18

»Entschuldigung, Sir, darf ich Ihnen etwas zu trinken oder einen Snack anbieten?«

Mulcahy schlug die Augen auf, als er eine kurze Berührung an seiner Schulter spürte. Nein, lasst mich einfach schlafen, dachte er, dann begriff er, was die Stewardess ihn gefragt hatte, und schüttelte den Kopf. Er setzte sich etwas aufrechter hin und versuchte dabei, ihr nicht in die Quere zu kommen, als sie der Frau mittleren Alters neben ihm einen Fingerbreit klare Flüssigkeit in einem Plastikbecher und eine Dose kaltes Schweppes reichte. Er sah auf die Uhr. Fünf vor halb elf morgens, und die verteilten Gin Tonics, herrje. Und noch über eine Stunde bis zur Landung.

Er rieb sich die Augen. Offenbar war er direkt nach dem Start eingedöst. Er fühlte sich miserabel – und nach dem missmutigen Blick zu urteilen, dem ihm die Alkoholikerin neben sich beim Hinsetzen zugeworfen hatte, sah er offenbar auch so aus. Es war wohl besser, wenn er sich am Flughafen lieber noch einmal etwas frisch machte, bevor er in die Stadt fuhr. Er hatte kaum geschlafen, und das auch noch unruhig und von Alpträumen unterbrochen. In einem dieser Träume war Byrne in einem Lieferwagen zu Rinns Einfahrt gefahren, hatte Paula Halpin gesehen, sie gepackt und mit mordlüsternem Blick und einem Kreuz in der Hand in den Wagen gezogen. Die Szene hatte sich mehrmals wiederholt.

Die müden Knochen um sieben aus dem Bett zu wälzen, unter die Dusche zu stolpern und zum Flugplatz zu rasen, um seine Maschine zu erwischen, hatte auch nicht zur Verbesserung seines Allgemeinzustands beigetragen. Aber jetzt machte er wenigstens etwas Sinnvolles, außerdem freute er sich, mal wieder nach Madrid zu kommen, auch wenn es nur ein sehr kurzer Besuch war. Gestern Nacht vor dem Zubettgehen hatte er noch bei Gracia angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er in die Stadt kam. Sie mussten noch jede Menge klären, nicht zuletzt, was mit der Wohnung passieren sollte. Aber sie ging nicht ran. Also hinterließ er eine Nachricht, in der er ankündigte, es nach der Landung noch einmal zu versuchen. Er fragte sich, warum sie mitten in der Nacht nicht zu Hause gewesen war, und konnte sich einen kurzen Anflug von Eifersucht – oder war es Besitzgier? – nicht ganz verkneifen. Er wusste, dass es lächerlich war, doch er konnte es nicht ändern.

Mulcahy reckte sich ungelenk auf seinem Sitz und streckte seine Arme. Dabei musste er daran denken, wie er Siobhan vor dem Sunday Herald in den Arm genommen und ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Sie hatte sich an ihn gedrückt. Warum zum Teufel fühlte es sich so gut an, obwohl es mit ihr offensichtlich niemals etwas werden konnte? Plötzlich spürte er eine Enge in seiner Brust, als ob seine Lunge sich zusammenzöge. Die Frau neben ihm rutschte noch etwas weiter von ihm weg, und er überlegte, ob sich so eine Panikattacke anfühlte. Das dauerte aber nur einen Moment, und als es vorbei war, rauschte eine Welle der Erleichterung durch seinen ganzen Körper. Er dachte an den Umschlag, den er beim Nachhausekommen auf der Fußmatte gefunden hatte und der sich jetzt im Koffer im Gepäckfach über ihm befand. Wie angekündigt hatte Healy Lonergan gefragt, ob Mulcahy versuchen sollte, von Jesica eine Identifizierung zu bekommen. Daher hatte er zwei vergrößerte Fotos von Emmet Byrne im Umschlag, zusammen mit den kurzen, etwas ungelenk hingekritzelten Worten: »Versuchen Sie’s.«

Vielleicht, dachte er, könnte er ja doch noch seinen Teil dazu beitragen, den Priester zu überführen.

Auch Siobhan stand um sieben Uhr morgens auf, nachdem sie unruhig geschlafen hatte. Fünfundzwanzig Minuten später verließ sie fertig geduscht, geschminkt und gekämmt das Haus. Ihren Kaffee konnte sie auch unterwegs trinken. Trotzdem war sie nicht vor Griffin im Büro. Nicht an einem Samstag. Er war schon so in den Reuters- oder PA-Ticker vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie sie hereinkam. Entweder war er auf der Suche nach einem echten Knüller, oder er sammelte ein paar profanere Sachen, die die Zuarbeiter und Redakteure im Laufe des Tages zu kleinen Artikeln und Meldungen ausarbeiten sollten. Sie begrüßte ihn mit einem »Hallo« und rechnete damit, dass er aufspringen und ihr zu einem weiteren erstklassigen Leitartikel gratulieren würde. Doch er hob nur kurz den knochigen Arm und drehte sich nicht einmal zu ihr um.

»Hast du meine Nachricht nicht gekriegt?«, fragte sie.

»Doch, hab ich«, sagte er knapp, sah sie aber immer noch nicht an.

»Und …?« Herrgott noch mal, der Mann konnte einen wirklich auf die Palme bringen.

»Und nichts weiter.« Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit versteinertem Gesicht an. »Wir bringen ihn nicht.«

»Was tun wir nicht? Erzähl doch keinen Scheiß. Du hast ihn doch noch gar nicht gesehen.«

»Ist nicht meine Entscheidung«, sagte er. »Als ich heute Morgen angekommen bin, hab ich Harry sofort zu Hause angerufen, um ihn auf die Sensation vorzubereiten. Herald-Journalistin bekommt Morddrohung vom Priester! Aus irgendeinem Grund hat er darauf bestanden, Lonergan davon in Kenntnis zu setzen – du weißt schon, den Superintendent, der die Mordermittlung leitet –, damit der dich rund um die Uhr schützen lässt.«

»Ach du meine Scheiße«, stöhnte Siobhan. »Wo ist Heffernan? Den bring ich um.«

»Ich hielt es erst für eine gute Idee«, sagte Griffin. »Das hätte die ganze Aufmerksamkeit auf dich und den Herald gelenkt, und solche Publicity kann man nicht kaufen.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte Siobhan, die langsam merkte, worauf es hinauslief.

Griffin rieb sich die Augen, als könnte er sie nicht ansehen, während er den Rest erzählte. »Lonergan hat es abgelehnt und dann die ganze Nummer gestoppt. Offenbar haben sie Emmet Byrne heute wegen Mordes angeklagt, und jetzt behaupten sie, der Brief, den du bekommen hast, wäre wichtiges Beweismaterial.«

»Aber das ist doch Blödsinn!«, rief sie. »Es hat nichts mit Byrne zu tun.«

»Siobhan, ich glaube beim besten Willen nicht, dass man etwas dagegen sagen …«

»Hat Harry«, unterbrach sie ihn, »darauf hingewiesen, dass der Brief abgegeben wurde, nachdem Byrne in Gewahrsam genommen wurde?«

»Nein, hat er nicht …«

»Aber genau darum geht es doch!« Sie klammerte sich wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

»Ich war es, Siobhan. Ich habe beim Generalstaatsanwalt höchstpersönlich angerufen, der mich dann eine halbe Stunde lang – vermutlich noch im Pyjama – am Telefon nach Strich und Faden niedergebrüllt und keinen Zweifel daran gelassen hat, was er uns alles in den Weg legen würde, wenn wir auch nur daran dächten, das zu veröffentlichen.«

»Und das war’s dann?« Sie zitterte jetzt vor Wut. »Das war’s

»Yep.« Griffin nickte. »Harry sagt, es lohnt sich nicht, deshalb vor Gericht zu gehen.«

»Der hat leicht reden«, sagte sie. »Und irgendwelchen Personenschutz krieg ich sicher auch nicht.«

Griffin lachte. »Komischerweise nicht, nein.«

»Und was passiert jetzt?«

»Sie schicken um elf jemanden vorbei, der deine Aussage aufnimmt. Und um dieses Ding als Beweisstück aufzunehmen, worauf sie natürlich irgendwelche Ermittlungen einleiten werden oder solchen Quatsch.« Er lächelte mitfühlend, als sie ungläubig den Kopf schüttelte, dann legte er ihr eine Hand auf den Arm. »Darf ich es mir wenigstens angucken? Du hattest mir nur eine Fotokopie hiergelassen.«

Sie ging zu ihrem Schreibtisch, schloss die Schublade auf, in der sie das pergamentartige Hautstück über Nacht verstaut hatte, und reichte es Griffin. Er pfiff, als er es in der Plastikhülle betrachtete.

»Herrgott, das ist echt ein Knüller, was?« Als er merkte, dass das Beweisstück in einer Garda-Asservatentüte steckte, zog er die Augenbrauen hoch. »Woher hast du die denn?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ist ’ne lange Geschichte.«

»Ach. Na ja, man kann nicht immer gewinnen«, sagte er wieder breit lächelnd. »Und so, wie deine Karriere gerade abgeht, habe ich nicht die geringsten Zweifel, dass du noch genug Morddrohungen erhalten wirst.«

»Mike! … Mike! … Mulcahy!«

Es war Mittag in Madrid, und die Flugpassagiere schoben sich in das volle Terminal 1 des Barajas Airports. Erst als er seinen entsetzlich entstellten Nachnamen hörte, blieb Mulcahy stehen und betrachtete die Menschenmenge vor den Sperren, die die Ankömmlinge begrüßte. Dann hörte er die Stimme noch einmal.

»Mike! Hier drüben!«

Mulcahy ließ den Blick über die Phalanx zu seiner Linken schweifen. Da stand die große, schlanke Gestalt von Javier Martinez an einen Pfeiler gelehnt und winkte mit einer Zeitung.

»Jav!«, rief er. Er hatte nicht damit gerechnet, abgeholt zu werden, und hatte vorgehabt, mit der Metro nach Principe de Vergara zu fahren, bevor er sich mit Martinez in Kontakt setzte und sich erkundigte, wo die Vernehmung stattfand. »Was machst du denn hier?«

Breit grinsend deutete Martinez nach vorne auf das Ende der Sperren und machte sich dahin auf den Weg. Mulcahy ging in die gleiche Richtung und umarmte seinen alten Freund herzlich, als sie sich schließlich begegneten. Für den Bruchteil einer Sekunde fielen sämtliche Sorgen und Belastungen von ihm ab, und er wurde ein oder zwei Jahre zurück in die Vergangenheit versetzt, in die Zeit bei der Drogenfahndung, wo er für Gerechtigkeit und das Gute gekämpft hatte. Martinez war der Kollege gewesen, mit dem er all die sieben Jahre Seite an Seite gearbeitet hatte, ein Mann, der die Fähigkeiten eines Reiseführers, Sprachlehrers, Landeskenners, Saufkumpans und verdammt guten Freundes in sich vereinigte. Auch Gracia hatte er durch Martinez kennengelernt, wobei man das im Nachhinein nicht mehr unbedingt als Pluspunkt werten konnte.

Mulcahy lachte und klopfte Martinez kräftig auf die Schulter. Seine Laune hatte sich schlagartig gebessert. »Hey, verdammt schön, endlich mal wieder hier zu sein.«

Der Spanier lächelte, wedelte mit den Autoschlüsseln und ging zum Ausgang. Bei Mulcahy hatte schon die Tatsache, wieder nach Madrid zu kommen und seinen alten Kumpel wiederzusehen, einen Endorphinschub ausgelöst. Selbst die Hitzewand, die ihm entgegenschlug, als sie das klimatisierte Flughafengebäude verließen, fühlte sich gut an – einschließlich der unter dem Hemd kribbelnden Schweißtropfen. Er war so hingerissen, dass Martinez ihn festhalten musste, als er, in die falsche Richtung blickend, auf die Straße trat und dabei fast unter die Räder eines großen Taxis geraten wäre. Es war ein Riesending, eine Mischung aus Minivan und Kleinbus, dessen Fahrer das Lenkrad scharf einschlagen musste, um Mulcahy auszuweichen. Der Kerl streckte daraufhin den Kopf aus dem offenen Fenster und bedachte ihn mit einem Schwall Madrilener Obszönitäten.

Doch Mulcahy lachte nur: »Herrgott, Jav, ich bin wirklich lange weg gewesen.«

Sie erreichten den Wagen, ein offenbar brandneues, silbernes Mercedes-Coupé. Das war keine Überraschung. Martinez hatte immer Geld gehabt: Ein riesiges Apartment im Stadtteil Salamanca, ein Schrank voller maßgeschneiderter englischer Anzüge, Hemden und handgemachter Schuhe wie die, die er jetzt trug. Er entstammte einer »stinkreichen, anglophilen Familie«, wie er Mulcahy vor Jahren einmal anvertraut hatte, und war unglaublich gut vernetzt. Auf diese Weise war er vermutlich auch an seinen aktuellen Job gekommen. Die einzige Frage, die er nie zu Mulcahys Zufriedenheit beantwortet hatte, lautete, was ein spanischer Playboy in den Niederungen der Policía Nacional zu suchen hatte.

Martinez setzte im engen Parkhaus mit einem Reifenquietschen aus dem Parkplatz zurück. Manche Dinge ändern sich nie, dachte Mulcahy. Er hatte sich nie an den verrückten Machismo gewöhnt, den spanische Autofahrer an den Tag legten. Erst nachdem sie den Flughafenbereich verlassen hatten und sich auf der Autobahn einreihten, sagte Martinez wieder etwas.

»Don Alfonso weiß, dass du schnellstmöglich mit Jesica reden willst. Er macht allerdings zur Bedingung, dass du nur in Anwesenheit von Jesicas Psychologin mit ihr sprichst. Das ist doch in Ordnung, oder?«

Mulcahy antwortete nicht, dachte eine Weile darüber nach, sah allerdings kein Problem.

Martinez deutete Mulcahys Schweigen falsch und sah ihn etwas beschämt an: »Ich weiß, dass das nicht ideal ist für dich, aber in diesem Punkt war er sehr … äh … bestimmt.«

»Nein, nein, das braucht dir nicht leidzutun«, schrie Mulcahy gegen den Fahrtwind an. »Das geht schon. Und danke, dass du das so schnell geklärt hast. Wir wissen das wirklich zu schätzen. Wenn wir über die normalen Kanäle hätten gehen müssen, wären wahrscheinlich noch Wochen vergangen, so wie ich euch verdammten Spanier kenne.«

Er lächelte Martinez zu, der auch ein breites Grinsen aufsetzte und das Gaspedal weiter durchtrat, worauf sich das Motorgeräusch von einem Schnurren zu einem Grollen verwandelte und der Wagen mit noch aberwitzigerem Tempo dahinraste. Bei dem Tempo war der Luftstrom an den Ohren zu laut für ein Gespräch. Mulcahy kauerte sich etwas tiefer in den anschmiegsamen Ledersitz und überließ sich ganz der Geschwindigkeit und dem Hochgefühl, wieder in Madrid zu sein. Als sie die Außenbezirke erreichten und der Verkehr sich zu einem städtischeren Kriechen verlangsamt hatte, war er entspannter als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten Wochen. Er plauderte etwas mit Martinez, der weitere Einzelheiten über die Geschichte des Priesters erfahren wollte, während Mulcahy sein unzulängliches Wissen über den mächtigen Politiker aufzubessern versuchte, den er am Nachmittag kennenlernen sollte: Don Alfonso Mellado Salazar.

»Du musst wissen, dass die meisten unserer aktuellen Politiker zu Francos Zeiten noch in der Windel lagen«, sagte Martinez, »Don Alfonso ist aber damals schon in der Politik gewesen. Er war einer der Neuerer, die den reibungslosen Übergang zur Demokratie gewährleisten sollten, und einer von ganz wenigen, deren Karriere das überlebt hat. Ich glaube, das liegt daran, dass er seine Meinung ändern kann, ohne dabei scheinheilig zu wirken wie die meisten anderen. El Juez – so nennen sie ihn: den Richter. Er ist hart, wird aber respektiert. Und ein großer Katholik ist er auch. Das gefällt vor allem vielen älteren Menschen.«

Mulcahy nickte. »Er muss schon ziemlich alt sein. Soweit ich mich an die alten Nachrichtensendungen erinnere, sah er mehr nach einem Opa als nach einem Vater aus.«

»Richtig. Bei Jesicas Geburt muss er um die sechzig gewesen sein. Seine erste Frau ist in den Achtzigern bei einem ETA-Anschlag von einer Autobombe getötet worden. Ein paar Jahre später hat er noch einmal geheiratet, eine sehr schöne, sehr aristokratische Dame mit vielen Namen und Titeln. Aus der Ehe stammt Jesica. Diese zweite Frau ist dann aber auch auf sehr tragische Weise gestorben. Ich glaube, er arbeitet nur noch, um das alles zu vergessen. Vielleicht hat er deshalb seine Tochter so schnell aus Dublin zurückgeholt. Mir ist schon klar, dass euch das Probleme bereitet hat, Mike, aber sie ist sein Ein und Alles.«

Mulcahy zuckte die Achseln, wollte sich in dem Punkt nicht festlegen. Er ließ seine Gedanken schweifen, als er sich umsah. Alles war fremd und doch so vertraut – vor nicht allzu langer Zeit war das sein Leben gewesen. Die Hitze und das Licht, selbst die braune Dunstglocke, die stets über der Stadt lag, waren ihm damals normal vorgekommen. Als Martinez die große Achse der Avenida de América entlang- und weiter nach Castellana hineinfuhr, fühlte sich Mulcahy plötzlich wieder daheim. Die hupenden Autos, das wespenartige Summen der Motorroller, das hektische, geschäftige Treiben der Menschen, die immer in Bewegung waren – lange Zeit hatte ihn das seine eigene Lebendigkeit spüren lassen. Er fand es in diesem Moment sogar schwer nachvollziehbar, dass er die Rückkehr nach Dublin überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Die wohlbekannten Anblicke und die vertraute Geräuschkulisse nahmen ihn so gefangen, dass er zu spät merkte, dass Martinez die falsche Abzweigung vom Plaza de Cibeles genommen hatte und die Gran Vía entlangfuhr.

»He, wo willst du hin, Jav?«, protestierte er. »Ich dachte, wir fahren erst zu dir ins Büro. Vor dem Treffen mit Salazar muss ich mich unbedingt noch ein bisschen frisch machen.«

Martinez machte keine Anstalten zu wenden, sondern er grinste Mulcahy an und tippte auf seine Rolex.

»Das machen wir nachher. Du warst auf Reisen, also musst du etwas essen. Zum Glück plane ich voraus und habe fürs Mittagessen einen Tisch im La Bola gebucht. Du siehst aus, als könntest du einen Cocido madrileño brauchen, damit du wieder ein bisschen Farbe in die Wangen kriegst.«

Was Siobhan betraf, hätte der Vormittag kaum schlechter laufen können. Im Kielwasser von Griffins morgendlichem Geplänkel mit der Staatsanwaltschaft gab es eine Anweisung vom Herausgeber, die Priester-Story zurückhaltend zu behandeln. Also mussten sie sich auf die ganz normale Berichterstattung konzentrieren: ohne Spekulationen – so gerechtfertigt sie auch sein mochten. Harry Heffernan hatte nicht die Absicht, Geld für womöglich endlose Gerichtsverhandlungen wegen Missachtung irgendwelcher Regeln zu verschwenden, und die Samstagszeitungen waren sowieso voll von Berichten über die Festnahme des Priesters. Anfangs wollten sie trotzdem Siobhans Artikel über Byrnes frühere Festnahme auf die Titelseite setzen, einfach weil es so aussah, als wäre das am nächsten Morgen noch eine Exklusivmeldung. Aber selbst dieser Artikel war von Heffernan so stark zurechtgestutzt und vom Anwalt überprüft worden, dass kaum noch etwas Interessantes drinstand. Und ihr »Ich habe die Leiche im Park gesehen«-Artikel, den sie immer noch im Mittelteil bringen wollten, fing an, wie der Schnee von gestern auszusehen, was er ja auch war, besonders weil sich in der Öffentlichkeit die Ansicht verbreitete, dass der Priester endlich sicher hinter schwedischen Gardinen saß.

Jetzt, wo Anklage gegen Byrne erhoben worden war, war die Story für Griffin und die anderen so lange gestorben, bis es vor Gericht weiterging. Nicht nur das, sondern jeder Mitarbeiter der Zeitung wusste, dass Griffin die Titelseite sofort freiräumen würde, falls im Laufe des Tages etwas Aufregenderes hereinkam, womit ihr Priester-Zeug irgendwo versteckt auf Seite sieben landen würde. Niemand, am allerwenigsten die Polizisten, die gekommen waren, um ihre Aussage aufzunehmen und das Beweisstück zu holen, schien auch nur im Entferntesten daran zu glauben, dass an der Idee, der Verrückte würde noch frei herumlaufen, etwas dran sein könnte. Womit sie auch die Hoffnung begraben konnte, einen Schuss ins Blaue zu wagen. Griffin würde es nie zulassen, dass sie schrieb, Byrne könnte womöglich der falsche Mann sein. Wenn sonst nichts los war vielleicht, aber nicht an dem Tag, an dem über die Verhaftung berichtet wurde, und heute schon gar nicht.

Dass Griffin wahrscheinlich recht hatte, interessierte sie dabei nur am Rande. Der Verdacht schnürte ihre Eingeweide fester ein als ein Magenband, und er nahm einfach nicht ab. Sie brauchte nur etwas Zeit. Mulcahy hatte irgendetwas entdeckt, davon war sie überzeugt, und sie war fest entschlossen herauszufinden, was es war. Aber im Moment musste sie sich um die Arbeit kümmern, für die sie bezahlt wurde, und dabei möglichst wenig Aufsehen erregen. Vielleicht konnte sie ja in der Stunde, die Griffin mit Heffernan und den anderen Redakteuren in der Redaktionskonferenz verbrachte, ein paar eigene Anrufe erledigen und die Kugel ins Rollen bringen.

Kaum war Griffin verschwunden, hing sie am Telefon.

»Hallo, Donegal Courier«, meldete sich jemand mit starkem Akzent. Sie hatte sofort das Bild einer finster blickenden, dicken Frau in einem Fleecepullover und mit einem Schokoladeneclair vor Augen.

»Ich würde gerne mit Eamon Doherty sprechen.«

»Er ist nicht da – ich bin die Einzige hier bei den Kleinanzeigen.«

Siobhan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Chefredakteur einer regionalen Wochenzeitung an einem Samstag nicht ins Büro zu kommen brauchte, sondern am Wochenende freihatte wie ein ganz normaler Mensch.

»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann? Es ist dringend.«

Am anderen Ende der Leitung wurde ein tiefer Seufzer ausgestoßen. »Ich denke, er wird jetzt auf dem Golfplatz sein. Samstagmorgens spielt er normalerweise eine Runde. Sie können ihn auf seinem Handy erreichen.«

»Und wie ist seine Handynummer?«

»Diese Information geben wir am Telefon nicht heraus.«

Trotz allen Bittens und Flehens konnte Siobhan die Frau nicht überzeugen, ihr die Nummer zu geben. Nach ein paar Schmeicheleien erklärte sie sich jedoch bereit, Doherty anzurufen und ihm Bescheid zu sagen, dass er Siobhan anrufen solle.

»Sagen Sie ihm, Siobhan Fallon vom Sunday Herald in Dublin will ihn sprechen. Und bitte weisen Sie auch darauf hin, dass es dringend ist.«

Leise vor sich hin grummelnd legte Siobhan auf. Sie war sicher, dass die Frau ihrer Bitte nicht Folge leisten würde. In der Zwischenzeit sah sie ihre Kontakte durch und suchte nach anderen Leuten, die Verbindungen zu Doherty haben und seine Nummer kennen könnten. Gerade hatte sie ein paar entsprechende Kandidaten herausgesucht, als das Telefon klingelte.

»Hallo, hier ist Eamon Doherty vom Courier

»Wow, das ging ja fix.«

»Spreche ich mit der Siobhan Fallon?«

Ein angenehmer Schauer durchzuckte sie, als er das sagte. So ähnlich hatte sie sich das Leben immer erträumt. Sie hörte, wie er das Handy mit der Sprechmuschel abdeckte und jemandem sagte, sie sollten ohne ihn weitermachen, weil er einen dringenden Anruf hätte. Er würde gleich nachkommen.

»Ich hoffe, ich unterbreche Sie nicht bei Ihrer Golfrunde«, sagte sie, als er wieder dran war.

»Ich bin nicht Golf spielen«, sagte er. »Sonst hätte ich keine Zeit gehabt, nicht einmal für Siobhan Fallon. Genau genommen bin ich heute ganz in Ihrer Nähe – zum großen Match im Croke Park. Wir sind gleich um die Ecke von Ihnen und wollen gleich noch die Gastfreundschaft des ShelbourneHotels in Anspruch nehmen. Das kennen Sie bestimmt, am St. Stephen’s Green.«

Er sprach in einem koketten und etwas schalkhaften Ton. Er ist es gewohnt, der Hecht im Karpfenteich zu sein, dachte sie, und offensichtlich hatte er genug Selbstvertrauen. Sie blickte zu der geschlossenen Tür von Heffernans Büro hinüber und traf spontan eine Entscheidung.

»Was meinen Sie? Könnten Sie sich für ein kurzes Gespräch von der Bar entfernen, Eamon, wenn ich in den nächsten Minuten zu Ihnen stoßen würde?«

Die Uhr hatte noch nicht einmal Mittag geschlagen, trotzdem war der elegante, georgianische Tea Room des Shelbourne-Hotels voller Männer in Jeans und Fußballtrikots, die große Gläser Guinness in sich hineinkippten. Siobhan wusste, dass es nur diejenigen waren, die in die Hufeisen-Bar nicht mehr hineingepasst hatten – und so unpassend sie hier wirkten, war ihr doch klar, dass es bei Heimspielen im Shelbourne immer so aussah. Siobhan holte Doherty an der Rezeption ab, ergriff sofort, nachdem sie sich vorgestellt hatte, seinen Ellbogen und zog ihn mit sich zu ein paar leeren Stühlen in einer ruhigen Ecke der Lobby. Er sah nicht aus, wie sie es erwartet hatte, war kleiner, haariger und erheblich älter. Sie merkte jedoch sofort, dass er von ihr nicht enttäuscht war. Und er hatte offenbar schon eine ganze Menge gepichelt. Sie betete nur, dass das sein Gedächtnis nicht beeinträchtigte.

»Also, was ist so dringend, dass Sie mich vom Trinken abhalten müssen?«, fragte er und blinzelte nicht so unwiderstehlich, wie er glaubte.

Sie erzählte ihm von seinem Gerichtsartikel aus dem Jahr 1997 und fragte, ob er sich noch daran erinnerte, besonders die Verbindung zur früheren Story über Helen Martin. Nach seinem anfänglichen überraschten Grunzen hatte sie den Eindruck, als könnte sie fast hören, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn in Bewegung setzten. Doch bevor er antwortete, stellte er erst einmal selbst eine Frage.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich frage, warum Sie das wissen wollen?«

Sie lächelte ihn an. »Es geht nur um eine Hintergrundrecherche für einen Artikel, Eamon. Hören Sie, ich hätte nicht behaupten sollen, dass es dringend ist. Die Frau am Telefon klang allerdings nicht so, als wäre sie besonders scharf darauf, Ihnen das Wochenende zu versauen. Aber falls irgendetwas dabei herauskommt, werde ich Sie und den Courier erwähnen. Wenn Sie wollen, kann ich auch versuchen, ein paar Euros für Sie rauszuschlagen.«

Eigentlich hatte sie seine Frage nicht beantwortet, trotzdem schien er erst einmal zufrieden zu sein.

»Also, ich weiß nicht genau, was ich Ihnen dazu sagen kann. Die Geschichte mit Helen Martin ist ja schon über zwanzig Jahre her – auf jeden Fall war das vor meiner Zeit. Ich bin erst 1994 zum Courier gekommen und war 1988 noch auf dem College. Außerdem bin ich sowieso von der anderen Seite Donegals, aus der Gegend von Killybegs. Aber man kriegt natürlich mit, was die Leute sich so erzählen.«

Siobhan hörte ein raues Lachen aus der Bar und sah auf die Uhr. Griffin und die anderen würden noch eine Weile für ihre Konferenz brauchen.

»Und das wäre?«, fragte sie.

»Also gut. Helen Martin war ein junges Mädchen aus Gweedore. In jeder Beziehung ein reizendes Kind, aber die Familie ist kurz darauf weggezogen, weiß der Himmel, wohin. Wenn ich mich richtig erinnere, ist sie – damals war sie fünfzehn oder sechzehn Jahre alt – von einem anderen Jugendlichen angegriffen wurde, einem jungen Burschen aus Dublin, der die Sommerferien da oben verbracht hat. Und hinterher ist die ganze Sache unter den Teppich gekehrt worden, was in der Gegend viel böses Blut erzeugt hat.«

»Erinnern Sie sich noch an irgendwelche Einzelheiten?«, fragte sie.

»Eigentlich nicht, nur dass der junge Bursche Helen fast totgeprügelt hat. Mit einem … mit einem eisernen …«

Er stoppte plötzlich und richtete sich aus der gekrümmten Haltung auf, in der er erzählt hatte. Er schwieg zwar, am Glitzern seiner Augen sah Siobhan allerdings, dass er scharf nachdachte.

»Hey, Eamon, sind Sie noch da?«, fragte sie und stupste ihm sanft auf den Arm.

Junge, Junge, und wie er da war! Er war sogar hellwach. Bewusst langsam drehte er sich zu ihr um. Bei seinen folgenden Worten standen ihr die Haare zu Berge.

»Das hat mit diesem Priester zu tun, stimmt’s?«

Wenn sie etwas gegessen oder getrunken hätte, hätte sie sich verschluckt. Aber auch so bedurfte es größter Willensanstrengung, sich nicht zu verraten. Sie holte tief Luft, bevor sie sagte: »Wovon reden Sie, Eamon?«

»Das Kreuz«, sagte er.

»Was für ein Kreuz?«

»Das Kreuz, mit dem er auf sie eingeschlagen hat«, flüsterte Doherty und sah sich prüfend um, ob ihm jemand zuhörte. »Ein großes Eisenkreuz. Es heißt, sie sollen zusammen auf den Friedhof in Gweedore gegangen sein, wo sie sich ins hohe Gras legen wollten. Aber statt sie, na ja, zu umarmen, hat er angefangen, sie mit diesem großen Eisenkreuz zu verprügeln, das er von einem der Gräber genommen hat. Ich habe das immer für eine Legende gehalten, Sie wissen schon, ein Märchen, um den Mädchen Angst einzujagen. Doch das wollten Sie wissen, stimmt’s? Es geht um das Kreuz. Er war es, oder? Der Priester?«

Auf seiner Stirn bildete sich eine Schweißperle, und er fing vor Aufregung fast an zu zittern, als er in ihrem Gesicht nach einer Antwort suchte. Jetzt waren auch ihre Gedanken vor Angst blockiert. Mulcahy hatte wirklich etwas entdeckt. Wie konnte sie nur so dumm sein und die Katze gleich aus dem Sack lassen. Doherty wusste jetzt, was los war. Sie musste das Ganze sofort abwürgen. Ihr musste schnell etwas einfallen. Schneller als ihm jedenfalls. Sie musste ihn zur Ruhe bringen, damit er nicht die gleichen Schlüsse zog wie sie. Wenn er das tat, stand die Story nicht nur in ihrer Zeitung, sondern auch in allen anderen.

»Hey, hey, immer langsam mit den jungen Pferden, Eamon.« Sie lachte auf und dankte Gott, dass er schon halb weggetreten war – das kam ihr gelegen. »Ich glaube, das Bier hat Ihre Fantasie etwas zu sehr angeregt. Ich arbeite nur an ein paar Hintergrundstorys. Also, die Jungs in Blau sind überzeugt, dass sie den Priester geschnappt haben. Ich schreib nur eine Spalte über, na ja, andere seltsame religiöse Verbrechen, die im Lauf der Jahre begangen wurden. Sie wären überrascht, wie dünn gesät die sind. Und das in Irland. Ein Freund von mir hatte etwas von dieser Sache in Gweedore gehört – also wollte ich dem nachgehen und habe Sie angerufen.«

Sie versuchte so herablassend wie nur möglich zu klingen, setzte darauf, dass er sich, trotz seiner Großtuerei, im Vergleich zu ihr für einen Bauerntölpel aus der Provinz hielt. Es schien zu funktionieren.

»Wirklich?« Mit einem Mal klang er nicht mehr so überzeugt.

»Ich fürchte schon.« Wieder lachte sie. »Tut mir leid, wenn ich Sie vielleicht enttäuschen muss, aber soweit ich weiß, gibt es da keine Verbindung. Also, ich weiß ja auch gar nicht, wie der Junge damals hieß. Wissen Sie das? Der, der Helen Martin damals attackiert hat, meine ich. Aber ich würde tausend Euro darauf setzen, dass es nicht Emmet Byrne war, den sie jetzt hier in Gewahrsam genommen haben.«

Das schien ihn zu verwirren. Siobhan sah eine Kellnerin vorbeigehen und rief ihr zu: »Können Sie meinem Freund hier ein schönes Glas Guinness bringen?«

Doherty wirkte jetzt etwas nervös – selbst er musste langsam glauben, dass er betrunken war.

»Ja. Ja, okay. Da könnte was dran sein, Siobhan. Und vielleicht passieren bei uns draußen auch nicht so viele aufregende Dinge.« Mit einem Lachen versuchte er, seine Verlegenheit zu überspielen. »Mit dem Namen haben Sie auch recht.«

»Ja?«

»Also, um ehrlich zu sein, kenne ich den Namen des Jugendlichen gar nicht. Wie Sie wissen, ist es ja nie zu einer Verhandlung gekommen und …«

»Warum ist es denn nicht zu einer Verhandlung gekommen?«

»Oh, der Junge war verwandt mit einem großen Tier aus der Gegend. Zumindest stammte er von da. Sein Großvater war ein hoher Justizbeamter, ein früherer IRA-Junge, der es bis ganz nach oben geschafft hatte.«

»IRA

»Ja, aber wir reden von 1922. Ein Freund von de Valera, wissen Sie? Dem Gründungsvater der Republik. Sie nannten sie die ›Great Ones‹. Eine Gruppe junger Männer aus Donegal, die am Anfang extrem viel Einfluss hatte. Ich glaube, dieser Kerl ist dann irgendwann Vorsitzender des Höchsten Gerichts gewesen.«

»Ein Richter?« Siobhans Nackenhaare sträubten sich, als ihr die Schlüsselworte von Mulcahys Suche wieder einfielen. Sie erinnerte sich an die Nachrufe, die sie gelesen hatte. Es war immer um einen alten Richter gegangen. Als die Kellnerin mit Dohertys Bier kam, durchwühlte sie ihre Tasche, gab ihr einen Zehneuroschein und schickte sie mit den Worten, dass sie den Rest behalten könne, schnell wieder weg.

»Ja, ein Richter«, sagte Doherty und trank einen Schluck, bevor er fortfuhr. »Ein Junge aus dem Ort, der es zu etwas gebracht hatte. In Gweedore geboren und aufgewachsen. Ihm gehörte ein großes Haus am Meer, in dem er während der Gerichtsferien gewohnt hat. Der muss in jeder Beziehung ein richtiger, alter Bastard gewesen sein. Er hatte die Macht, Leute zum Schweigen zu bringen, und er hat sie auch genutzt – besonders bei der Polizei. Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde der junge Bursche nach dieser Sache sofort fortgeschafft und nie wieder gesehen. Helen Martin kam in eine Privatklinik, und die ganze Sache wurde vertuscht. Der Richter hat sogar noch eine Verfügung gegen den Courier durchgedrückt. Kein Wort darüber durfte nach außen dringen. Er soll die Familie des Mädchens bezahlt haben, aber wahrscheinlich hatten die sowieso keine andere Wahl, als den Mund zu halten. Die junge Helen muss sich dann wohl wieder erholt haben, kurz darauf sind sie weggezogen. Nach England, glaube ich.«

Das arme Mädchen, dachte Siobhan und erschauderte. Sie fragte sich, wie hinterwäldlerisch und abgelegen Gweedore sein musste, dass da so etwas noch 1988 passieren konnte.

Doherty musste an ihrer Miene erkannt haben, was sie dachte. »Wenn sie gestorben wäre, wäre das anders gelaufen. Selbst in den Achtzigern wurde da vor Priestern und Politikern oft noch ein Kotau gemacht – das hat sich lange gehalten, unter anderem wegen der Probleme drüben in Nordirland. Aber ihre Macht war im Schwinden begriffen. Was durch solche Vorfälle beschleunigt wurde, weil die Leute das einfach satthatten.«

»Aber dieser Richter ist noch damit davongekommen?«

»Ja, aber die Zeiten haben sich, wie gesagt, schnell geändert. Das hat in ganz Donegal viel böses Blut erzeugt. Er ist da nie wieder hingefahren, und das große Haus stand jahrelang leer, bis es nach seinem Tod verkauft wurde. Das muss vor 1997 gewesen sein, sonst hätten wir selbst diese kleine Anmerkung nicht veröffentlicht, die Sie im Internet gesehen haben. Der damalige Herausgeber war kein sehr kämpferischer Typ, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Oh ja, das kenne ich«, sagte Siobhan, nur um ihn bei Laune zu halten. »Ich überleg auch gerade, ob die Geschichte meinem Chef nicht schon ein bisschen zu riskant werden könnte. Ich meine, es ist eine Sache, dass keine Klage erhoben wurde, aber das klingt ja fast so, als ob es nicht einmal eine Festnahme oder einen Polizeibericht des Vorfalls gegeben hat, oder?«

Doherty lehnte sich zurück und zuckte die Achseln. »Wenn es einen gab, ist der schon vor Jahren verschwunden. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen … vielleicht lohnt es sich ja, dem mal nachzugehen. Obwohl die Leute die ganze Geschichte inzwischen vermutlich völlig vergessen haben.«

»Also, meinetwegen brauchen Sie da nichts zu unternehmen«, sagte Siobhan schnell. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das verwenden würde. Falls Sie trotzdem etwas rauskriegen, versprechen Sie mir, dass Sie mich als Erste informieren?«

Doherty lachte: »Sie haben recht, Siobhan. Abgemacht. Obwohl ich nicht glaube, dass irgendetwas anderes deshalb nächste Woche von unserer Titelseite fliegt. Das heutige Spiel und die Kürzungen beim Letterkenny General Hospital, das sind die Themen, die die Leute oben im Nordwesten interessieren.«

Siobhan entschuldigte sich noch einmal bei Doherty dafür, dass sie seine Zeit verschwendet hätte, und sagte, dass sie wieder in die Tretmühle müsse, worauf er mit seinem halbvollen Bierglas an die Bar schlenderte. Der abschließende Bluff war zwar riskant, aber sie musste verhindern, dass Doherty die Story weiterverfolgte. Wer weiß, vielleicht war der Kerl ja deutlich gewiefter, als sie dachte. Davon ging sie jedoch nicht aus. Indem sie gesagt hatte, dass sie kein weiteres Interesse an der Story hätte, hatte sie praktisch den Stecker gezogen. Für ihn waren es ohnehin nur olle Kamellen. Und selbst wenn er ein paar Nachforschungen anstellte – als Journalist vom alten Schlag würde er es vermutlich zuerst über sie an den Sunday Herald verkaufen wollen, um mal wieder groß rauszukommen.

Sie ignorierte das Angebot des Türstehers, ihr ein Taxi zu rufen, lief draußen die Treppe hinab und schnappte sich vor den Augen eines erschreckten Touristen selbst eins. Nicht einmal fünf Minuten später war sie wieder in der Nachrichtenredaktion und sah nach, was in Harry Heffernans Büro los war. Sie hatte Glück, die Konferenz ging länger als geplant – sie hörte noch dumpfe Stimmen durch die geschlossene Tür. Sie klangen erregt, vielleicht sogar so erregt, dass sie noch Zeit für eine kurze Recherche über diesen Richter hatte. Und über seinen Enkel, der jetzt … Mitte bis Ende dreißig sein musste. Wenn Gott es wirklich gut mit ihr meinte, war der Enkel ein Sprössling des väterlichen Familienzweigs. Hübsches Wort. Sprössling. Und in Dublin gab es bestimmt nicht viele Leute mit diesem Familiennamen.

Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Siobhan, wie ein echtes Lächeln um ihre Lippen spielte.