14
Der Anruf kam gegen 2:15 Uhr. Ihr Handy trillerte auf dem Nachttisch, bohrte sich in einen Traum, dessen Inhalt sie sofort vergessen hatte.
»Wenn Sie was Interessantes sehen wollen, kommen Sie in den Phoenix Park. Zum Furry Glen. Und zwar schnell, Baby«, wies sie die Stimme an.
Die Stimme war verzerrt wie immer, aber dennoch sofort als ihre schwer fassbare Quelle zu erkennen. Eine zehnsekündige Anweisung, die durch ihren Schlaf glitt wie ein Schlachtermesser durch ein Stück Fleisch, dann klickte es, und in der Leitung war es still. Siobhan war auf der Stelle wach, wühlte in der Dunkelheit nach ihrer Jeans, aus der sie sich erst vor vier Stunden herausgeschält hatte. Sie wollte unbedingt wissen, was da los war, konnte es kaum erwarten, zum Phoenix Park zu kommen und es herauszufinden. Sie machte sich nicht einmal schnell einen Kaffee. Für den Fall, dass sie später noch einen Kick brauchte, hatte sie eine Dose Red Bull im Wagen. Im Moment reichte ihr das Adrenalin vollkommen, das mit dem Blut durch ihren Körper gepumpt wurde.
Sie sprang hinters Lenkrad und dröhnte die Rampe aus der Tiefgarage hinauf, ohne sich darum zu kümmern, ob in den Wohnungen über ihr jemand schlief. In Gedanken war sie längst am Ziel, wägte ab, welche Möglichkeiten sie dort hatte, ging diverse Varianten durch. Warum das Furry Glen? Bei Tag war es ein überschätztes Ausflugsziel im Phoenix Park. Nachts machten die ruhigen, buschigen Parkwege es zu einem der beliebtesten Treffpunkte schwuler Männer. Hatte der Priester die Seiten gewechselt? War er dieses Mal womöglich auf einen Mann losgegangen?
Sie bremste leicht ab, als sie an die Ampel unten an der Grand Canal Street kam, dann trat sie aufs Gas und raste bei Rot über die Brücke. Ihre Quelle hätte sie nicht angerufen, wenn die Polizei nicht davon ausgehen würde, dass es etwas mit dem Priester zu tun hatte. Wahrscheinlich war sie schon dort. Und das, was die Garda dort interessierte, könnte auch noch da sein. Eine Leiche vielleicht?
Sie fuhr weiter durch die ruhigen Stadtstraßen, nahm den Fuß nur die wenigen Male etwas vom Gas, in denen sie ein anderes Fahrzeug sah. Wenige Sekunden nachdem sie den Fluss überquert hatte und in den Park hineingefahren war, sah sie, dass es sich um eine große Sache handelte. Die Einfahrt zur Wellington Road, die sich ein paar Kilometer am südlichen Rand des Parks bis zum Furry Glen entlangschlängelte, war von einem Streifenwagen blockiert, dessen Blaulicht in der Nacht blinkte. Sie fuhr weiter bis zur Chesterfield Avenue, der Hauptstraße, die den Park in zwei Hälften teilt. Die war jedoch auf die gleiche Art gesperrt, was auch für die nächste Zufahrt galt. Auf sämtlichen Seitenstraßen waren Streifenwagen postiert. Sie hatte inzwischen begriffen, dass der Versuch, mit dem Auto näher an die Senke heranzukommen, zum Scheitern verurteilt war, also parkte sie auf dem Rasenstreifen im Schatten eines Dickichts und schaltete den Motor aus.
Von hier war es eine zwanzigminütige Wanderung über flache Rasenflächen und durch feuchtes, dichtes Gehölz bis zum Glen. Sie wusste nicht genau, wie sie es bis dahin schaffte, jedenfalls dankte sie Gott für den Vollmond und sich selbst, weil sie so vernünftig gewesen war, ihre Turnschuhe anzuziehen statt der Schläppchen, in denen sie gestern unterwegs gewesen war. Die Handtasche, die an ihrem Arm baumelte, kam ihr allerdings etwas befremdlich vor. Aber zum Umkehren war es zu spät. Sie näherte sich schon ihrem Ziel, das aus der Ferne durch das charakteristische Aufblitzen von Suchscheinwerfern zu erkennen war, die einen Baldachin aus Lichtstrahlen bildeten. Als sie endlich die Upper Glen Road erreichte, sah sie zwei weitere Streifenwagen auf der Zufahrtsstraße zum Furry Glen stehen – sie waren aber mindestens hundert Meter voneinander entfernt. Offenbar hatte um diese Zeit niemand einen Gedanken daran verschwendet, den Ort auch für Fußgänger abzusperren.
Sie schlich unbemerkt zwischen ihnen hindurch, verschwand im Schatten der Bäume und schaffte es so bis zum Rand einer steil abfallenden Senke, die mit ihren etwa zehn Metern fast ebenso tief zu sein schien, wie sie breit war. Sie lehnte sich an die raue Rinde eines Baumes und inspizierte die Szenerie unter ihr, die von einer Batterie Bogenlampen an den Rändern der Senke in grelles Licht getaucht wurde. Darin befanden sich acht bis zehn, von Kopf bis Fuß in geisterhafte, weiße Overalls gehüllte Beamte. Einige standen, andere fotografierten, ein paar suchten auf Knien den Boden ab. Über einem dicken Betonrohr, das sich unten durch die Kuhle zog, hatte die Spurensicherung ein weißes Zelt errichtet. Siobhan blieb für einen Moment das Herz stehen, als sie überlegte, was sich darunter befinden könnte und wie sie von ihrem Standort unbemerkt an eine Stelle kam, von der sie einen Blick hineinwerfen konnte. Wahrscheinlich lag es an ihrer überschäumenden Fantasie, dass sie die Bewegung hinter sich nicht bemerkte. Die lauernde Gestalt. Den langen Arm, der ausgestreckt wurde, um sie zu ergreifen.
Trotz ihrer routinierten Proteste machten sie kurzen Prozess mit ihr. Der junge Polizist, der sie erwischt hatte, war zwar ziemlich freundlich. Wahrscheinlich hatte er so wie sie einen Riesenschreck gekriegt, als in der Dunkelheit plötzlich eine fremde Person vor ihm stand. Doch der Sergeant, zu dem er sie brachte, war eine ganz andere Nummer – kurzgeschorene Haare, roter Hals und ebensolche Flecken im Gesicht. Einer von der Sorte, die gerne Fragen stellte, auf die er die Antwort längst kannte.
»Was zum Teufel haben Sie denn hier zu suchen?« Sein Sligo-Akzent war so breit wie sein Nacken. Er beäugte ihren Presseausweis vom Sunday Herald, als würde ihm etwas Stinkendes an der Hand kleben.
»Ich mache nur meine Arbeit, Sergeant. Soweit mir bekannt ist, ist das nicht verboten.«
Während er über eine vernichtende Erwiderung nachdachte, sah Siobhan sie: drei Gestalten – zwei Männer und eine Frau –, die fünfzig Meter vor ihnen aus der Dunkelheit kamen und auf die Senke zugingen. Einer der Männer trug ebenfalls einen weißen Overall und erläuterte den anderen beiden angeregt etwas. Dabei unterstützte er seine Worte mit ausladenden Gesten. Die anderen beiden waren in Zivil, ohne Zweifel Detectives. Als sie an die Senke kamen und über den Rand hinabblickten, waren die Silhouetten ihrer Gesichter vor dem hellen Scheinwerferlicht deutlich zu sehen. Siobhan meinte, eins zu kennen, war allerdings nicht vollkommen sicher.
»Wenn Sie sich nicht langsam entscheiden, werden wir die ganze Nacht hier verbringen, Sergeant«, sagte sie. »Äh, ist das da drüben nicht Inspector Brogan? Wir kennen uns ganz gut.« Sie lächelte ihn strahlend an, um die Lüge zu überspielen.
Der Sergeant sah in Richtung ihres ausgestreckten Fingers. Er folgte ihm mit skeptisch hochgezogener Augenbraue, sah Siobhan an und dann wieder zu Brogan hinüber.
»Und woher kennt sie Sie?«
»Ach, wir sind alte Bekannte. Von ganz früher. Ich bin sicher, dass sie gern mit mir reden würde. Könnten Sie vielleicht rübergehen und sie kurz fragen?«
»Sie ist beschäftigt«, sagte der Sergeant und gab ihr den Presseausweis zurück.
Er hatte recht. Genau in diesem Moment erschienen neben Inspector Brogan die weiß verhüllten Köpfe von zwei Männern in Overalls über dem Rand der Senke. Sie kletterten heraus, drehten sich um und zogen etwas hoch, das wie eine Leichtmetalltrage aussah. Ihnen folgten zwei weitere Träger, die die Arme nach oben ausstreckten, um die Trage möglichst waagerecht zu halten. Vorsichtig bugsierten die vier ihre lange, schmale Ladung nach oben, und erst als alle oben standen, sah Siobhan, was auf der Trage festgeschnallt lag. Es war eine Leiche in einem Leichensack. Ohne jeden Zweifel.
»Heilige Mutter Gottes«, sagte der Sergeant neben ihr leise, bekreuzigte sich und führte ein unsichtbares Kruzifix an die Lippen. Wie Siobhan und die anderen uniformierten Polizisten, die etwas abseits standen, blickte er vollkommen erstarrt auf die Bahrenträger, die vor den Detectives warteten. Derjenige, der gerade noch etwas erzählt hatte, öffnete den Reißverschluss und gestikulierte hastig in Richtung des Kopfs oder des Oberkörpers der Leiche. Doch dann fiel dem Sergeant die Fremde in ihrer Mitte wieder ein, und er sah Siobhan mit unheilschwangerem Blick an.
»Ich kann mir wie gesagt nicht vorstellen, dass Inspector Brogan jetzt gestört werden möchte.«
»Da könnten Sie recht haben«, gestand Siobhan ein, öffnete ihre Handtasche und steckte den Notizblock, den Stift und die Visitenkarten wieder hinein. Sie hatte überlegt, ob sie etwas rufen oder sonst irgendetwas tun sollte, um an einen Originalton von Brogan zu kommen, wurde aber das Gefühl nicht los, dass ihr das höchstens eine Nacht in einer eiskalten Zelle einbringen würde. Dies war nicht der Moment, um Theater zu machen. Sie hatte mehr als genug gesehen. Ihr Hauptziel musste jetzt sein, so schnell wie möglich ins Büro zu kommen und die Story auf den Weg zu bringen.
»Dann muss ich wohl einfach noch etwas warten«, sagte sie zu dem Sergeant. »Immerhin kann ich dabei ein paar Eindrücke sammeln. Es sei denn, Sie bringen einen von Ihren Leuten dazu, mich zu meinem Wagen zurückzufahren.«
Der Sergeant ließ seinen Blick über die sechs Streifenwagen schweifen, die hinter ihnen am Straßenrand parkten. Die davor stehenden Fahrer starrten gebannt die Bahrenträger an, die ihre Last jetzt hinten in einen Krankenwagen legten. Die Detectives waren schon verschwunden.
»Eine Freundin von Inspector Brogan sind Sie also?«, sagte der Sergeant dann in einem etwas freundlicheren Tonfall. »Was sagten Sie, wo Sie ihn geparkt haben?«
»Ganz hinten an der Hauptstraße«, sagte sie mit einem Seufzer, den sie noch mit einem leichten Flunsch unterstützte. »Ich bin eine halbe Stunde gelaufen, bis ich hier war, weil Ihre Leute ja sämtliche Straßen abgesperrt haben.«
»Ah, natürlich. Aber genau wie Sie haben auch wir nur unsere Arbeit getan. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten?«
Sein Lächeln strahlte fast schon wie das eines Heiligen, wodurch sich seine Züge vollkommen veränderten.
»Ja, was denn?« Sie erwiderte das Lächeln.
»Chauffeurdienste für Abschaum wie Sie gehören leider nicht dazu.«
Sie war so verblüfft von dem Knurren in seiner Stimme, dass sie kein Wort mehr herausbekam. Als sie sich endlich wieder so weit gefangen hatte, um eine Antwort zu geben, hielt ihr der Sergeant seine flache Hand vors Gesicht und rief denselben Garda zu sich, der sie hinter dem Baum entdeckt hatte.
»Crilly«, sagte er, »bringen Sie diese verdammte Parasitin zu der Stelle, wo Sie sie gefunden haben, und geben Sie ihr einen Stoß in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Dann warten Sie dort und passen auf, dass sie sich nicht zurückschleicht. Denn wenn sie das tut, reiß ich Ihnen beiden den Arsch auf.«
Obwohl Siobhan den Sergeant auf dem kompletten Rückweg zum Wagen verflucht hatte, musste sie hinterher zugeben, dass er ihr das zweitschönste Geschenk an diesem Morgen gemacht hatte. Hätte er sie nämlich nicht gezwungen, durch den feuchten Park zurückzustapfen, hätte sie es gar nicht bemerkt. Obwohl sie hundemüde war und ihre Beine sich wie an die Hüfte geschweißte Bleirohre anfühlten, kam sie gut voran. Die Morgendämmerung linderte die Finsternis, und der rosa Schimmer am Himmel wurde von Minute zu Minute größer. Auf einem kurzen Umweg um eine dicht bewachsene Baumgruppe blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen, als direkt vor ihr ein kleines Rudel braungelber Hirsche aus dem Unterholz kam. Sanft ästen sie die weiß benetzten Halme. Den Atem verschlug ihr dann jedoch das, was hinter dem Rudel zu sehen war: Am Ende der weiten Fläche, die sich von ihrem Standpunkt nach Osten erstreckte, fiel ihr etwas ins Auge, das sie stehen bleiben ließ. Hingerissen sah sie es an.
Vor dem leeren Himmel und der aufgehenden Sonne erhob sich vielleicht einen Kilometer von ihr entfernt das riesige Stahlkreuz, das 1979 zum Besuch von Johannes Paul II. in Irland errichtet worden war. An diesem außergewöhnlichen Tag war auch sie mit ihren Eltern hier im Park gewesen, als mit anderthalb Millionen Menschen fast die Hälfte der Einwohner Irlands aus allen Teilen des Landes hier zusammengekommen war, um mit dem charismatischen Vater der katholischen Kirche unter freiem Himmel die heilige Messe zu feiern. Ihr fielen das Gedränge und die Menschenmassen wieder ein. Sie war damals sechs gewesen und hatte ihr weißes Kommunionskleid getragen, das dieselbe Farbe hatte wie die Robe des Papstes und das Kreuz. Sie erinnerte sich an die flatternden Fahnen und Wimpel und die begeisterten Rufe, als das Papamobil auf verschlungenen Wegen zum Kreuz fuhr, damit ihn alle Gläubigen sehen konnten. Vor allem erinnerte sie sich jedoch daran, wie der Heilige Vater schließlich an den Altar trat und ihr eigener Vater wie verrückt zu jubeln anfing, während er sie mit seinen starken, ausgestreckten Armen hoch über seinen Kopf hielt. Die Begeisterung der Menge hatte sie immer mehr mitgerissen, bis sie sich schließlich wie ein Engel vorgekommen war, der zum Himmel emporstieg.
»Ihr jungen Menschen Irlands, ich liebe euch«, hatte der Papst gesagt, und die ganze Nation hatte ihm zu Füßen gelegen.
Wohin war dieses Gefühl, dieser Geist verschwunden, fragte sie sich. Sie hatte so etwas seitdem nie wieder erlebt. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass heutzutage so etwas geschah. Damals war Irland vollkommen anders gewesen. Jetzt war es wie jedes andere Land. Wenn es das Papstkreuz nicht gäbe, würden sich die Leute kaum noch an diesen Tag erinnern. Sie sah es noch einmal an – der weiße Stahl glänzte vor dem tiefschwarzen Himmel und der rotglühend aufgehenden Sonne. Das Kreuz war damals ein Symbol der Hoffnung und des Glaubens gewesen. Heute Morgen kam es ihr jedoch eher vor wie ein schreckliches Zeichen des zornigen, alttestamentarischen Gottes. Wie einen anklagenden Finger streckte es seinen langen, schwarzen Schatten durch den Park, bis hin zu der Leiche und der Garda im Furry Glen.
Ein gespenstisches Bild, das den gespenstischen Umständen entsprach, dachte Siobhan und hatte damit auf Anhieb den Wert der Story für die Regenbogenpresse erkannt.
»Okay, alle zu mir. Das ist wichtig. Los jetzt, nicht einschlafen.«
Um die fünfzig Personen hatten sich in das winzige Einsatzzentrum gequetscht, trotzdem war es sofort ruhig, als Brogan in die Hände klatschte. In ihrem zerknitterten Kostüm und mit den ungekämmten Haaren sah sie aus, als wäre sie die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Ihre Augen waren verquollen, wirkten aber aufmerksam. Sie muss wohl irgendetwas genommen haben, dachte Mulcahy und hoffte, dass es etwas Legales war. Auch Cassidy strotzte vor Energie. Er hielt etwas Zusammengerolltes in der Hand, und seine Miene strahlte seltsam erwartungsvoll.
»Ein paar von euch werden das schon in den Nachrichten gehört haben. Für alle, die bisher nicht wissen, worum es geht, fass ich es noch einmal kurz zusammen: Gestern Abend wurde im Phoenix Park eine Leiche gefunden. Ein Paar, das mit dem Hund spazieren ging – die Details sind jetzt überflüssig –, hat die Überreste eines jungen Mädchens gefunden. Ein Teenager, dessen Leiche in Plastikfolie eingewickelt und im Furry Glen unter einem Abflussrohr versteckt worden war. Heute Morgen hat der Leichenbeschauer den Verdacht bestätigt, dass es sich um unseren Täter handelt.«
Als Cassidy den DIN-A3-Ausdruck ausrollte, den er in der Hand hielt, schnappten viele im Raum nach Luft. Das Bild zeigte die Ruhe und Unbeweglichkeit des Todes. Ein Mädchen, eingewickelt in durchsichtige Plastikfolie, die um den freigelegten Kopf, Oberkörper und Rumpf im Blitzlicht der Kamera schimmerte. Die kastanienbraunen, kräftigen Locken umrahmten ein alabasterweißes, fast engelhaftes Gesicht mit wie im Schlaf geschlossenen Augen – ein Eindruck, bei dem nur der Fleck auf der Stirn störte. Der friedliche Gesichtsausdruck stand in extremem, fast schon unglaubwürdigem Kontrast zu den entsetzlichen Verletzungen, die man ihr auf den sichtbaren Teilen der Brust und den Oberarmen zugefügt hatte. Alle im Raum kannten diese Wunden von Jesica Salazar und Catriona Plunkett – der schreckliche Anblick, der entsteht, wenn weißglühendes Metall auf nackte Haut gepresst wird. In diesem Fall schien der Täter allerdings sogar noch wütender gewesen zu sein. Es war kaum eine Stelle zu sehen, die nicht verrußt, verbrannt oder mit Blasen übersät war. Mulcahy nahm an, dass er nicht der Einzige war, der ein stilles Gebet zum Himmel schickte, dass der Tod schnell eingetreten und das Mädchen so vor dem Schlimmsten bewahrt worden war.
»Wie ihr seht, ermitteln wir jetzt in Sachen Mord.« Brogan machte eine kurze Pause. »Ich wurde um drei Uhr morgens zum Tatort gerufen, um den Verdacht der Mordkommission zu bestätigen, dass unser Mann dafür verantwortlich ist. Ob die exzessive Berichterstattung zu der Eskalation beigetragen hat, bleibt noch festzustellen.«
Empörtes Murmeln brandete auf.
»In Ordnung, schon gut, Ruhe bitte«, sagte Brogan. »Was geschehen ist, ist geschehen, das lässt sich nicht mehr ändern. Damit müssen wir uns abfinden. Der genaue Todeszeitpunkt muss noch bestimmt werden, da die Totenstarre aber voll ausgebildet war, schätzt der Leichenbeschauer, dass der Tod vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden früher eingetreten ist. Das bedeutet, es ist ungefähr zwischen Dienstagmitternacht und Mittwochmitternacht passiert. Wie es aussieht, hat die Tortur des armen Kindes jedoch schon sehr viel früher angefangen. Die beiden entscheidenden Punkte sind dabei, dass unser Mann seinen Einsatz so weit erhöht hat, dass er nicht mehr zurückkann. Er hat einen Menschen umgebracht. Zweitens geht es um Mord. Der Fall wird also neu zugeteilt.«
»Ach, verdammte Scheiße noch mal!«, rief Hanlon ungläubig, der seine Erregung nicht im Zaum halten konnte und damit die Meinung fast aller im Raum zusammenfasste. »Ist denen klar, dass wir uns den Arsch aufgerissen haben?«
»Psst, Ruhe jetzt.« Brogan hob die flachen Hände, um die lauter werdenden, unzufriedenen Stimmen zu beschwichtigen. »Ich versteh ja, dass ihr sauer seid, aber ihr wisst, wie das läuft. Mord ist Mord.« Während sie darauf wartete, dass ihre Worte Wirkung zeitigten, wandte sie sich an Cassidy, der aus irgendeinem Grunde aussah, als versuchte er, ein Lächeln zu unterdrücken. Mulcahy fing an sich zu fragen, ob er an Halluzinationen litt oder träumte, als Brogan sich wieder den Polizisten zuwandte und auch ein Lächeln im Gesicht hatte.
»Ein letzter Punkt noch«, sagte sie. »Ich möchte, dass ihr mir gut zuhört. Ich habe gesagt, dass der Fall neu zugeteilt wurde. Ich habe nicht gesagt, dass wir nicht mehr dabei sind. Tatsächlich habe ich ein paar sehr gute Argumente dafür vorbringen können, dass sie uns als Ganzes mit hineinnehmen. Wir sind Teil des Mordermittlungsteams, ihr Trottel.«
Ein triumphales Johlen brach aus, und alle Polizisten im Raum lächelten und klatschten Beifall. Es war wie immer: Je bedeutender und blutiger der Fall war, desto dringender wollte jeder anständige Polizist daran mitarbeiten und den Täter schnappen. Besonders wenn man schon so viel Zeit und Herzblut investiert hatte. Für die meisten Detectives war eine Mordermittlung der beste und aufregendste Job, den sie sich wünschen konnten. Die Tatsache, dass ein Mädchen tot war, geriet dabei nicht in Vergessenheit. Doch ihnen war klar, dass sie jetzt eine noch bedeutendere Aufgabe vor sich hatten.
Cassidy winkte mit einer Hand, damit es etwas ruhiger wurde, und hielt mit der anderen Brogans Arm hoch, als hätte sie eine lokale Meisterschaft gewonnen.
»Sie ist sogar zum Deputy Senior Investigating Officer ernannt worden, Leute – man kann uns also nicht einfach an den Rand drücken.«
Wieder brandeten Applaus und anerkennende Rufe auf.
»Okay, dann packt mal eure Papiere und Laufwerke«, fuhr Brogan fort. »Alle, die einen Laptop haben, nehmen ihn mit. Das Einsatzzentrum ist ab sofort in der Kilmainham Garda Station. Das nächste Briefing findet dort um Punkt elf unter der Leitung von Detective Superintendent Lonergan statt. Denkt daran, dass ihr euch anmeldet, damit die Wagen auf den Parkplatz können. Sergeant Cassidy hat die Telefonnummer.«
Als das Scharren der Stühle den Raum erfüllte und die Leute anfingen, aufgeregt hin und her zu laufen, fiel Mulcahy auf, dass Brogan ihn ansah und mit einer kurzen Kopfbewegung zur Seite orderte.
»Glückwunsch«, sagte er. »Gut gemacht.«
»Ja, danke.«
»Aber schon etwas seltsam, dass er die Leiche so versteckt, oder? Besonders nachdem er sich so große Mühe gegeben hat, sie zu markieren.«
»Ja, seltsam ist das«, stimmte sie zu. »Das habe ich mir auch schon gedacht. Die Leiche hätte monatelang unter dem Rohr liegen können, bis irgendjemand zufällig darüber stolpert.«
»Im Prinzip ist das genau das Gegenteil von dem, was er draußen in Fairview getan hat.«
»Ich finde das auch unlogisch. Warum sollte er sie verstecken?«
»Warum wollen Menschen überhaupt irgendetwas verstecken?«
Sie sah ihm in die Augen und versuchte herauszubekommen, was er damit sagen wollte. »Glauben Sie, dass ihm der ganze Presserummel zusetzt? Dass er dem Druck nicht mehr standhält?«
Mulcahy zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich. Bei den anderen Opfern hat er es so angestellt, dass man glauben musste, es sollte so schnell wie möglich bekannt werden.«
»Halten Sie es für möglich, dass er sich plötzlich deswegen schämt? Wie wahrscheinlich ist das, wenn man überlegt, was er den anderen angetan hat? Er hat sie zwar nicht getötet, aber immerhin halbtot zurückgelassen.«
»Das sieht er womöglich anders. Wer weiß, vielleicht war es ihm aus irgendeinem Grund wichtig, die Mädchen nicht zu töten? Und diese Grenze hat er jetzt überschritten, weil er sich hat hinreißen lassen und nicht mehr aufhören konnte oder so. Eventuell war der letzte Überfall ganz anders geplant gewesen.«
»Sofern es wirklich so etwas wie einen Plan gibt«, sagte Brogan und nickte, während sie weiter darüber nachdachte und das Gespräch für spätere Überlegungen abspeicherte. Dann trat sie einen halben Schritt zurück und sah Mulcahy scharf an. »Sie wissen, dass Healy damit raus ist aus der Sache? Lonergan wird die Leitung der gesamten Ermittlung übernehmen.«
Mulcahy nickte und fragte sich, worauf sie hinauswollte. »Kennen Sie ihn?«
»Nein«, sagte sie, »aber spätestens heute Abend werde ich das.« Sie lächelte etwas zögerlich, bevor sie fortfuhr: »Die Sache ist die, Mike, ich habe heute Morgen nachgefragt, weil Sie ja schließlich nicht zu meinem Team gehören, na ja, worauf Healy geantwortet hat, dass Sie zurückbleiben müssen. Sie werden nicht der neu gebildeten Mordermittlungsgruppe zugeteilt. Warum, weiß ich nicht. Er hat nur gesagt, dass ihn die Übergabe den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen wird, und mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass Sie sich bereithalten und ›auf weitere Befehle warten‹ sollen. Das waren seine Worte. Tut mir leid.«
Sie sagte es, als erwartete sie, dass Mulcahy ob dieser Nachricht am Boden zerstört wäre. Der reagierte allerdings genau umgekehrt. Er fühlte sich – insbesondere im Hinblick auf Murtagh und die frei werdende Stelle im Süden – extrem erleichtert. Herrje, wenn er im Zuge eines Massentransfers zur Mordkommission überstellt worden wäre, hätte es Monate dauern können, da wieder herauszukommen.
»Das ist in Ordnung, Claire. Ich werde etwas Sinnvolles finden, was ich noch erledigen kann.«
»Ehrlich?«, sagte sie und sah ihn an, als glaubte sie nicht, dass er es wirklich so locker nahm.
»Natürlich«, sagte er. »Ich schaff das schon.«
»Also, mir ist durchaus klar, dass nicht alles perfekt gelaufen ist, Mike, aber …«
Wenn sie drauf und dran war, etwas Nettes zu sagen, wurde sie durch Cassidy davon erlöst, der auf der anderen Seite des Zimmers einen Schrei ausstieß.
»Chef?«
Sie sah kurz zu ihm hinüber und dann wieder zu Mulcahy. Er beschloss, sie von ihrem Leiden zu erlösen. »Gehen Sie, Claire. Wir sehen uns.«
Sie wandte sich gerade ab, als es ihm wieder einfiel: »Oh, eins noch. Sie sind wohl nicht dazu gekommen, sich den Fall anzusehen, von dem ich Ihnen gestern Abend erzählt habe – Caroline Coyle?«
Sie blinzelte, schien nicht genau zu wissen, wovon er sprach. Offenbar hatten die Ereignisse des frühen Morgens seinen Bericht von gestern Abend zwischenzeitlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
»Ach, Mist. Nein, Mike, tut mir leid. Das klang wirklich vielversprechend, aber … Ich war die ganze Nacht mit dem Leichenfund beschäftigt. Das war mir komplett entfallen. Können Sie es mir in einer E-Mail noch einmal kurz zusammenfassen? Ich setz dann sofort jemanden dran, okay?«
»Kein Problem«, sagte er, betrachtete ihren Rücken, als sie wegging, und sah dann Andy Cassidy, der ihn triumphierend von der anderen Seite des Raums angrinste. Das Arschloch. Den würde er nicht vermissen. Mulcahy wusste allerdings noch nicht genau, was er mit Sergeant Brennan machen sollte.
»Das ist prima gelaufen, Siobhan, alles klar«, tönte die körperlose Stimme des Produzenten Seosamh Gaffney direkt in ihre Ohren. Sie saß in einer kleinen Interviewkabine. Wenigstens konnte sie von hier aus die beiden Moderatoren in ihrem verglasten Studio sehen und mit ihnen Augenkontakt aufnehmen. Gaffney, der sie eingeladen hatte und dessen Augen immer größer geworden waren, als sie sich beim Verkabeln des Mikrofons über ihre Neuigkeiten unterhalten hatten, war während der Sendung in einem nahe gelegenen Kontrollraum verschwunden, um ein paar Knöpfe zu drücken. »Und tausend Dank noch mal. So eine aufregende Story haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr in einer Sendung präsentieren können.«
Sie nahm den Kopfhörer ab und rieb sich die kribbelnden Ohren. Sie konnte Kopfhörer nicht ausstehen, mochte es nicht, wie ihre Stimme auf beiden Kanälen widerhallte. Aber so lief es bei Morning Ireland nun einmal, und Gaffney hatte es sich nicht ausreden lassen. Insbesondere weil er wollte, dass Siobhan mit anderen Interviewgästen diskutierte, die zugeschaltet wurden. Es war eine verdammt gute Sendung gewesen, weil alle im kleinen RTE-Nachrichtenstudio zu Höchstform aufgelaufen waren. Kein Zweifel, dies war ein echter Knüller, von dem die anderen Sender und Nachrichtenagenturen noch nicht einmal gerüchteweise gehört hatten. Lawlor und Mac Coille, die beiden Moderatoren, hatten sich förmlich überschlagen, um all ihre Fragen loszuwerden und so viel wie möglich aus der Sache herauszuholen. Sie wussten, wie viele Menschen vor Schreck plötzlich hellwach waren oder ihre Cornflakes durchweichen ließen, weil sie fürchteten, durch ein falsch getimtes Knuspern eine wichtige Einzelheit zu verpassen. Schließlich handelte es sich um die meistgehörte Radiosendung des Landes. In ihr wurde die Nachrichtenagenda für den ganzen Tag gesetzt. Und auf die Art etablierte RTE das Thema für den ganzen Tag, denn was in Morning Ireland über den Sender ging, wurde endlos in sämtlichen Sendungen des Tages wiederholt und recycled.
Gleich nachdem sie an ihrem Wagen angekommen war, hatte sie Gaffney angerufen, einen alten Freund von der Journalistenschule. Er war praktisch vor ihr auf die Knie gefallen, so sehr hatte er gefleht, dass sie in seine Sendung kommen solle. Er hatte ihr sogar angeboten, sie in einer Limousine abholen und ins Studio fahren zu lassen. Aber was hätte das gebracht, wo sie direkt neben ihrem Cabrio stand. Außerdem hatte sie auf der Fahrt die Gelegenheit, sich zu sammeln und die Geschichte im Kopf in die richtige Reihenfolge zu bringen. Und sie hatte Zeit, Paddy Griffin anzurufen und sich von ihm die Erlaubnis für das Interview zu holen – und dann lachend zur Kenntnis zu nehmen, wie der am Telefon über den Fluch schimpfte, bei einer Sonntagszeitung zu sein. Kaum anderthalb Stunden nachdem sie von dem Dorftrottel von Sergeant weggeschickt worden war, schlürfte sie in den RTE-Studios in Donnybrook einen Kaffee und plauderte mit Gaffney, während ein Techniker einen Soundcheck durchführte. Und nach der kurzen Einführung, in der sie als »die brillante Chefreporterin vom Sunday Herald – Siobhan Fallon« vorgestellt worden war, fing sie an, in plastischen Bildern über das zu berichten, was sie in den frühen Morgenstunden am Furry Glen gesehen hatte. Natürlich erwähnte sie so oft wie möglich den Herald – sie würde es nicht riskieren, Harry Heffernan zu verärgern, so lange die Lohnerhöhung nicht in Stein gemeißelt war –, achtete aber auch darauf, dass der Löwenanteil des Erfolgs ihr zufiel. Es war ja nicht so, dass sie es nicht verdient hätte. Sie musste nur hier und da ein paar Kleinigkeiten ausschmücken. Die vagen Umrisse, die sie gesehen hatte, ließen sich ohne Weiteres in bunten Farben ausmalen, das gespenstische Leuchten der Lichtbogenlampen in der Dunkelheit, die geisterhaft herumirrenden Leute von der Spurensicherung unten in der Senke, der traurige Anblick der Leiche, die auf der Bahre weggetragen wurde. Aber das beste Requisit zur Veranschaulichung ihrer Story war das riesige Papstkreuz – der schwarze Schatten vor der tiefroten, langsam aufsteigenden Sonne. Und es ging allen runter wie Öl.
Was dazu führte, dass Pat Kennedy, nachdem er Siobhan gebeten hatte, auch in seiner Sendung aufzutreten, diese mit dem Bild des brennenden Kreuzes einleitete. Das ging den ganzen Vormittag so weiter, sie latschte von einem Studio zum nächsten, vom Radio zum Fernsehen und wieder zurück, und holte so aus der Sache heraus, was herauszuholen war, bis sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, noch ein einziges Wort darüber zu sagen. Dann rief sie Gaffney an und bat ihn, die Limousine zu schicken, die er ihr versprochen hatte. Sie wollte nach Hause. Als sie auf dem weichen Ledersitz des luxuriösen Mercedes nach Hause schwebte, konnte sie die Augen kaum noch offen halten. Im Radio hörte sie, wie die Story von anderen übernommen und weiter ausgeschmückt wurde, so dass das Papstkreuz schon fast ein eigenes Leben bekam. Sie wusste, dass – während sie sich jetzt hinlegte – jeder Journalist und Berichterstatter dieses Bild übernehmen und als Sinnbild für jedwedes Problem und Unbehagen verwenden würde, das er mit dem Irland der Gegenwart hatte.
Und sie wusste auch, dass die Story durch den Mord und das Bild des brennenden Kreuzes für einen Riesenwirbel sorgen würde: Der Priester würde zum Inbegriff von Schande und Schmach werden, wie es Irland seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Nichts war schlimmer für eine Gesellschaft, die glaubte, etwas hinter sich gebracht zu haben, als bei jeder Gelegenheit wieder zurückgeworfen zu werden und sich von Neuem Sorgen darüber machen zu müssen. Und in Irland war der Katholizismus immer noch derart tief im Leben der Menschen verankert, dass er die unterschiedlichsten Reaktionen zeitigen konnte. Wobei besonders diejenigen, die glaubten darüberzustehen – es aber nicht taten –, in Rage gerieten. Als der Schlaf Siobhan in der Limousine schließlich übermannte, meinte sie, ihren Namen zu sehen, Siobhan Fallon, als wäre er von Engeln in die Luft geschrieben und dann weiter emporgetragen worden, bis er bei dem ihm angemessenen Platz zwischen den Stars und Sternchen angekommen war.