schön und gut, drei Wünsche frei zu haben und all das«, meinte Philippa. »Aber ich glaube, die einzigen Dinge, die es wert sind, besessen zu werden, sind es auch wert, dass man sie sich erarbeitet.«

»Trotzdem war es eine schöne Zeit«, sagte John.

»Ja, das stimmt«, pflichtete Philippa ihm bei. »Eine sehr schöne Zeit. Aber jetzt ist es vorbei.«

Nimrod seufzte. »Was habe ich getan?«

»Du hast gar nichts getan«, sagte Philippa. »Das waren wir. Außerdem haben wir gewusst, was wir taten. Also mach dir keine Vorwürfe. Es gab keinen anderen Weg.«

»Das stimmt«, sagte John. »Und sieh es mal so, Onkel Nimrod. Jetzt brauchen wir diese beiden Juniorteppiche nicht mehr. Also müssen wir auch nicht noch einmal nach Fès zu Mr Barkhiya.«

»Und da der Luftraum wieder offen ist«, sagte Philippa, »können wir auf ganz normale Art nach Hause fliegen. Mit dem Flugzeug.«

»Nach Hause.« Groanin rieb sich die Hände. »Was gibt es Schöneres, hm, John? Philippa? Möchte wissen, was schöner sein kann, als zu euren Eltern zurückzukehren. Mehr kann man nicht verlangen. Nach Hause zu fahren, ist einfach ein Segen.«

 

Ende