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Wie eine Windbö im März fegte Siobhan Fallon die Stephen Street hinauf, die flatternde Jacke trotz des stetigen Sprühregens geöffnet. Ein Arm war tief in der Handtasche vergraben, wo sie nach ihrem Handy suchte. Sie war schon eine Viertelstunde zu spät. Normalerweise hätte sie einfach ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt und dem Wetter die Schuld gegeben. Das reichte meistens. Aber sie mochte den Mann, und obendrein sprang vielleicht noch eine Story heraus. Sie scrollte die Anrufliste zurück, klickte auf seine Nummer, erreichte aber nur seine Mailbox. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt noch eine Nachricht zu hinterlassen. Also steckte sie das Handy wieder in die Tasche und beschleunigte ihren Schritt. Sie war ja auch fast da.

Drei Minuten später bog sie in die South Great George’s Street ein und überquerte sie zum Long Hall. Seit ihrem letzten Besuch hatte der alte, viktorianische Pub ein paar Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen müssen, als hinter ihm ein riesiger neuer Bürokomplex entstanden war. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als würde die gesamte Straßenfront mitsamt dem Long Hall abgerissen werden. In den Anfangstagen des Wirtschaftsbooms war das gang und gäbe gewesen. Kein Gebäude, ganz egal, wie bedeutsam es für Dublins Geschichte war, blieb damals länger stehen, als ein potenzieller Investor brauchte, um die Taschen eines Planungsbeamten mit Bargeld zu füllen. Trotzdem hatte der Long Hall tapfer überlebt, obwohl sein Inneres zweifelsohne noch immer so altersschwach war wie zuvor. Sie hatte gelacht, als er diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Es war kein Ort, um bei einer Frau Eindruck zu schinden.

Sie stieß die Tür auf, ging an der dunklen Mahagonitheke vorbei und ließ den Blick über die holzgetäfelten Wände mit den fleckigen, alten chinesischen Drucken wandern, über den kuriosen Obst-Stuck an der Decke und das verrückte Durcheinander aus Spiegeln und Kronleuchtern.

Sie sah ihn sofort. In eine Zeitung versunken, saß er mit ausgestreckten Beinen und markantem Kinn im Hinterzimmer an einem Tisch, auf dem ein kaum angetrunkenes Glas Guinness stand. Sie dachte ein paar Jahre zurück, als sie ihn in einer ähnlichen Haltung gesehen hatte, damals allerdings ohne Zeitung, ziemlich erschöpft und nachdenklich, nachdem er draußen in Clondalkin einen großen Drogendeal hatte auffliegen lassen. Sie war damals noch ein Reporterneuling gewesen, er bereits in einer Position, die Macht und Verantwortung mit sich brachte. Seine ruhige Entschlossenheit hatte sie tief beeindruckt. Und obwohl ihre eigene Stellung sich seitdem deutlich verändert hatte, verspürte sie auch jetzt wieder dieses Gefühl. Es traf sie wie ein Stromschlag.

Genau das gleiche Gefühl.

Als Mulcahy den Blick hob, um auf die Uhr zu sehen, stand sie vor ihm, umrahmt von dem verzierten, dunklen Holzbogen, der zu dem hinteren Barraum führte. Sie lächelte ihm zu. Es schien, als hätte der Regen es nicht gewagt, sie zu berühren.

»Tut mir wirklich leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte Siobhan, und ein reumütiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich hab keinen Parkplatz gefunden.«

»Kein Problem. So konnte ich endlich mal gucken, was in der Welt so passiert.« Er faltete die Zeitung zusammen und wollte aufstehen, sie forderte ihn jedoch mit einer Geste auf, sitzen zu bleiben. Sie streifte schnell die Jacke ab, grub in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie und hielt ihn so davon ab, für sie zur Theke zu gehen.

Er lehnte sich zurück, trank einen langen Zug von seinem Glas und sah ihr nach. Er mochte ihre schwarzen Locken, die über ihre Schultern herabfielen, die Bewegung ihrer Hüften unter dem weichen, schmiegsamen Baumwollrock, und die Art, mit dem sie den dümmlich-mürrischen Barkeeper zum Strahlen brachte, als sie einen Drink bestellte. Mulcahy hatte sie auf Anhieb gemocht, als sein alter Kumpel Mark Hewson – heute ein kleines Licht in Dublins PR-Kreisen – sie vor zwei Wochen bei einer Geburtstagsfeier vorgestellt hatte. Und er hatte sie sofort erkannt, obwohl viel Zeit vergangen war und sie nun eine andere Frisur trug. Wie ein Geist war die Erinnerung in ihm aufgestiegen, die Erinnerung an ein Bild, dessen Existenz ihm nie ganz bewusst gewesen war, das er aber trotzdem sofort wieder vor Augen hatte. Siobhan Fallon, die Journalistin, die ihn damals, vor vielen Jahren, als er sein erstes eigenes Team hatte, bei einem Einsatz begleitet hatte – einem Einsatz, dessen Erfolg sogar ihn selbst verblüfft hatte, weil dabei eins der größten Heroinlager ausgehoben wurde, das in Dublin je entdeckt wurde.

Er meinte, auch in ihren faszinierenden, blauen Augen Überraschung und Freude über das Wiedersehen erkannt zu haben. Eine halbe Stunde lang hatten sie gegen das wilde Wogen der Party angekämpft, waren immer wieder von anderen Menschen angerempelt worden, hatten sich gegenseitig etwas in die Ohren geschrien, wobei sich ihre Wangen gelegentlich wie die von alten Freunden berührt hatten, während sie gemeinsam lachten. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, als ein paar Freunde von ihr erschienen waren und sie für sich beansprucht hatten. Und später hatte er nur noch von der anderen Seite des Raums ihren kurzen Blick aufgefangen, als sie mit ihnen ging. Sie hatte gelächelt, er gewinkt, und das war es dann. Davon war er zumindest ausgegangen. Er hatte überlegt, ob er sie anrufen sollte. Aber eine solche Frau, hatte er gedacht, musste einen Partner haben … bis sie ihn ein paar Tage später angerufen hatte. Mark hätte ihr seine Nummer gegeben. Ob er sich auf einen Drink mit ihr treffen würde? Eine ganz direkte Frage, ohne jede Umschweife – noch ein liebenswerter Zug.

»Die sollten Sie lieber wegstecken, sonst müssen Sie sich noch selbst festnehmen«, sagte sie, als sie sich mit einem Drink in der Hand setzte und auf die Zigarettenschachtel deutete, die er auf den Tisch gelegt hatte.

»Ich dachte, vielleicht brauch ich ja einen Grund, um hier schnell wegzukommen«, scherzte Mulcahy.

»Dann müssen Sie sich was Besseres überlegen. Ich rauche selbst hin und wieder eine, also besteht die Gefahr, dass ich mitkomme.«

Sie sah ihn mit ihren saphirblau blitzenden Augen an. Das war das erste Bild gewesen, das er vor Augen hatte, als sie ihn anrief. Dieser Blick.

»Ich hab heute Morgen im Radio gehört, wie Sie über Gary Maloney gesprochen haben«, sagte er. »Offenbar haben Sie da ganz schön Staub aufgewirbelt.«

»Yep«, sagte sie. »Hat großes Aufsehen erregt. Er ist der Lieblingskicker der Nation. Aber morgen wird’s dann in allen Zeitungen stehen – dann ist es nicht mehr so richtig mein Ding.«

Mulcahy begriff nicht, was sie daran störte. Zwar hatte er nie viel von der Klatschpresse gehalten, die im Grunde nur das Privatleben anderer Leute ausschlachtete. Trotzdem interessierte es ihn, wie sie an die Informationen für so eine Story herangekommen war.

»Ach, Sie wissen schon. Quellen, Gerüchte«, erwiderte sie. »Sie sind bei der Polizei, Sie wissen doch, wie so was läuft. Es fängt damit an, dass man die richtigen Leute kennt und zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, um das eine oder andere Gerücht aufzuschnappen. Manchmal werden mir die entscheidenden Hinweise aber auch selbst zugetragen. Jimmy X ist genervt von Johnny Y. Er will Rache üben, ist scharf auf Johnnys Job oder will einfach eine kleine Belohnung abgreifen. Sie kriegen die meisten Hinweise doch auch auf die Tour, oder? Kontaktleute, Informanten, Neid und Missgunst.«

Sie hatte recht. Die Leute glaubten gerne, was sie im Fernsehen sahen. Dass die Polizei einen Fall löste, indem sie sorgfältig ermittelte, Hinweisen nachging oder – noch alberner – indem Hightech-Gerichtsmedizin zum Einsatz kam. In Wahrheit wurden die meisten Fälle jedoch durch die gute alte Intrige oder durch Verrat gelöst. In seinem eigentlichen Arbeitsbereich, der Drogenbekämpfung, sogar noch mehr als woanders, weil es oft um Summen in astronomischen Höhen ging und das Verpfeifen von Rivalen nur eine von vielen Waffen im Köcher eines aufstrebenden Drogenbarons war. Aber ganz egal, ob das stimmte, so leicht würde er sie nicht vom Haken lassen.

»Und erwarten diese Informanten dann auch etwas von Ihnen?«, fragte er. »Als Gegenleistung oder so?«

Sie sah ihn mit einem schwachen Lächeln an, als hätte er sie bei irgendetwas ertappt, sagte jedoch einen Moment lang nichts, während sie offenbar über etwas nachdachte. Dann wurde ihr Lächeln breiter, bevor sie antwortete.

»Oft hängt es davon ab, wie groß der Gefallen war, den sie mir getan haben. Aber in den meisten Fällen bin ich ja diejenige, die ihnen einen Gefallen tut. Indem ich die Story an die Öffentlichkeit bringe. Den meisten genügt das schon.«

»Es ist also ausgeschlossen, dass Sie für so eine Story bezahlen, oder?«

Jetzt war sie auf die Frage vorbereitet. »Ich fürchte, bei einem so heiklen Thema muss ich jeglichen Kommentar verweigern«, sagte sie, jetzt wieder grinsend. »Na ja, Sie wissen ja, dass wir Journalisten unsere Quellen mit Klauen und Zähnen schützen.«

Er wusste nicht, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Schließlich hatte er ja nicht nach Einzelheiten über ihre Informanten gefragt.

»Wo wir gerade beim Thema sind«, fuhr sie fort, wobei sie ihren Drink in eine Hand nahm und mit der anderen eine kurze Wellenbewegung vollführte, »ich wollte Sie etwas fragen. Auf der Party haben Sie erwähnt, dass Sie eine Weile für Europol in Madrid gearbeitet haben, und ich habe darüber nachgedacht, ob es sich lohnen würde, vielleicht einen Artikel über Irlands Rolle im internationalen Drogenhandel zu schreiben. Ich habe in einer englischen Zeitung einen Bericht gelesen, in dem behauptet wurde, dass über die Hälfte der harten Drogen über Irland nach Großbritannien gelangt. Also, ich wusste zwar, dass eine Menge von hier kommt, aber ist das wirklich so viel?«

Mulcahys Stimmung ging in den Keller. Ihn störte weniger die Frage an sich, sondern vielmehr, dass sie sich womöglich nur aus diesem Grund mit ihm getroffen hatte. Tja, wenn er schon enttäuscht wurde, konnte er sie auch wissen lassen, dass es ihr ebenso ergehen würde. Er war nicht mehr wie früher eine reiche Fundgrube für Geschichten und Anekdoten.

»Haben Sie mich deshalb angerufen? Weil Sie eine Quelle brauchten?«

Das klang härter, als er es gemeint hatte. Wieder hielt sie seinem Blick ein oder zwei Sekunden stand, dann lachte sie peinlich berührt.

»Herrje, jetzt sitz ich hier kaum fünf Minuten und nehme Sie schon ins Kreuzverhör. Entschuldigen Sie, Mulcahy. Das liegt am Job, Sie wissen schon. Ehrlich. Kaum treffe ich jemanden, denke ich: ›Aha, eine Story‹, und schon stürze ich mich drauf. Tut mir leid. Ist einfach eine schlechte Angewohnheit. Ich dachte, wir könnten …«

Sie senkte den Blick, verstummte und starrte auf ihre Hände.

»Nein, hören Sie«, sagte er, stockte dann aber. »Ach, vergessen Sie’s. Ich muss auch nicht gleich so empfindlich reagieren. Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Arbeit erst einmal außen vor lassen.«

Jetzt sah sie ihn wieder mit diesem schelmisch neugierigen Glitzern in den Augen an. Er erinnerte sich, welche Beharrlichkeit sie damals an den Tag gelegt hatte, als sie ihn überredete, sie auf die Razzia mitzunehmen. Obwohl er wusste, dass er bis zum Hals in der Scheiße gesteckt hätte, wenn etwas schiefgegangen wäre, war er das Risiko eingegangen. Und es war einer der wichtigsten Einsätze seines Lebens geworden, ein Meilenstein auf seiner Karriereleiter. Ihr Artikel hatte allen klargemacht – nicht nur seinen Chefs, sondern auch jedem aufstrebenden Heroindealer in seinem Bezirk –, dass es einen neuen, starken Mann in der Stadt gab, der keinen Spaß verstand. Und wenn er jetzt daran zurückdachte, hatte er sie wieder vor Augen, wie sie mindestens ebenso aufgeregt wie seine Leute in der viel zu großen Polizeischutzweste auf dem Rücksitz des Wagens saß. Mit diesem Bild besserte sich seine Stimmung sofort wieder.

»Wollen wir nicht rausgehen und eine rauchen?«, schlug er vor, während er nach den Zigaretten und dem Feuerzeug griff.

»Gute Idee«, sagte sie. »Und wenn wir wieder reinkommen, fangen wir am besten noch einmal von vorne an.«

Für ihn klang das fast so, als stünde sie neben ihm in einem Hotelzimmer, irgendwo zwischen dem Verlangen und dem kalten Tageslicht.

Brogan saß auf dem cremefarbenen Sofa von Mrs Edith Mannion und warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. Hier war alles klinisch sauber und aufgeräumt. Perfekt vorbereitet für Besucher, die, wie Brogan vermutete, sonst praktisch nie ins Wohnzimmer kamen und schon gar keine Unordnung verbreiteten. Es war relativ spät, und trotz der Aussicht auf neue Erkenntnisse wurde sie langsam müde. Für heute reichte es. Danach war Feierabend. Obwohl sie der Gedanke an die Rückkehr in ihre eigene Wohnung wie üblich mit einem gewissen Unwohlsein erfüllte. Aidan würde mit einem Bier in der Hand auf dem Sofa sitzen, den Fernseher anstarren und kein Wort sagen, so dass nur das leise Knistern des Babyfons wie ein anklagendes Flüstern aus der Ecke erklang.

Es war ein zäher, frustrierender Abend gewesen, der so gut wie keine Fortschritte gebracht hatte. Am späten Nachmittag hatte sie mit Frank Harney telefoniert, dem Direktor der Dublin Summer Language School, bei der Jesica einen vierwöchigen Sprachkurs machte. Als er erfuhr, was passiert war, hatte Harney sich nicht lange bitten lassen und den sonntäglichen Familienausflug in die Wicklow Mountains kurzerhand abgekürzt. Ein paar Stunden später hatte er sie mit besorgtem Blick in einem Khakihemd, kurzer Hose und Wanderschuhen in den Räumen der Schule empfangen, die sich in den oberen Etagen eines viktorianischen Gebäudes an der Westmoreland Street befand.

Von seinem Büro aus konnte man durch ein kleines Fenster direkt auf die graue Liffey hinabblicken. An jedem anderen Tag hätte Brogan wahrscheinlich erst einmal in Ruhe die Aussicht genossen, doch jetzt konzentrierte sie sich ganz darauf, Harney eine Liste der ausländischen Schüler abzuringen, mit denen Jesica am Vorabend eventuell unterwegs gewesen sein könnte.

Danach hatten sie versucht, mit diesen Jugendlichen in Kontakt zu treten. Bei den ersten drei hatten sie kein Glück gehabt. Sie hatten Jesica am Abend zuvor nicht gesehen, erwähnten jedoch alle, dass sie mit dem jungen Mädchen, das derzeit bei Mrs Mannion wohnte, befreundet sei.

»Die hat uns angeguckt, als ob wir Scheiße an den Schuhen hätten«, murmelte Cassidy im Sessel gegenüber. Mrs Mannion hatte sich tatsächlich nicht sehr erfreut über ihren Besuch gezeigt. Brogan konnte es der Frau aber kaum zum Vorwurf machen, dass sie außer sich geriet, als die Gardaí plötzlich in der steifen und anständigen Orpen Close in Stillorgan vor ihrer Haustür standen und verlangten, mit einer Jugendlichen zu sprechen, über die sie vermutlich so gut wie nichts wusste, weil sie nur für die Dauer eines Sprachkurses bei ihr wohnte – und all das an einem Sonntagabend. Weiß Gott, was für Gedanken der Frau durch den Kopf gegangen waren.

»Psst«, sagte Brogan. »Sie kommen.«

Die Tür wurde geöffnet, und Mrs Mannion trat herein, gefolgt von einem hübschen, etwa sechzehn Jahre alten Mädchen mit olivfarbener Haut. Mit ihren langen, glänzenden Haaren, dem teuer aussehenden, rosafarbenen Oberteil, cremefarbenen Hüftjeans und den strahlend weißen Reeboks sah sie genauso aus wie all die jungen Spanier und Italiener, die Jahr für Jahr zu Tausenden von ihren Eltern nach Dublin geschickt wurden, um ihr Englisch zu verbessern. Das Mädchen machte einen nervösen Eindruck. Brogan nahm an, dass die Gastgeberin sie auf dem Weg die Treppe herunter schon einem kurzen Verhör unterzogen hatte.

»So, Inspector, das ist Luisa«, sagte die Frau und ließ sie stehen, während sie selbst Platz nahm.

»Äh, Sie brauchen sich nicht zu setzen, Mrs Mannion«, sagte Brogan. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir gern allein mit Luisa sprechen.«

Natürlich hatte sie etwas dagegen, nachdem aber geklärt war, dass Luisa sechzehn Jahre alt war und keinen Aufpasser brauchte, gingen Mrs Mannion die Argumente aus. Selbst der Vorschlag, dass sie »sozusagen in loco parentis« dabeibleiben könnte, zog bei den Polizisten nicht.

Brogan dankte ihr und wies noch einmal darauf hin, dass Luisas Englisch, wie Mrs Mannion selbst bestätigt hatte, überdurchschnittlich gut sei. Dann stand sie auf und schloss die Tür hinter der Frau. Sie lächelte Luisa zu, legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und bat sie, sich aufs Sofa zu setzen.

»Keine Sorge, Luisa, du hast nichts falsch gemacht.«

Luisa lächelte schwach, wirkte aber nicht überzeugt.

»Du bist mit Jesica Salazar befreundet, richtig?«, fragte Brogan.

» … ja, meine ich«, stammelte sie.

»Na, also, ich will dir keine Angst einjagen, aber Jesica hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus.«

Brogan ließ dem Mädchen einen Moment lang Zeit, sich den Satz im Kopf zu übersetzen. Nach etwa einer Sekunde zeigten sich gleichzeitig Schrecken und Verständnis in ihrer Miene.

»Was ist mit ihr?«

»Darüber brauchst du dir jetzt keine Sorgen zu machen«, warf Cassidy etwas rüde ein.

Das Mädchen sah Brogan ängstlich an.

»Aber es geht ihr doch gut, oder?«

»Natürlich, Luisa, sie ist in guten Händen«, wand Brogan sich heraus. »Trotzdem müssen wir dir ein paar Fragen stellen. Hast du Jesica gestern Abend gesehen?«

»Ja, klar.«

Brogan sah Cassidy an, der vornübergebeugt im Sessel saß. Die Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Bist du gestern Abend mit Jesica ausgegangen?«

»Ja, äh, wir waren zusammen tanzen in einem Club. Mit ein paar anderen Schülern.«

»Kannst du uns sagen, welcher Club das war?«

»Por supuesto … das GaGa. An der Kreuzung in Stillorgan. Kennen Sie den? Besonders gut ist er nicht, aber, äh, er ist gleich hier in der Nähe.«

»Beim Bowling Center?«, fragte Cassidy.

»Ja, der.«

»Und wann seid ihr wieder gegangen?«

Wieder blickte die Schülerin schuldbewusst zu Boden.

»Ziemlich spät. Mrs Mannion hat das nicht so gefallen …«

»Vergiss Mrs Mannion, Luisa. Wir interessieren uns nur für das, was mit Jesica passiert ist. Seid ihr zusammen nach Hause gegangen?«

»Nein.« Das Mädchen wirkte überrascht, dass diese Frage überhaupt gestellt wurde. »Nein, sie ist schon vorher gegangen, zusammen mit …« Und dann fiel der Groschen, die Peseta, der Cent oder was auch immer, ihre Augen weiteten sich, das Gesicht lief rot an, und plötzlich hatte sie Angst.

»Jesica … Ihr geht’s doch gut, oder?«

»Wie schon gesagt, sie ist in guten Händen, Luisa«, erwiderte Brogan. »Aber wir müssen wirklich wissen, mit wem sie im Club und auch hinterher zusammen war. Hat sie den Club mit jemand anders verlassen? Mit einem Jungen? Wolltest du das sagen?«

Wieder wirkte das Mädchen unsicher, ob sie antworten sollte oder nicht. Brogan nahm an, dass Jesica gegen eine sakrosankte Schulregel verstoßen hatte, indem sie den Club mit jemand anderem als einem Mitschüler verlassen hatte.

»Erzähl schon, Luisa. Wir verraten es niemandem. Es ist sehr wichtig. Ist sie mit einem Jungen zusammen gegangen?«

»Nein, kein Junge.« Sie zögerte. »Er war schon älter. Vielleicht zwanzig, einundzwanzig. Sie waren schon den ganzen Abend im Club zusammen. Sie wissen schon, haben getanzt und, äh, geknutscht. Sie hat gesagt, er bringt sie nach Hause. Er sah nett aus …« Wieder runzelte sie verängstigt die Stirn, versuchte zu begreifen, was passiert sein könnte. »War er das …?«

Noch bevor sie die Hälfte der Strecke zum Wagen geschafft hatten, zog Cassidy den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete das Schloss mit der Fernbedienung. Dieses prompte Klacken und Aufblinken von orangefarbenen Blinkern befriedigte ihn irgendwie. Mit einer eleganten Bewegung glitt er hinters Steuer, während Brogan sich unsanft auf den Beifahrersitz plumpsen ließ. Der lange Tag hatte beide ziemlich mitgenommen.

»Okay«, sagte Brogan. »Lass uns noch am Club halten und sehen, ob wir vielleicht ein paar Bilder aus einer Überwachungskamera kriegen können. Das muss heute noch sein, sonst überspielen die sie womöglich noch. Danach ist Feierabend. Du siehst ganz schön geschafft aus.«

Cassidy widersprach ihr nicht. Das hätte er auch ein paar Stunden vorher schon nicht getan.

»Und wenn wir da sind«, fuhr Brogan fort, »kannst du dann eben noch Maura und Donagh kurz anrufen und sie bitten, morgen früh gleich zur Sprachschule zu gehen, um Aussagen von den anderen Kindern aufzunehmen, die Luisa eben erwähnt hat. Das müsste so gegen elf erledigt sein, also ruf die anderen auch gleich an und sag ihnen, dass ich alle um Punkt elf zu einer ersten Besprechung auf dem Revier sehen will.«

Cassidy stöhnte innerlich. Wenn er um diese Zeit dem ganzen Team hinterhertelefonieren musste, dauerte es wahrscheinlich noch ein paar Stunden, bis er an der Matratze horchen konnte. Aber daran dachte Brogan überhaupt nicht – absolut nicht. Die waren doch alle gleich. Und was diesen Wichser im Krankenhaus betraf – Mulcahy, anders konnte man den doch nicht bezeichnen, oder? Wenn er den Namen schon hörte, fing er vor Wut an zu kochen. Für wen hielt der sich, da so herumzustolzieren, als hätte er das große Sagen? Und wie er um diesen eingebildeten, spanischen Gecken herumscharwenzelt war und sich immer wieder entschuldigt hatte. Wenn der ihm noch einmal über den Weg lief, würde er ihn auf die eine oder andere Art dafür büßen lassen. Cassidy kramte das Handy aus seiner Tasche, um den Rundruf zu starten, als ihn das Zirpen von Brogans Handy unterbrach. Er wartete, bis sie sich meldete, eine Grimasse zog und tonlos »Healy« sagte.

»Sir?«

Cassidy sah sie weiter an. Seine Neugier wuchs, als Brogans Stirnrunzeln immer intensiver wurde, bis ihre Augenbrauen sich fast berührten.

»Okay, Sir, ja … Ja, gleich morgen früh.«

Brogan verabschiedete sich mit zusammengebissenen Zähnen und legte auf.

»Verdammte Scheiße noch mal«, schrie sie und schlug mit der Hand aufs Armaturenbrett. Das war der größte Gefühlsausbruch, den Cassidy bei ihr je gesehen hatte. »Du wirst nicht glauben, was der verdammte Healy getan hat.«

Mulcahy trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse und sparte sich damit eine neue Lackierung. Er dachte, in den letzten Monaten hätte er sich endlich an die absurd schmale Einfahrt zur Doppelhaushälfte seiner Eltern in Milltown gewöhnt. Aber in der Dunkelheit, seine Reaktionen von den Drinks leicht verlangsamt, hatte er das Lenkrad zu stark eingeschlagen und gerade noch rechtzeitig anhalten können, bevor er den Torpfosten streifte. Er legte den Rückwärtsgang ein, rangierte kurz und fuhr dann langsam auf das schmale Handtuch von einer Betonfläche, die die Einfahrt darstellen sollte. Als er hier ausgezogen war, hatte er noch nicht einmal einen Führerschein gehabt.

Er blieb noch einen Moment im Wagen sitzen und schimpfte mit sich selbst, weil er ein paar Drinks zu viel getrunken und sich dann noch ans Steuer gesetzt hatte. Er war nicht in Spanien, und die Zeiten, wo man nach dem Vorzeigen des Dienstausweises mit einem kurzen Nicken von den Kollegen der Verkehrspolizei zum Weiterfahren aufgefordert wurde, waren vorbei. Es waren schon Leute wegen geringerer Vergehen entlassen worden, und seine Situation war so schon prekär genug. Aber war das nicht sowieso das Problem? Die Vorzeichen für ein Date waren von Anfang an nicht gut gewesen – das Gespräch im Krankenhaus hatte ihm zu schaffen gemacht, und der Ärger über den verpassten Segelausflug war auch noch nicht ganz verraucht. Doch der Reiz, sich mit Siobhan Fallon zu treffen, war zu verlockend gewesen. Zumindest etwas Angenehmes sollte der Tag doch zu bieten haben. Und zwischendurch hatte es auch ganz gut ausgesehen, nachdem sie vor der Türe zusammen geraucht hatten. Vom ersten Augenblick an, noch bevor er ihr da draußen Feuer gegeben und zugesehen hatte, wie sich ihre Lippen um die Zigarette schlossen und sie den Rauch einsog, hatten sie geplaudert wie zwei alte Kumpel. Über Mark, seine Party und die anderen Gäste, die sie dort kannten. Zum Schutz vor dem Regen hatten sie sich unter dem schmalen Dach des Long Hall zusammengekauert, und er hatte still in sich hineingelächelt, als er sich vorstellte, wie sie aussehen mussten. Er groß und kräftig, mit derben Zügen, überragte die zierliche Siobhan, die den Kopf in den Nacken legen musste, um lachend zu ihm aufzublicken. Trotz ihrer hohen Absätze reichte sie ihm kaum bis zu den Schultern.

Doch nachdem sie wieder hineingegangen waren, konnten sie das Thema Arbeit nicht lange umschiffen. Sie spielte in ihren beider Leben einfach eine viel zu große Rolle. In ihrem schien es jedenfalls kaum etwas anderes zu geben. Und soweit er das beurteilen konnte, gab es wohl auch keinen Mann. Immerhin gelang es ihnen, das Gespräch allgemein zu halten. Sie erzählte von ein paar ihrer bedeutenden Storys, dass »Chefreporterin des Herald« zwar ein guter, wenn auch nicht unbedingt ein ehrfurchtgebietender Job wäre und dass sie noch höher hinauswollte. Als sie sich ein weiteres Mal nach seiner Arbeit in Madrid erkundigte, erzählte er mehr über seine Stelle bei Europol und über die Unterschiede zwischen der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und der normalen Polizeiarbeit. Er bot ihr sogar ein paar Informationen über die länderübergreifende Verbrechensprävention der EU an, falls sie etwas darüber schreiben wollte. Zu dem Zeitpunkt war er sich allerdings auch schon ziemlich sicher, dass sie Interesse an ihm hatte, nicht nur an einer Story.

Der Regen fing an, laut aufs Autodach zu trommeln, und riss Mulcahy aus seinen Gedanken. Dicke Tropfen schlugen auf die Windschutzscheibe und liefen langsam daran hinunter. Vor der langen, schwarzen Motorhaube blickte er auf die geschlossene Garagentür, hinter der der Nissan Almera seines Vaters stand. Wie auch alles andere darin, seit fast einem Jahr so gut wie unberührt. Das gehörte jetzt ihm. Und wie alles andere, wollte er es nicht haben. Er fand es schon unerträglich, sich gelegentlich hinters Lenkrad zu setzen und den Motor eine Weile laufen zu lassen. Er fühlte sich nicht gut dabei. Irgendwann war er losgegangen und hatte sich einen eigenen Wagen gekauft. Nichts Besonderes, einen großen, alten Saab. Mehr konnte er sich von seinem gesenkten Gehalt nach Abzug der Hypothek für die Wohnung in Madrid nicht leisten. Aber wenn er jetzt nachts aufwachte und aus dem Fenster schaute, sah er wenigstens etwas, das ihm gehörte.

Er klaubte die Sachen auf dem Beifahrersitz zusammen und hastete zur Haustür. Die Tüte vom Takeaway in Ranelagh war ihm im Weg, als er den Schlüssel ins Loch stecken wollte. Wenn ihn jetzt jemand sah, hielt er ihn vermutlich für betrunken, dachte er, obwohl das nicht zutraf.

»Dann haben Sie sich in Madrid offenbar wohlgefühlt?«, hatte Siobhan gefragt und sich interessiert vorgebeugt, während die Kronleuchter an der Decke ihre Augen zum Funkeln brachten.

»Ich fand es großartig. Es ist mit großem Abstand der beste Ort, an dem ich je gearbeitet habe. Da ist unglaublich viel los, so viel Leben auf den Straßen, in der heißen Sonne. Das war toll, wenigstens das meiste.«

»Und warum sind Sie dann zurückgekommen?« Sie lehnte sich etwas zurück. »Am Wetter kann’s ja wohl kaum gelegen haben?«

»Nein, am Wetter lag’s nicht«, sagte er und versuchte, die plötzlich leicht belegte Stimme mit einem Lachen zu überspielen. »Die Entscheidungsträger haben beschlossen, in Lissabon ein neues Einsatzzentrum gegen den Drogenhandel im Atlantik zu gründen, das MOAC

Siobhan nickte. »Ja, ich glaube, ich hab was darüber in der Irish Times gelesen. Das ist so eine Art Nachrichtendienst für die Bekämpfung des weltweiten Drogenhandels, oder?«

»Genau. Von dort soll in erster Linie der Drogentransport auf dem Atlantik überwacht werden, aber es sollen auch Einsätze koordiniert, die Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten anderer Länder verbessert werden und so weiter.«

»Klingt spannend.«

»Ist es auch. Oder das wäre es zumindest gewesen«, sagte er wehmütig. »Na ja, um es kurz zu machen, das war das Ende der Dienststelle in Madrid, und alle sind nach Lissabon gegangen – meine Stelle war auch dabei.«

»Und warum sind Sie nicht mitgegangen?«

Diese Frage wurde ihm heute schon zum zweiten Mal gestellt. Wie oft man sie ihm in den sechs Monaten seit seiner Rückkehr gestellt hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Und die Tatsache, dass Siobhan zu den wenigen Menschen gehörte, die sich wirklich für die Antwort zu interessieren schienen, machte es ihm nicht leichter.

»Ich hätte mitgehen können, hab’s aber dann gelassen. Das ist, wie schon gesagt, eine lange Geschichte.«

Er sah auf die Uhr, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Dann schießen Sie mal los. Ich habe den ganzen Abend Zeit.«

Er blickte noch rechtzeitig auf, um das Lächeln zu sehen, das ihre Lippen umspielte. Eines Tages, dachte er, würde er vielleicht neben diesen Lippen und diesen Augen aufwachen, sich in ihrem Licht wie in dem der Morgensonne baden und glücklich und zufrieden sein. Aber nicht morgen – nicht wenn es bedeutete, dass er zuerst durch den Morast des letzten halben Jahrs – und des Jahrs davor – waten musste.

»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Das ist zu kompliziert. In der Zeit ist noch mehr passiert. Ich möchte jetzt nicht darüber reden.«

»Schon okay«, sagte sie, allerdings sichtlich überrascht von seiner Zurückhaltung. »Wäre ja furchtbar, wenn wir zu dieser späten Stunde plötzlich über ernste Themen sprechen müssten.« Sie brachte den Rest ihres Drinks im Glas zum Kreisen, trank ihn dann ex aus, nickte in Richtung seines leeren Glases und sagte: »Meine Runde. Noch mal das Gleiche?«

Danach war der Zauber des Abends jedoch verflogen, und obwohl sie noch ein paar Bier tranken und dabei fröhlich plauderten, beschlossen sie doch, ziemlich früh zu gehen. Er hoffte, dass er nicht alles kaputtgemacht hatte. Als er zum Abschluss gesagt hatte, dass er sie gern wiedersehen würde, hatte sie ihn angelächelt und erwidert, dass es ihr genauso ginge. Und sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, während er sich zu ihr herunterbeugte, um ihr einen Wangenkuss zu geben. Da war etwas zwischen ihnen. Jetzt musste er nur aufs nächste Mal warten und dort weitermachen, wo sie vorhin aufgehört hatten.

Der schale Geruch der Vergangenheit seiner Eltern holte ihn zurück in die Gegenwart, als er die Tür hinter sich schloss. Die immer noch deutliche Erinnerung an die Angestellten vom Bestattungsinstitut, die die sterblichen Überreste seiner beiden Eltern innerhalb eines halben Jahres durch diese Tür getragen hatten, schmerzte jeden Abend seit seiner Rückkehr. Ohne das Licht einzuschalten, ging er in die Küche. Die ausgebleichte, grüne Tapete, den abgewetzten Teppich, den halbrunden Telefontisch und den Garderobenständer im Flur musste er nicht unbedingt sehen. Er wusste längst, dass alles von einer dünnen Staubschicht bedeckt war. Die kleine rote Lampe des Anrufbeantworters blinkte ihn an, er ignorierte sie jedoch und ging einfach vorbei.

Mulcahy schaltete das Licht in der Küche an. Er versuchte mit allen Mitteln, die bedrückende Atmosphäre des Hauses von sich fernzuhalten. Die paar Stunden, die er es hier aushielt, verbrachte er fast ausschließlich in der Küche und dem Gästezimmer. Manchmal stellte er sich im Wohnzimmer für die Nachrichten den Fernseher an, setzte sich aber nicht, sondern hörte nur aus der Küche zu. Was das Gästezimmer betraf, hatte er keine Wahl. Sein eigenes Zimmer mit dem schmalen Einzelbett und dem Schrank voller Erinnerungsstücke an seine Kindheit kam ihm so klein und beengt vor wie ein Sarg.

Er kippte die schwach dampfende, klebrige Masse aus Nudeln, Wasserkastanien und blassen Hühnerstücken aus dem Take-away auf einen Teller, nahm eine Flasche Navarra aus dem Regal, entkorkte sie und goss etwas in ein kleines, kurzstieliges Glas. Auf den einen Drink kam es jetzt auch nicht mehr an. Als er sich umdrehte, fiel ihm ein eigenartiger orangefarbener Schimmer über der hochgewucherten Hecke hinten im Garten auf. Es flackerte wie ein Feuer. Mit dem Glas in der Hand ging er die Treppe hinauf und weiter nach hinten in sein ehemaliges Jugendzimmer. Vom Fenster aus konnte er über mehrere hohe Hecken in einen kleinen Park blicken. Der »Park« bestand nur aus ein paar Hektar Rasen mit ein paar kümmerlichen Gehölzen, trotzdem war er in seiner Kindheit ein wichtiger Bestandteil seiner Welt gewesen – ein Ort, den Cowboys durchstreiften und an dem zukünftige Fußballstars die schönsten Tore ihres Lebens schossen. Als er jetzt dorthin blickte, sah er ein kleines Lagerfeuer auflodern, in das ein weiteres Scheit hineingeworfen wurde. Die Flammen erleuchteten die Gesichter der fünf oder sechs Jugendlichen, die sich unter einem improvisierten Zelt aus Plastikplanen gegen den Regen zusammengekauert hatten. Er dachte an sein Nachtmahl, das in der Küche kalt wurde, verspürte aber nicht den Drang, zurückzugehen und es zu essen. Die Szene draußen zog ihn in ihren Bann, erfüllte ihn mit Erinnerungen an die Tage, als er mit seiner Gang am Lagerfeuer gesessen hatte.

Das tut dir nicht gut, dachte er. Es kann einfach nicht gut sein, in einem Haus zu leben, das sich von Tag zu Tag mehr in ein Mausoleum verwandelt.

Plötzlich schienen die Gesichter von all den Menschen, die ihn beschäftigten, vor seinem inneren Auge aufzuleuchten. Sie tanzten vor den lodernden Flammen: seine Eltern, die Freunde und Kollegen aus Madrid, seine Exfrau Gracia und auch dieser verdammte Brendan Healy, sein aktueller Chef. Die Bilder verschwanden jedoch sofort wieder, und damit kehrte so etwas wie Frieden in ihm ein. Im Fenster sah er nur noch Dunkelheit und sein eigenes Spiegelbild. Ihm wurde bewusst, dass er monatelang in Dublin kaum mehr getan hatte, als sich zu verstecken, seine Wunden zu lecken und möglichst nicht vor Selbstmitleid und Enttäuschung zu vergehen. Das war nie seine Art gewesen.

Er drehte sich um und betrachtete das unbewohnte Zimmer, als sähe er es zum ersten Mal: Die durchgelegene alte Matratze, die seit Jahren unbenutzt auf dem Bett lag, die Schachteln mit gesammelten Überresten seiner Kindheit und Jugend, ein herabhängendes Tapetenstück, das sich über dem Fenster gelöst hatte. Er ließ den Wein im Glas kreisen und trank ihn aus. Das Haus bedeutete ihm eigentlich nichts. Ohne seine Eltern war es nur eine Ansammlung leerer Räume. Mit einem grimmigen Lächeln erinnerte er sich daran, dass er den größten Teil seiner Teenagerjahre davon geträumt hatte, aus ihm herauszukommen. Er war nur zurückgekehrt, weil es bequem und vertraut war, schließlich hatte er es lange als sein Zuhause bezeichnet. Sich um den Verkauf zu kümmern, war ihm einfach zu viel gewesen.

Tja, das würde sich ändern. Morgen würde er das tun, was er schon seit Monaten auf die lange Bank schob: Obwohl die Preise für Häuser und Wohnungen sich im freien Fall befanden und trotz der vielen Erinnerungen, die daran hingen, würde er das Haus auf den Markt werfen. Nur so hatte er überhaupt eine Chance, irgendwie ein Stück voranzukommen.