Sidi Mubarak Bombay

Zu Beginn ihrer ausgedehnten Reise an Bord des fliegenden Teppichs überquerten die fünf Gefährten die Insel Sizilien, wo sich ihnen ein ausgezeichneter Blick auf den Ätna bot, den mit knapp dreieinhalbtausend Metern Höhe aktivsten Vulkan Europas.

Es war dunkel, daher konnten sie die Wolke aus Asche und Gas, die mehr als sechs Kilometer in den Himmel aufstieg, erst erkennen, als sie zwölfhundert Kilometer weiter Griechenland und die Türkei überflogen. Was sie jedoch durchaus erkennen konnten, war ein spektakuläres Feuerwerk aus rot glühender Lava, die aus dem Krater fünfzig Meter weit in die Höhe geschleudert wurde, und mehrere Ströme mit achthundert Grad heißem geschmolzenem Gestein, die sich wie Flüsse aus Feuer die Bergflanken hinabwälzen.

John und Philippa waren zum Rand des Teppichs gerobbt, um den bestmöglichen Blick auf den Ausbruch des Ätnas zu haben.

»Boah«, machte John.

»Ein wirklich ernüchternder Anblick«, sagte der Professor.

»Das erwartet unseren gesamten Planeten, wenn es uns nicht gelingt, es aufzuhalten«, sagte Nimrod.

»Das heißt, wenn Sie recht behalten mit diesem uralten chinesischen Fluch«, sagte Axel.

»Ich hoffe aufrichtig, dass ich mich irre«, sagte Nimrod. »Aber ich fürchte, dass dem nicht so ist.«

»Wie lautet er noch mal?«, fragte Axel. »Irgendwas mit Nĭ jiàng zāo shòu yi wàng nián de huǒ zȃi, nicht wahr?«

»Ihr Akzent ist sehr gut.« Nimrod legte das Buch beiseite, in dem er gerade gelesen hatte, und lächelte den Isländer an. »Hört sich an, als könnten Sie ein bisschen Chinesisch, Axel.«

»Ein bisschen«, sagte dieser bescheiden. »Ich hatte mal eine chinesische Freundin.«

»Das könnte sich als nützlich erweisen. Ihre Sprachkenntnisse, meine ich, nicht die Freundin.«

»Sie hat immer gesagt, mein Chinesisch sei grauenhaft.« Axel lächelte verlegen.

»Auf jeden Fall kannst du supergut Isländisch«, stellte John fest. »Und das hört sich mindestens genauso kompliziert an.«

Axels Lächeln wurde breiter, und er zerzauste John freundschaftlich die Haare.

»Wenn du das sagst, kleiner Bruder«, sagte er.

»Ich finde, die Lava des Ätnas sieht nicht sehr golden aus«, stellte Philippa fest.

»Bei achthundert Grad sehen alle Metalle ziemlich gleich aus«, meinte Nimrod. »Wenn das mit eurer Mutter nicht passiert wäre, würde ich vorschlagen, dass wir ein wenig tiefer fliegen, um uns die Sache genauer anzusehen.«

»Was ist ihr denn zugestoßen?«, fragte der Professor.

»Sie ist über Hawaii in einen pyroklastischen Strom geraten«, erklärte Nimrod. »So ähnlich wie Sie, Professor. Nur dass sie nicht ganz so viel Glück hatte.«

»Das tut mir leid«, sagte der Professor betroffen. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Oh, sie ist nicht tot«, sagte John. »Jedenfalls nicht ihr Geist. Nur ihr Körper ist komplett verbrannt. Aber sie hatte Glück und konnte sich einen anderen ausleihen. Na ja, sie hat ihn weniger ausgeliehen als übernommen. Vorher gehörte er unserer Haushälterin Mrs Trump, die die Treppe runtergestürzt ist und im Koma lag.« Er hielt inne, weil ihm plötzlich klar wurde, wie sich das anhören musste. »Na ja, das ist eine lange Geschichte.«

»Klingt so«, sagte Axel.

»Wie schnell kann dieses Ding eigentlich fliegen?«, wechselte der Professor das Thema.

»Der Teppich?«, fragte Nimrod. »Nun, es ist einige Jahre her, seit ich das letzte Mal einen geflogen habe, deshalb bin ich, ehrlich gesagt, ein wenig aus der Übung. Aus dem Teppich meines Vaters konnte ich früher mehr als achthundert Stundenkilometer herausholen. Aber jetzt bin ich froh, wenn es vier- bis fünfhundert sind. Aber das erinnert mich an etwas.« Abermals legte er sein Buch weg. »John? Philippa?«

»Ja, Onkel?«

»Höchste Zeit, dass ihr beiden lernt, wie man einen Teppich fliegt.«

»Ich dachte, der Blutstropfen, den du fallen gelassen hast, verhindert, dass jemand anderes den Teppich fliegen kann«, wandte John ein.

»Aber nicht, wenn ich euch die Genehmigung dazu erteile«, sagte Nimrod. »Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich mit an Bord bin. Nein, nein, der Blutstropfen stellt einfach nur sicher, dass ihn niemand fliegen kann, wenn ich nicht dabei bin.«

»Äh, na gut«, sagte John. »Was muss ich tun? Ist es so ähnlich wie mit einem Wirbelsturm?«

»Ja und nein«, sagte Nimrod.

»Sehr hilfreich«, meinte Philippa.

»Ein Teppich ist wesentlich schwergängiger. So, als würde man ein Auto ohne Servolenkung fahren. Oder ein altes Fahrrad ohne Federung und anständige Reifen. Und natürlich sind Teppiche bei Sturm viel schlechter zu fliegen, was wir hoffentlich nicht erleben werden. Es ist alles in allem ein viel unruhigerer Flug als mit einem Wirbelsturm. Und warum auch nicht?« Nimrod klopfte mit der flachen Hand auf den Teppich. »Er ist schließlich fest, während ein Wirbelsturm nur aus einem Luftkissen besteht.« Er seufzte. »Fliegende Teppiche sind wesentlich primitiver als Wirbelstürme. Als müsste man auf eine Propellermaschine zurückwechseln, nachdem man sich daran gewöhnt hat, mit einem Überschallflugzeug zu fliegen.« Er überlegte einen Moment. »Es ist ein bisschen so, als würde man Steine über die Wasseroberfläche eines Sees springen lassen. Stellt euch vor, dass der Teppich von einem Luftpolster zum nächsten hüpft. Was auch die leichten Auf-und-ab-Bewegungen erklärt. Spürt ihr sie?«

»Ich schon«, gestand der Professor. »Und mir ist ständig ein bisschen übel davon.«

»Man gewöhnt sich daran.« Nimrod grinste John an. »Also los, John«, sagte er. »Zeig mal, wie du dich anstellst. Wenn du so weit bist, sagst du einfach Bereit, und dann überlasse ich dir die Kontrolle, in Ordnung?«

John verzog das Gesicht. »Ich weiß noch, wie ich das erste Mal einen Wirbelsturm entfacht habe«, sagte er. »In Kathmandu. Dabei habe ich dafür gesorgt, dass sich ein Auto überschlägt. Und jemandem die Satellitenschüssel abgerissen. Und dann hat Dybbuk irgendwelchen Touristen auf den Kopf gekotzt.«

»Bitte rede nicht davon«, sagte der Professor. »Das ist wirklich nicht einfach, wenn man eine Maske vor dem Gesicht hat. Das könnt ihr mir glauben.«

»Ich weiß es auch noch.« Philippa lachte. »Die Hippies in Kathmandu haben geglaubt, jemand hätte es tatsächlich geschafft, die Kunst des yogischen Fliegens zu meistern.«

John erwiderte das Grinsen seiner Schwester. »Wir haben schon lustige Dinge erlebt, was?«

»Ja«, stimmte ihm Philippa zu.

»Jetzt mach schon«, sagte Nimrod ein wenig ungeduldig. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ach ja, richtig.« John sammelte sich einen Moment und sagte dann: »Bereit.«

»Du hast die Kontrolle«, sagte Nimrod.

Aber das hatte er nicht. Nicht mal im Traum.

John spürte augenblicklich die ganze Last und Größe des Teppichs. Es war, als hätte ihm jemand in einem Fitnessraum eine schwere Langhantel in die Hand gedrückt. Einen Moment lang hielt er den Teppich in der Schwebe, dann wurde er von seiner schieren Masse überwältigt, und der Teppich sackte weg, mit allen, die darauf waren – Nimrod, Philippa, dem Professor und Axel.

Alle schrien auf, als der Teppich wie ein kaputter Fahrstuhlkorb zur Erde stürzte oder vielleicht wie eine furchterregende Achterbahn. Alle, außer Nimrod.

»Ist schon gut«, sagte er. »Das passiert jedem beim ersten Versuch. Hier. Ich richte ihn wieder für dich aus.«

John spürte, wie Nimrod die Kontrolle übernahm, und Sekunden später schwebten sie wieder ruhig und schnurgerade dahin.

»Bereit für einen neuen Versuch?«, fragte Nimrod seinen Neffen.

»Ich weiß nicht, wie es John geht, aber ich bin nicht bereit«, sagte der Professor. »Ich glaube nicht, dass meine Nerven noch einen Absturz aushalten.«

»Ja, er kam ziemlich plötzlich, nicht wahr?«, gab Nimrod zu. »Als würde man in einem Fass die Niagarafälle hinabstürzen.« Er kicherte. »Und ich muss es wissen. Ich habe es schon getan.«

»Sie sind ein vielseitiger Mann, Nimrod«, sagte der Professor. »Aber was mich angeht, ziehe ich es vor, nur diese eine Seite zu besitzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Durchaus«, sagte Nimrod. »Nun, vielleicht haben Sie recht, Snorri, mein alter Freund. Kinder? Wir verschieben die Flugstunde auf ein andermal. Aus Höflichkeit gegenüber den anderen Passagieren.«

Der Professor stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. »Vielen Dank, Nimrod.«

Kurz darauf ließ sich ein Vogel auf dem Rand des Teppichs nieder. Eine Wild- oder Stockente, wie Axel erklärte.

»Ja, das ist ein weiteres Problem von fliegenden Teppichen«, sagte Nimrod. »Sie werden mitunter als billige Mitfluggelegenheit genutzt.«

»Trotzdem ist es eine ziemlich nette Wildente«, fand Philippa.

Mit ein paar Kekskrümeln, die sie in ihrer Tasche entdeckte, kroch sie auf die Ente zu. »Ich war schon immer der Meinung, dass Enten freundliche Tiere sind«, erklärte sie. »Weil ihre Schnäbel aussehen, als würden sie ständig lächeln.«

Der Vogel quakte fröhlich, als Philippa ihm die Krümel hinwarf, fraß sie auf und ließ sich anschließend sogar von ihr am Kopf streicheln.

»Darf ich sie behalten, Onkel?«, fragte Philippa. »Als Haustier?«

»Die fliegt bestimmt bald weg«, meinte John. »Du wirst schon sehen.«

»Aber wenn sie nicht wegfliegt, darf ich sie dann behalten, Onkel Nimrod?«

»Unter einer Bedingung«, sagte Nimrod. »Du darfst sie nicht Donald nennen.«

»Einverstanden.« Philippa überlegte einen Augenblick. »Dann nenne ich sie Moby.«

»Moby!«, stöhnte Nimrod. »Das ist fast noch schlimmer.«

John lachte. »Ach so, jetzt kapier ich. Moby Duck. Ja, cool.« Er zuckte die Schultern. »Wenn sie als Haustier nichts taugt, können wir sie immer noch aufessen.«

»Wie kannst du nur so gemein sein?«, empörte sich Philippa. Sie zog den Erpel zärtlich an sich und gab ihm einen Kuss auf den grünen Kopf. »Natürlich taugt er als Haustier.«

John schüttelte den Kopf. »Es ist ein weiter Weg bis in die Mongolei, Schwesterherz«, sagte er. »Ich wette mit dir um fünf Mäuse, dass Moby Duck lange vorher das Weite sucht.«

»Wir fliegen nicht in die Mongolei«, verkündete Nimrod. »Zumindest nicht gleich. Wir müssen zuerst in Afghanistan haltmachen.« Er klopfte auf das Buch, in dem er gerade gelesen hatte. »Jedenfalls diesem Buch zufolge.«

»Dafür muss es aber einen wirklich guten Grund geben«, meinte der Professor. »Ich könnte nämlich eine ganze Reihe guter Gründe nennen, nicht nach Afghanistan zu fliegen.«

»Ja«, sagte John, »es ist gefährlich dort.«

»Trotzdem«, sagte Nimrod. »Wir fliegen nach Afghanistan.«

»Warum?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie Bücher dabeihatten, als wir den Teppich bestiegen haben«, sagte Axel. »Und jetzt sieht es aus, als hätten Sie mehrere bei sich. Jedenfalls zu viele, um in die Louis-Choppsouis-Tasche zu passen, die Sie bei sich haben. Woher haben Sie die ganzen alten Schwarten?«

Nimrod zeigte Axel eine alte silberne Dschinnlampe.

»Hier drinnen«, sagte er, »befindet sich eine riesige Bibliothek, die einem alten Freund von mir gehört hat. Von uns vielmehr. Mr Rakshasas ist leider nicht mehr am Leben, und ich verwalte die Lampe und die Bibliothek. Die zu den besten der Welt gehört, wenn es um geheime okkulte Angelegenheiten geht. Obwohl sie sich, streng genommen, gar nicht in unserer Welt befindet, meine ich. Sie liegt sozusagen gleichzeitig innerhalb und außerhalb, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Eigentlich nicht«, sagte der Professor.

»Ich habe während der Überfahrt des Tragflächenboots von Sardinien nach Nador kurz dort vorbeigeschaut und ein wenig herumgestöbert. Als Sie alle geschlafen haben.«

»Eine Bibliothek? In einer Lampe?« Axel schüttelte den Kopf. »Das ist doch nicht möglich, oder?«

»Sagt er und sitzt auf einem fliegenden Teppich«, murmelte der Professor.

»Es ist möglich, glaube mir, Axel«, sagte Philippa. »Eine Bibliothek mit einem Leseraum und Regalen und Zehntausenden von Büchern.«

»Ganz zu schweigen vom gruseligsten Bibliothekar, den du je gesehen hast«, sagte John und lachte. »Liskeard Karswell du Crowleigh. Obwohl er, streng genommen, der Flaschenkobold ist. Apropos, Onkel Nimrod, wie geht es Liskeard?«

»Es geht ihm gut. Danke der Nachfrage, John.«

»Könnte ich mir die Bibliothek in der Lampe vielleicht einmal ansehen?«, fragte der Professor.

»Ich fürchte, nein, Snorri«, sagte Nimrod. »Ein Mensch bekäme in einer Dschinnlampe keine Luft und würde ersticken.«

»Das Gefühl habe ich in jeder Bibliothek«, sagte John.

Axel nahm das Buch, das Nimrod in der Hand hielt, und las den Titel, der in Goldbuchstaben auf dem alten Ledereinband prangte. Er hielt einen Moment inne, um die in Hindi verfassten Worte zu übersetzen, und sagte dann: »›Die geheime Geschichte der Mongolen von Sidi Mubarak Bombay, mit hilfreicher Unterstützung meines lieben Freundes Henry Morton Stanley‹.«

»Hindi können Sie also auch lesen«, sagte Nimrod. »Jetzt bin ich wirklich beeindruckt.«

»Bevor ich Vulkanologe wurde«, erklärte Axel, »war ich Bergsteiger im Himalaya. Dort habe ich ein wenig aufgeschnappt.«

Philippa starrte Axel mit unverhohlener Bewunderung an. Die Talente des jungen Mannes schienen gar kein Ende zu nehmen.

»Nun, Sie lagen fast richtig«, sagte Nimrod, der fließend Hindi sprach. »Aber es ist Die geheime geheime Geschichte der Mongolen

»Macht das denn einen Unterschied?«, fragte Axel.

»Oh, einen ganz erheblichen. So, wie ich es betone, klingt es wesentlich geheimer. Und mit Sicherheit viel geheimer als Die geheime Geschichte der Mongolen. Das Buch ist lediglich esoterisch und nur ein kleines bisschen geheim. Aber dieses hier ist okkult. Und damit äußerst geheimnisvoll. Und selten. So selten, dass ich zugeben muss, selbst nichts davon gewusst zu haben, bis ich mir von Karswell, dem Flaschenkobold-Bibliothekar, sämtliche Bücher zum Thema Dschingis Khan und seinem verborgenen Mausoleum bringen ließ. Ja, ich glaube, es wurden überhaupt nur drei Exemplare davon gedruckt.«

»Von Sidi Mubarak Bombay habe ich noch nie gehört«, sagte Philippa. »Aber Stanley war ein viktorianischer Entdecker aus England, nicht?«

»Ja«, sagte Nimrod. »Er ist der Bursche, der Livingstone in Afrika gefunden hat. Obwohl dieser gar nicht verloren gegangen war, aber das wusste Stanley nicht.«

Gedankenverloren blätterte Axel die stockfleckigen Seiten des Buches um. »›Meinem großartigen Freund John Hanning Speke gewidmet‹.«

»Noch ein viktorianischer Entdecker in Afrika«, erklärte Nimrod. »Aber lange bevor er nach Afrika kam, hat er mit Sidi Mubarak Bombay Erkundungen in Tibet und dem Himalaya angestellt. Bombay war ein Sklave, der von arabischen Sklavenhändlern nach Indien verschleppt und von Speke befreit worden war, mit dem er anschließend viele gemeinsame Expeditionen unternahm. Die beiden suchten unter anderem nach dem Grab von Dschingis Khan. Nach Spekes Tod, 1864, kehrte Bombay nach Indien zurück, um dort nach dem Grab zu suchen. Er fand es leider nicht. Aber zu unserem Glück schrieb er dieses Büchlein mit vielen wichtigen Hinweisen, wonach man Ausschau halten soll. Darunter einem ganz besonderen Hinweis.«

»Und deshalb fliegen wir nach Afghanistan, hab ich recht?«, sagte John.

Nimrod nickte.

»Und was ist das für ein ganz besonderer Hinweis, nach dem wir suchen?«, wollte Philippa wissen.

»Ein Kamel«, sagte Nimrod. »Ein ganz besonderes Kamel.«