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Siobhan Fallon wartete vor ihrer Wohnungstür, während der Kerl, der die Blumen bei ihr abgegeben hatte, die Treppe hinunterpolterte. Erst als sie hörte, wie die Haustür unten zufiel, ging sie zurück in ihre Wohnung. Ihres Wissens war zwar bisher nie jemand in Ballsbridge Court eingebrochen. Dafür war die Anlage viel zu gepflegt. Aber die Wichtigtuer von der Bewohnergemeinschaft würden ihr mangelndes Sicherheitsbewusstsein unterstellen, wenn sie aus der Reihe tanzte. Und sie hatte jetzt wirklich nicht das Bedürfnis, sich Ärger einzuhandeln. Ihre Wohnung war der einzige Ort, an den sie sich zurückziehen konnte, und das sollte so bleiben. Etwas behindert durch den großen Blumenkorb in ihrem Arm – rosa und weiße Rosen, strahlende Lilien und wer weiß, was noch alles – ging sie behutsam weiter zu dem kleinen Kiefernholz-Esstisch am Wohnzimmerfenster. Sie stellte den Korb auf die Zeitung, die sie vorsorglich ausgelegt hatte, überlegte kurz, ob sie ihren Fotoapparat holen und den Augenblick festhalten sollte, als sie den Umschlag sah, der am Korb klebte. Kein anderer als Harry Heffernan, der Chefredakteur, hätte so eine Sonntagslieferung organisieren können. Trotzdem wollte sie es mit eigenen Augen schwarz auf weiß sehen.
Wie sich herausstellte, war die Karte eine ziemliche Enttäuschung. »Für unsere Starschreiberin! Mit Zuneigung und Hochachtung – Harry.« Wie lahm war das denn? Noch schlimmer als seine miesen Schlagzeilen.
Siobhan starrte auf den Sunday Herald, der ausgebreitet auf dem Tisch lag. Den größten Teil der Titelseite nahm ein klassisches Paparazzifoto ein, auf dem der Fußballnationalspieler Gary Maloney in den typischen, grellen Farben einer nächtlichen Blitzlichtattacke aus einem eleganten, georgianischen Hauseingang heraustrat. Das blondierte Haar war zerzaust wie das eines verschlafenen Sechsjährigen, die Augen rot gerändert von zu viel Alkohol – oder irgendwelchen anderen Stimulanzien. Aus der Sicht der Nachrichtenmacher entwickelte das Foto seinen Zauber jedoch erst durch den Hintergrund mit dem gut erkennbaren, blond gerahmten Gesicht von Suzy Lenihan, die ihm gerade eine Kusshand zuwarf. Das berühmte Exmodel war die Ehefrau von Marty Lenihan, dem Trainer der irischen Nationalmannschaft. Das hätte alles noch in Ordnung und sogar vielleicht ganz nett sein können, wären da nicht noch die perfekt ausgeleuchteten Kurven von Schulter und Hüfte gewesen, die aus dem Türrahmen herausragten und belegten, dass Suzy splitternackt war. Unter diesen Umständen war die grelle Schlagzeile, die in 72-Punkt großen, weißen Buchstaben auf schwarzem Grund links neben dem Foto prangte, schon fast überflüssig: MALONEY UND TRAINERFRAU: TREFFER, VERSENKT.
Alles andere auf der Titelseite war von Siobhan. Sie musterte den Text, wenn auch nicht direkt voller Stolz, aber doch mit tiefster Zufriedenheit. Besonders gut gefielen ihr die fünf Wörter, die über dem Bericht in Fettdruck standen: Von unserer Chefreporterin Siobhan Fallon. Sie hatte hart gekämpft, um diesen Titel zu bekommen, und sehr häufig war sie nur dann, wenn sie ihn – wie jetzt – vor sich sah, sicher, dass es das wert gewesen war. Doch jetzt zeichnete sie für den gesamten Bericht verantwortlich – von der Idee über die Konzeption bis zur Ausführung stammte alles von ihr. Sie hatte ihre besten Quellen angezapft, das Liebespaar ausfindig gemacht, Franny, dem Knipser, gesagt, wo sie ihn abholte. Er hatte nur neben ihr im Wagen gesessen und gewartet, bis Maloney aus dem Haus kam. Blitz, surr, Blitz … schon hatte er die Bilder im Kasten. Dann war sie mit dem Diktiergerät losgeschossen. Keine Streiterei, keine Flüche, keine fliegenden Fäuste. Maloney war viel zu perplex, aufgeputscht und hektisch gewesen. Als sie ihn dann um einen Kommentar gebeten hatte, gab er eine Antwort, für die sie hätte sterben können. »Hat meine Frau Sie geschickt?«, fragte er. Herrgott, das hätte sich niemand besser ausdenken können. Das wäre ihre Schlagzeile gewesen, wenn sie die Chefredakteurin gewesen wäre.
Eigentlich spielte es aber keine Rolle. Es war mit Abstand der größte Knüller des Tages. Siobhan grinste in sich hinein, ließ die Seite noch einmal auf sich wirken und zog ihren Fotoapparat aus der Handtasche. Sämtliche Nachrichtensendungen im Land hatten die Story aufgegriffen, außerdem war es eins der Hauptthemen in Ireland on Sunday, der Sonntagmorgensendung im öffentlich-rechtlichen Radiosender RTÉ, an der sie sich vorhin mit einem kurzen Telefoninterview beteiligt hatte. Danach war das Thema in jeder anderen Radio- und Fernsehnachrichtensendung, die sie gehört hatte, durchgekaut worden. Zwischenzeitlich war es in den landesweit ausgestrahlten Sky News sogar bis an die dritte Stelle vorgerückt. Glaubte Harry wirklich, sie dafür mit ein paar Blumen abspeisen zu können?
Sie versuchte, sich diesem Gedankengang zu widersetzen, wollte sich die gute Laune nicht verderben lassen. Wieder sah sie das überwältigende Blütenmeer im Korb an. Blumen waren schön und gut, damit konnte man jedoch keine Rechnungen bezahlen. Sie fragte sich, was Heffernan ihren männlichen Kollegen stattdessen geschickt hätte. Wahrscheinlich ein paar Eintrittskarten für ein wichtiges Spiel. Die konnte man wenigstens bei eBay verticken. Aber dann schob sie diesen Gedanken unwirsch beiseite. Darum ging es nicht. Es ging darum zu bekommen, was ihr zustand. Die seit Langem versprochene Gehaltserhöhung zum Beispiel, dachte sie enttäuscht.
Sie ließ sich aufs Sofa fallen und kam sich plötzlich geschlagen vor. Im ganzen Zimmer lagen Zeitungen und Zeitschriften verstreut, die meisten schon mehrere Wochen alt. Die wenigen Möbelstücke, die sie besaß, waren begraben unter Bergen ungebügelter Kleidung, halb gelesener Bücher und leerer Verpackungen von Dingen, an deren Kauf sie sich kaum noch erinnerte. Im Schlafzimmer sah es sogar noch schlimmer aus, weil sie die Sachen darin einfach ablegte und wochenlang liegen ließ, bevor sie endlich dazu kam, sie zu waschen. Sie investierte jede freie Minute in ihren Job. Für alles andere opferte sie kaum etwas von ihrer Zeit.
Siobhan starrte die weiße, glatte Zimmerdecke an. Das einzige Symbol des Erfolgs, das ihr im Augenblick etwas bedeutet hätte, wäre eine Putzfrau gewesen. Ein oder zwei Vormittage in der Woche würden schon reichen, nur um etwas aufzuräumen und zu bügeln. Aber selbst für diesen winzigen Schuhkarton waren die Hypothekenzahlungen erdrückend. Sie hatte die Wohnung mitten im Wirtschaftsboom gekauft, und selbst wenn sie es gewollt hätte, bestünde nicht die geringste Chance, sie ohne schmerzlichen Verlust wieder loszuwerden. Als Chefreporterin der Irish Times oder des Irish Independent sähe ihre finanzielle Lage ganz anders aus. Aber beim lumpigen, ewig klammen Sunday Herald …? Träum weiter, Siobhan, träum weiter.
Brogan hatte nicht übertrieben.
Mulcahy blieb hinter dem Metallbett stehen und musste erst einmal tief durchatmen, als er Jesica Mellado Salazars von Blutergüssen, geronnenem Blut und Nähten übersätes Gesicht sah. Das dunkelviolette Fleisch um ihre Augenlider war so dick angeschwollen, dass er nicht sagen konnte, ob sie wach war oder schlief. Die Krankenschwester, die im Zimmer blieb, um die Befragung der Patientin zu überwachen, ging auf die andere Seite des Betts und strich ihre hellblaue Uniform unter den schmalen Hüften glatt, bevor sie sich setzte. Sie war eine dünne, von Sorgen gezeichnete, aber freundlich aussehende Frau. Auf dem Namensschild an ihrer Brust stand nur Sorenson.
»Dr. Baggot sagte, ich soll Sie noch einmal daran erinnern, sich kurzzufassen, Inspector«, warnte sie Brogan. »Eigentlich ist Jesica noch längst nicht fit genug für eine Vernehmung.«
Brogan murmelte etwas über die Notwendigkeit, sofort mit den Ermittlungen anzufangen, und dass sie es so kurz wie möglich halten würden. Dann nahm sie sich einen Stuhl, stellte ihn so neben das Bett, dass sie im Blickfeld des Mädchens saß, und zog dann auch für Mulcahy einen heran. Cassidy blieb neben der Tür stehen. Als Mulcahy sich setzte, fühlte er sich einen Moment lang unsicher. Eigentlich sprach er sehr gut Spanisch. Er hatte sieben Jahre lang in Madrid gelebt, gearbeitet, dort gesellschaftlich und sogar in Sachen Liebe in dieser Sprache verkehrt. Aber reichte es auch für diese heikle Situation? Er musste einfach davon ausgehen. So wie es aussah, konnte dieses Mädchen sowieso nicht viel sagen. Und wenn es schlecht lief, konnte er die Befragung jederzeit abbrechen.
Mulcahy hob den Blick, um festzustellen, ob Brogan sein Zögern bemerkt hatte. Die blickte jedoch Schwester Sorenson an und forderte sie auf, Jesica zu wecken.
Die Schwester nickte und berührte die Patientin sanft an der Schulter. »Jesica, meine Liebe, hier sind ein paar Leute, die dich sprechen wollen.«
Ein Stöhnen entrang sich irgendwo aus dem Innersten des Mädchens. Jesica bewegte sich jedoch nicht. Mulcahy hustete leise und versuchte so, die Kehle frei zu bekommen. Der dünne, jugendliche Körper unter der Decke erstarrte sichtlich, und der Kopf des Mädchens fuhr herum. Ein aufgedunsenes Augenlid öffnete sich einen Spaltbreit, dann das zweite. Sie sah Brogan an, die zuerst in ihr Blickfeld kam.
»Hallo, Jesica«, fing Brogan an. Ruhig, leise und bestimmt. Sie lächelte dem Mädchen zu. Das wenige Weiß, das in Jesicas Augen zu sehen war, glänzte vor Angst, als ihr Blick zwischen Brogan und Mulcahy hin- und herwanderte.
»Buenos días, Jesica«, sagte Mulcahy und versuchte, leise und beruhigend zu sprechen. Trotzdem zuckte sie zusammen, als sie seine Stimme hörte.
»Tranquilo, niña«, sagte er, so sanft er konnte. »No te preocupes. Somos policías. Queremos ayudarte.«
Keine Sorge. Wir sind von der Polizei. Wir wollen dir helfen.
Das Mädchen zitterte bei jedem Wort. Instinktiv wollte er ihre Hand ergreifen, sie anders als nur mit Worten beruhigen. Aber Brogan hatte gerade noch einmal etwas betont, was er schon wusste: bloß keinen Körperkontakt. Worte mussten reichen.
Es dauerte eine Weile, bis er sicher war, dass sie ihn verstanden hatte. Anfangs konnte sie gar nicht antworten, wich sogar seinem Blick aus, indem sie die Augen schloss und nicht wieder öffnete. Also bat er sie zu nicken, wenn sie Jesica hieß … wenn sie aus Madrid war … wenn sie sechzehn war. Mit jeder Frage bewegte sich ihr Kopf etwas selbstsicherer auf dem Kissen. Dann, als er sie bat, den Namen ihres Vaters zu bestätigen, blinzelte sie, öffnete die Augen etwas, in denen sich Tränen gesammelt hatten, und flüsterte leise und unsicher ein paar Worte, die er kaum verstehen konnte.
»Dónde está … dónde está mi padre?«
Ein kleines Mädchen, das zu seinem Papa wollte.
Mulcahy wollte das bisschen Vertrauen, das er aufgebaut hatte, nicht zerstören, also sagte er, ihr Vater sei auf dem Weg hierher. Das schien sie zu beruhigen. Dann sah er Brogan an, die ihre Enttäuschung darüber, dass er sie nicht einbezogen hatte, nicht verbergen konnte. Mit einem wortlosen Nicken forderte er sie auf, ihre Fragen zu stellen. Doch ohne lange abzuwarten, wandte er sich wieder an das Mädchen und fragte, was passiert war.
»Fuiste asaltada?« War sie von jemandem angegriffen worden?
Sie wandte sich ab, und ihre geschwollenen Augenlider blinzelten, so schnell sie konnten, als wollte sie einen schrecklichen Gedanken abwehren. Dann nickte sie. Eine sehr knappe Reaktion.
»Was haben Sie gefragt?«, flüsterte Brogan und zupfte ihn am Ärmel. Er antwortete tonlos, dass sie einen Moment warten solle, und wandte sich wieder an Jesica. Die sah noch unsicherer aus als vorher, sah nach oben, dann fingen die Tränen an zu fließen.
»Un hombre me golpeó … No sé qué pasó.«
Brogan gab keine Ruhe.
»Was sagt sie?«, zischte sie ihn leise an.
»Ein Mann hat sie geschlagen. Sie weiß nicht, was passiert ist.«
»Fragen Sie sie, ob sie den Mann kennt.«
Mulcahy wandte sich wieder an Jesica. »Este hombre, lo conoces?«
»No vi nada …« Sie hatte nichts gesehen, erwiderte Jesica ebenso stockend wie zuvor. Der Schlag war aus dem Nichts gekommen. Hatte sie direkt im Gesicht getroffen. So hart, so überraschend, dass sie sofort zu Boden gestürzt war.
»Wie sah er aus?«
Mulcahy übersetzte Brogans Frage.
»No, no sé«, beharrte das Mädchen, während die Tränen ihre Wangen herabströmten.
»Sie weiß es nicht.«
»Hat er irgendetwas gesagt?«
Mulcahy fühlte sich elend, als er sah, wie Jesicas geschwollenes Gesicht plötzlich voller Angst war.
»Todo se puso oscuro«, sagte sie, und ihre Gesichtsmuskulatur verkrampfte immer mehr, als sie versuchte, ihre Furcht in Worte zu fassen. Ihre Halssehnen stachen wie Kabel hervor.
»Sie sagt, es wäre plötzlich dunkel geworden. Der Mann muss ihr irgendetwas über den Kopf gestülpt und sie dann irgendwo reingezogen haben. Er hat sie immer wieder geschlagen.«
Mulcahy brach ab, als Jesica ermattet zurücksank, einen langen Hustenanfall bekam und nach einer Schale auf dem Nachttisch neben sich griff. Der Schrecken aus ihrem Inneren suchte nach einem Ausgang. Es kamen aber nur ein paar Tropfen blutgetränkter Speichel heraus. Die Schwester half ihr, sich aufzurichten, und wischte ihre Lippen mit einem Papiertaschentuch sanft ab, während das Mädchen langsam wieder zurück aufs Kissen sank. Ihre Brust hob sich mit jedem Atemzug etwas weniger, als Jesica sich wieder etwas beruhigte.
»Das wird jetzt wirklich zu viel für sie«, warf die Schwester ein. »Hat das nicht Zeit, bis sie ein wenig zu Kräften gekommen ist?«
»Ich finde nicht, dass das Schwein, das ihr das angetan hat, auch nur eine Sekunde länger als nötig frei herumlaufen sollte, oder was meinen Sie?«, fauchte Brogan sie an.
Die Schwester wurde rot und sah aus, als wollte sie etwas erwidern. Stattdessen schnalzte sie missbilligend mit der Zunge, wandte sich wieder an Jesica, streichelte ihre Stirn und hielt ihr einen Becher vor den Mund, damit sie einen Schluck trinken konnte.
»In Ordnung«, flüsterte Brogan Mulcahy zu. »Machen Sie einen Bogen um den Überfall, das regt sie zu sehr auf. Fragen Sie sie danach, was sie direkt vorher gemacht hat. Auf die Details kommen wir gleich noch mal zurück.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Mulcahy. Healy konnte ihn mal. Der verdammte Minister übrigens auch. Das Mädchen war zu schwach für so eine Befragung.
»Jetzt fragen Sie schon«, beharrte Brogan. »Wahrscheinlich kommen wir erst in ein paar Tagen wieder an sie heran.«
Er wich ihrem Blick nicht aus, während er überlegte. Aber schließlich war sie die Expertin für Sexualverbrechen. Sie musste wissen, was sie tat. Wie würde er sich fühlen, wenn jemand ihm vorschreiben wollte, wie er seine Arbeit zu tun hatte? Er wandte sich wieder an Jesica. Sie bekamen jedoch nicht viel mehr aus ihr heraus. Sie war in einem Club gewesen, erinnerte sich aber nicht an den Namen. Als Mulcahy fragte, ob sie allein dort gewesen wäre, wurde Jesica nervös.
»Me golpeó«, er hat mich geschlagen, »me golpeó.« Mehr sagte sie nicht, wiederholte es jedoch immer wieder. Dann kam eine weitere und offenbar schlimmere Erinnerung dazu, sie rollte die Augen und wimmerte nur noch leise vor sich hin – so leise, dass Mulcahy die Worte kaum verstehen konnte … Es ging um das Höllenfeuer, ein Flammenschwert und die Rache Gottes. Oder hatte er sich verhört? Mulcahy ließ sich die Worte noch einmal durch den Kopf gehen, dann war er sicher, dass er es richtig verstanden hatte.
Doch in dem Moment schrie das Mädchen auf, zog die Beine an die Brust, schlang die Arme darum und schaukelte so schluchzend in den Armen der Krankenschwester.
Wieder wandte Mulcahy sich an Brogan. »Was zum Teufel hat er mit ihr gemacht?«
Brogan sah ihn grimmig an. »Er hat sie gequält, der kranke Wichser. Ihr Verbrennungen zugefügt, Brandzeichen, um genau zu sein, überall auf dem Bauch und auf den Genitalien. Wir wissen noch nicht, womit. Vielleicht mit einem Messer, das er an einer Lötlampe erhitzt hat. Egal was, er hat sie vollkommen zugrunde gerichtet.«
»Herrgott noch mal«, sagte Mulcahy und versuchte, sein Erschrecken zu verbergen.
»Jetzt müssen Sie aber wirklich aufhören«, sagte Schwester Sorenson zu Brogan. »Das nimmt sie zu sehr mit. Sie braucht Ruhe.«
Brogan nickte zustimmend, war aber noch nicht fertig.
»Ja, in Ordnung. Nur eine Frage noch.« Wieder zupfte sie Mulcahy am Ärmel. »Sagen Sie ihr, dass es uns wirklich helfen würde, wenn sie sich an irgendein, wenn auch noch so unbedeutendes Detail von dem Mann erinnern könnte, der ihr das angetan hat. Ganz egal, was. Kleidung, Haarfarbe, Schuhe, oder wo sie waren. Irgendetwas.«
Mulcahy fragte mit sanfter Stimme, trotzdem geriet das Mädchen sofort wieder in Panik – als ob die Worte sämtliche Barrieren durchschlügen, die die Medikamente aufgebaut hatten, und die Schmerzen ebenso heftig wie beim ersten Mal wieder aufflammten. Mulcahy fluchte innerlich und stand auf, außerstande sich vorzustellen, was sie durchlebte, und unwillig, die Wunden noch einmal aufzureißen. Schnell sagte er dem Mädchen, dass alles in Ordnung wäre und er ihr keine weiteren Fragen stellen würde. Dann drängte er sich an Brogan vorbei und ging Richtung Tür. Ihm reichte es.
»Wo wollen Sie hin?« Brogan starrte ihn an, als wäre er übergeschnappt.
»Okay, das war’s«, sagte die Schwester. »Jetzt raus hier. Alle. Und zwar sofort.« Aber noch während sie aufstand, um alle aus dem Zimmer zu schicken, brach es aus Jesica heraus. Als wäre ein Damm gebrochen, strömte ein Sturzbach aus Tränen, Rotz und Horror aus ihr heraus, und das Mädchen schlug wild um sich. Die Schwester bemühte sich, sie zu beruhigen, sie davon abzubringen, sich unter der Decke zu verletzen. Mulcahys erster Gedanke war, ihr zu helfen, aber Brogan war näher bei ihr. Sie sprang auf und hielt die fuchtelnden Gliedmaßen des Mädchens fest. Mulcahy trat zurück und staunte über die Unbarmherzigkeit des Gefühlsausbruchs.
In diesem Moment betrat ein kleiner, elegant gekleideter Mann das Zimmer. Der Enddreißiger mit pechschwarzen, nach hinten gegelten Haaren warf einen Blick auf das misshandelte Mädchen, dann einen auf das Gedränge, das um sie herum herrschte, und begann dann, sowohl Brogan als auch die Krankenschwester zu beschimpfen.
Mulcahy, der in Spanien gelegentlich Kontakt zu einheimischen Diplomaten gehabt hatte, erkannte den Typus sofort. Detective Sergeant Cassidy wusste jedoch nicht, woran er war. Er blockierte ihm breitbeinig mit leicht erhobenen Händen den Weg und forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen. Als der Spanier daraufhin noch wütender wurde und sich an ihm vorbeidrängen wollte, kam es zu einem kurzen Handgemenge. Der Mann stöhnte vor Schmerz, als er mit nach hinten gedrehtem Arm zu Boden gedrückt wurde, das Knie des Detective im Kreuz. Der schmerzverzerrte Leidensblick in seinem Gesicht bildete einen starken Kontrast zu Cassidys vor Stolz glühender Miene.
Brogans Gesichtszüge waren vor Schreck wie gelähmt.
»Herrje, Andy! Lass ihn los, um Himmels willen. Er ist von der Botschaft.«
Aber inzwischen war sogar Jesica durch den Tumult neben ihrem Bett verstummt. Sie sah verständnislos zu, wie Brogan und Cassidy dem Mann auf die Beine halfen und den Staub von seinem Anzug klopften. Währenddessen drängte die vor Entrüstung rot angelaufene Schwester die drei Polizisten zur Tür und forderte sie auf, sich einen anderen Ort zu suchen, an dem sie sich weiter so aufführen könnten.
Mulcahy löste den ungläubigen Blick von den dreien und stellte fest, dass Jesica ihn ansah. Er schüttelte den Kopf und warf ihr ein möglichst beruhigendes Lächeln zu. Sie schien den Krach aber schon wieder vergessen zu haben, denn sie sah ihn einfach unverwandt mit flehendem Blick an, während sie mit einer Hand eine rote Strieme an ihrem Hals abtastete.
Sie wimmerte, dass ihr Kreuz und ihre Kette fehlten.
»Quizás las enfermeras lo tienen«, wandte Mulcahy ein. Vielleicht hätten die Krankenschwestern ja die Kette. Als er sich Jesicas Hals jedoch noch einmal ansah, hielt er es für wahrscheinlicher, dass sie bei dem Überfall abgerissen worden war. Das Mädchen hörte ihm sowieso nicht richtig zu, sondern starrte ihn nur an, während ihr etwas durch den Kopf ging.
»Recuerdo una cosa«, sagte sie mit dünner Stimme, die sie nur mühsam kontrollieren konnte. Ihr wäre etwas eingefallen.
»Hizo la señal de la cruz«, sagte sie so leise, dass er es kaum hören konnte, weil sich die drei anderen auch wieder lauter unterhielten, seit sie vor der Zimmertür standen.
»La señal de la cruz?«, wiederholte er, um sich zu vergewissern, dass er sie richtig verstanden hatte.
»Sí, claro«, sagte sie und unterdrückte ihre Tränen. »Como un cura.«
Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, war die Schwester wieder im Zimmer, ergriff seinen Ellbogen und schob ihn hinaus. Beim Gehen sah er Jesica noch einmal an. Er wollte sich verabschieden, aber sie hatte ihn schon vergessen, und ein weiterer Weinkrampf ließ keinen Zweifel, dass sie den Horror ein weiteres Mal durchlebte.
»Wie ein Priester!«, rief Brogan aus. Sie standen vor dem Haupteingang. Mulcahy zog an seiner Zigarette, erleichtert, wieder im Freien zu sein.
»Das hat sie gesagt«, erläuterte Mulcahy. »Der exakte Wortlaut war: ›Er hat sich bekreuzigt. Wie ein Priester.‹«
Eine gute halbe Stunde war vergangen, seit er Jesicas Zimmer verlassen hatte. Am anderen Ende des Krankenhausflurs hatte er Brogan entdeckt, die immer noch vergeblich versuchte, den aufgebrachten spanischen Diplomaten zu beruhigen. Mulcahy stellte sich dem Mann vor und fragte Brogan, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er sich kurz auf Spanisch mit ihm unterhielte. Vielleicht war er nur überrascht, in seiner Muttersprache angesprochen zu werden, vielleicht lag es auch an der Gelassenheit in Mulcahys Gesicht, zu dem der Diplomat aufblicken musste, jedenfalls beruhigte sich der Erste Sekretär schnell. Ein paar Minuten später lächelte er schon, als Mulcahy auf einen legendären spanischen Witz über ein tölpelhaftes Mitglied der Guardia Civil anspielte, während er sich für Cassidys Überreaktion entschuldigte. Bevor er wieder ins Krankenzimmer zurückkehrte, schüttelte Ibañez Mulcahy die Hand und schien sogar die Schmerzen in seinem rechten Arm vergessen zu haben, nachdem ihm versichert worden war, dass kein weiterer Versuch unternommen werden würde, Jesica zu befragen, ohne dass ein offizieller Vertreter der Botschaft zugegen war.
Erst als sie vor der Tür standen und darauf warteten, dass Cassidy den Wagen vorfuhr, kam Mulcahy dazu, Brogan mitzuteilen, was Jesica ihm gesagt hatte.
»Herrgott noch mal, das hat uns gerade noch gefehlt«, warf sie ein. »Was um alles in der Welt will sie uns damit sagen? Hat er einen steifen Kragen getragen oder was?«
Mulcahy zuckte die Achseln. »Das müssen Sie sie beim nächsten Mal fragen.«
»Was könnte sie denn Ihrer Ansicht nach damit gemeint haben? Bekreuzigen Priester sich denn anders als andere Menschen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Na ja, aber sie weiß doch, wovon sie spricht, oder? Sie ist schließlich Spanierin, also Katholikin, stimmt’s?«
»Davon ist auszugehen«, erwiderte Mulcahy. »Ihr Vater gehört eindeutig zum rechten Parteiflügel. Er wurde auch immer wieder wegen seiner engen Verbindungen zur Kirche kritisiert. Außerdem hat sie auch erwähnt, dass das Kreuz fehlt, das sie an einer Kette um den Hals getragen hat.«
»Schon eigenartig, dass sie sich ausgerechnet daran erinnert, wenn man bedenkt, was der Kerl ihr angetan hat, finden Sie nicht?«
»Das ist eher Ihr Fachgebiet, aber vielleicht hat es ja … Ach, ich weiß nicht.« Mulcahy brach ab, wollte nicht spekulieren oder sich noch weiter in die Geschichte hineinziehen lassen.
»Nein, erzählen Sie«, forderte Brogan ihn auf. »Was wollten Sie sagen?«
»Mir fiel gerade ein, dass ich einen Artikel über Jesicas Vater gelesen habe. In El País, glaube ich. Ganz genau erinnere ich mich nicht mehr an den Inhalt, ich meine aber, dass ihre Mutter gestorben ist, als sie noch sehr jung war. Ihr Vater hat sie allein großgezogen. Sofern man bei einem solchen Lebensstil von einem Alleinerziehenden reden kann. Wir sprechen hier über die alte spanische Aristokratie.«
»Das wäre doch eher ein Grund weniger, sich über ein Kreuz mit Kette Sorgen zu machen, oder?«, wandte Brogan ein.
»Sofern daran keine Emotionen hängen. Vielleicht gehörte es ihrer Mutter – oder es war ein Geschenk von ihrem Vater. Es muss irgendeine besondere Bedeutung für sie gehabt haben.« Er warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus. »Ich bin sicher, dass sich das am Ende klären lässt. Was meinen Sie, wie stehen die Chancen?«
Brogan wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »In diesem Stadium ist das schwer zu sagen. Das ist ja kein Allerweltsfall. Solange wir nicht wissen, wo sie gestern Abend mit wem war, stochern wir im Nebel. Aber vielleicht finden die von der Spurensicherung ja noch was.«
»Was für ein Perverser macht denn so was? Sie ist doch fast noch ein Kind.«
Brogan warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie können ja mal eine Weile zur Sitte kommen. Dann werden Sie schnell merken, dass es in Dublin genug Perverse gibt.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich bleib lieber da, wo ich mich auskenne.«
Falls er das überhaupt zu entscheiden hatte. Mulcahy sah wieder zum Himmel hinauf. Das verlockende Blau des frühen Nachmittags war verschwunden, verdeckt von einer endlosen, aschfahlen Wolkendecke. Und es roch auch ein bisschen nach Regen. Vielleicht wäre es doch kein so guter Tag zum Segeln gewesen. Ein dunkelblauer Ford Mondeo hielt vor ihnen. Cassidy beugte sich vom Fahrersitz herüber und stieß die Beifahrertür auf. Dabei sah er Mulcahy mit einem finsteren Blick an. Er war gar nicht erfreut gewesen, als Mulcahy ihm vorgeschlagen hatte, sich noch einmal – überzeugender – bei Ibañez zu entschuldigen. Das ignorante Arschloch könnte sich bei ihm bedanken, nicht vor einem Disziplinarausschuss erscheinen zu müssen.
Beim Einsteigen sah Brogan ihn noch einmal kurz an. »Danke, Mike. Tut mir leid, dass wir Ihnen den Sonntag verdorben haben. Ich halte Sie über den weiteren Fortschritt auf dem Laufenden.«
»Tun Sie das«, sagte er in der Hoffnung, dass sie es nicht tun würde. »Viel Glück.«
Der Wagen schoss mit quietschenden Reifen davon. Mulcahy starrte ihm noch kurz nach. Cassidy war ohne Zweifel ein Polizeirüpel von altem Schrot und Korn, also völlig unerträglich. Er fragte sich, wie Brogan mit ihm zurechtkam. Dann schüttelte er noch einmal den Kopf, zog die Autoschlüssel und die Zigaretten aus der Tasche und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.