5

»Gott, du schon wieder? Kommst du denn nie raus aus diesem verdammten Saftladen?«

»Das könnte ich dich auch fragen.« Siobhan Fallon warf ihre Tasche auf den Schreibtisch und schaltete den Monitor an, während sie Paddy Griffins Antwort abwartete. Wie erwartet war außer ihr und dem Nachrichtenchef niemand in der Redaktion.

»Klar könntest du das«, erwiderte Griffin schließlich. »Aber bei mir haben eigentlich alle akzeptiert, dass ich kein Privatleben habe, sondern nur die Zeitung. Du hingegen, als junge und dazu noch recht ansehnliche Starreporterin …«

Griffins Worte troffen vor Ironie, sein graues, faltiges Gesicht kräuselte sich jedoch gut gelaunt. Der Mittsechziger, der kurz vor der Rente stand, lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück wie ein Salonlöwe in einer Hotellobby, wobei seine langen, dünnen Gliedmaßen wie Pfeifenreiniger aus den Röhren seines zerknitterten Leinenanzugs ragten. Diese Pose hatte er schon eingenommen, lange bevor Computer zum Hauptwerkzeug eines Journalisten geworden waren. Manche Leute meinten, er wäre vernarrt in seine Chefreporterin, doch in Wahrheit handelte es sich um eine viel tiefergehende Beziehung. Er war nicht hinter ihrem Körper her, aber er erkannte in ihr denselben Hunger und dieselbe Verbissenheit, die ihn selbst in seinen besten Tagen ausgezeichnet hatten. Er lebte auf in ihrer Gegenwart, nährte sich wie ein Nachtmahr von der Energie, die sie verströmte.

»Es gab wohl nichts mehr, was du dir noch hättest kaufen können, was?«

»Es gab wohl nichts mehr, womit ich das hätte zahlen können, meinst du wohl.«

Siobhan drückte den Bauch gegen die Lehne von Griffins Stuhl, drückte ihm freundschaftlich die Schulter und starrte auf den Computermonitor vor ihm. Er sah aus, als hätte er das Büro nicht verlassen, seit er den Druck ihres Artikels am Samstagabend freigegeben hatte. Als wäre er die ganze Nacht dageblieben, um die eingehenden Meldungen durchzusehen und nach irgendetwas zu suchen, aus dem sich eine halbwegs anständige Story für die nächste Sonntagsausgabe machen ließ.

»Gibt’s was Neues?«

»Bis Donnerstag ist das längst wieder vergessen«, stöhnte er. »Herrgott, manchmal vermisse ich die Arbeit für eine Tageszeitung. Hier war den ganzen Tag lang weniger los als im Schlüpfer einer Nonne. Langsam frag ich mich, wieso ich überhaupt hergekommen bin.«

Siobhan wusste, dass mehr dahintersteckte. Griffin war eine Legende in Dubliner Pressekreisen. Er war überall gewesen, hatte alles gesehen, Auslands- und Kriegsberichterstattung für die Irish Independent gemacht, Verbrechen und Politik für die Irish Times, und er hatte sogar kurz als Redaktionsleiter für die Irish Press gearbeitet, bis der in den Neunzigern die Luft ausgegangen war. Er betrachtete den Sunday Herald auch nicht als Abstieg. Nein, jeder Ort, an dem Nachrichten ein- und ausgingen und der ihm die Möglichkeit bot, sie zu drucken, war für Paddy Griffin ein guter Ort.

»Ich hab dich heute Morgen wieder im Radio gehört«, sagte er. »War wie immer gut.«

»Danke. Hinterher bin ich noch für die Pat Kenny Show dageblieben, aber selbst denen ist das ein bisschen zu langweilig gewesen. Sie haben nur drei Minuten darüber berichtet.«

»Besser als nichts, oder?«

»Ja, auch wieder wahr. Wie läuft das Thema denn bei den Agenturen?«

»Oh, bei den Nachzüglern geht’s immer noch hoch her.« Griffin drehte sich mit dem Stuhl um und strahlte Siobhan an. »Das hast du gut gemacht, Darling, und was die Nachfolgeartikel betrifft, lagst du mit deiner Einschätzung auch richtig. Alle Beteiligten versuchen mit allen Mitteln, die Sache aus der Welt zu schaffen. Der Fußballverband und United schließen die Reihen. Lenihan hat eine Stellungnahme abgegeben – das übliche Geschwafel, dass Suzy und er glücklich verheiratet sind und sie sich auf keinen Fall trennen werden.«

Siobhan sah zur Decke. Es war ja nicht so, dass irgendjemand Mitleid mit Suzy Lenihan hatte, weil sie beim Herumpoussieren mit einem Spieler erwischt worden war, den ihr Mann trainierte. Jeder wusste, dass sie Marty Lenihan nur geheiratet hatte, um weiterhin im Rampenlicht zu stehen – ansonsten sprach nicht viel für ihn –, und dass die beiden zusammen das sexgeilste Paar im irischen Sport waren. Lenihan rannte jedem Rock hinterher, falls eine Frau so naiv war, sich bis auf fünfzig Meter an ihn heranzuwagen. Auch Siobhan hatte er sich eines Abends mit seinem übelriechenden Atem bei einer Buchpremiere im Buswells genähert. Bei dem Gedanken erschauderte sie vor Ekel, empfand aber sofort wieder Befriedigung, als ihr der Ausdruck auf seinem Gesicht wieder einfiel, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass er sich sofort wieder verpissen könne. Allerdings hatte Marty sich noch nie in flagranti erwischen lassen, außerdem gingen seine Anwälte wie Rottweiler auf alles los. Die Schlagzeile LENIHAN VERSENKT IHN AUSWÄRTS war daher immer noch nicht mehr als eine verlockende Zukunftshoffnung. Schon bei dem Gedanken kribbelte es in ihrem Bauch.

»Und Maloney«, fuhr Griffin fort, »hat sich heute Morgen, ohne ein Wort dazu zu sagen, mit der ersten Maschine nach Marbella aus dem Staub gemacht und seine heiße Gemahlin praktischerweise gleich mitgenommen. Und sofern der große, eigentorfabrizierende Trottel sich da nicht noch ein Ei ins Nest legt, muss ich dir recht geben. Das Thema wird die Woche nicht überdauern.«

»Dann muss ich mich wohl um was anderes kümmern«, sagte Siobhan, »wenn ich Harry überzeugen will, dass er ohne mich nicht zurechtkommt.«

Griffin blickte zu ihr auf, die Falten und Furchen in seinem Gesicht ordneten sich zu einem wirren Muster gespielten Leids an.

»Die Blumen hast du doch gekriegt, oder?«

Siobhan nickte. Sie wusste, was als Nächstes kam.

»Ich glaube, mehr kannst du im Moment nicht erwarten. Er hat gesagt, dass er sich das Budget noch mal anguckt, aber du weißt ja selbst, was das bedeutet.«

Mulcahy stand draußen am Wasserkocher und löffelte Instantkaffee in seine Tasse – sie hatten hier nicht einmal einen Kaffeebereiter, von einer richtigen Kaffeemaschine ganz zu schweigen –, als im Flur Unruhe ausbrach. Als er sich umdrehte, kam Brogan aus ihrem Büro und ging mit schnellen, klackenden Schritten und bitterböser Miene direkt ins kleine Konferenzzimmer. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass ihr Zorn sich gegen ihn richtete.

»Und wann hätten Sie es mir gesagt?«

Wenn sie nicht so groß gewesen wäre, hätte er ihre Aggressivität nicht so direkt gespürt. Einem Mann hätte er womöglich eine verpasst.

»Was hätte ich Ihnen sagen sollen?«

»Dass Jesica Salazar von den Witzbolden aus der Botschaft aus dem St. Vincent’s abgeholt wurde.«

Mulcahy stellte die Tasse ab.

»Sie wurde was?«

»Sie haben das schon richtig verstanden. Ein Haufen Bandoleros aus der Scheißbotschaft hat sie verschwinden lassen. Die sind mit ein paar Leuten ins Krankenhaus eingedrungen und haben das Mädchen mitgenommen. Eine Nachsendeadresse haben sie nicht hinterlassen.«

»Wahrscheinlich haben sie sie nur in die Blackrock-Klinik oder irgendein anderes Privatkrankenhaus verlegt. Ihr Vater ist ein VIP. Sie wissen doch, wie das ist.«

»Nein, Mike. Weder weiß ich, wie das ist, noch, wo sie jetzt ist.« Brogan fuhr sich durch die Haare, als wollte sie etwas daraus entfernen. »Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie sich mit diesem Spanier unterhalten haben. Wollen Sie wirklich behaupten, dass er nichts davon erwähnt hat?«

Mulcahy begriff erst jetzt, was sie ihm unterstellte. Er schaute sich um, ob noch jemand im Zimmer war. Ein Zivilist musterte sie verstohlen. Und Cassidy starrte ihn mit einem feindseligen Grinsen von seinem Schreibtisch aus an.

»Ja, Claire, genau das will ich behaupten. Und, um das auch noch kurz festzuhalten, ich habe versucht, Ibañez zu kontaktieren, ihn aber nicht erreicht.«

»Was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass dieser kleine Drecksack heute Morgen ins Krankenhaus marschiert ist und da mit einer Anordnung herumgewedelt hat, die besagte, dass sie das Mädchen in seine Obhut entlassen sollen.«

»Von wem haben Sie das erfahren? Doch nicht von Healy?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe im Krankenhaus angerufen, um mich zu erkundigen, wie es Jesica geht, worauf die mir gesagt haben, dass sie vor ein paar Stunden entlassen worden ist. An Healy hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wie um alles in der Welt soll ich ihm das erklären?«

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Mulcahy. »Das ist nicht Ihr Problem. Die Botschaft hat das zu verantworten, also sollen die das auch erklären. Sagen Sie erst mal gar nichts. Warten Sie, bis ich mit Ibañez telefoniert und ihm die Leviten gelesen habe.«

»Zu Hause?«, keuchte Mulcahy, der seinen Ohren nicht traute. »Sie wollen sagen, dass Sie sie nach Spanien gebracht haben, also außer Landes?«

»Aber selbstverständlich.« Jetzt klang Ibañez überrascht. »Wohin hätten wir sie denn sonst bringen sollen?«

Mulcahy war vollkommen schockiert. Er hatte sich darauf vorbereitet, Ibañez einen kleinen Tadel zu erteilen, weil er Jesica Salazar, ohne ihn zu informieren, in ein anderes Krankenhaus hatte verlegen lassen. Aber jetzt erzählte ihm der spanische Botschaftsrat, dass sie das Mädchen in ein Flugzeug gesetzt hatten, das schon fast wieder in Spanien war. Das Telefon noch ans Ohr gepresst, fuhr Mulcahy sich mit der Hand durch die Haare. Was für eine Katastrophe – das musste doch irgendjemand bemerkt haben.

»Warum haben Sie uns nichts davon gesagt?«

»Bitte, Inspector, es gibt keinen Grund, wütend zu werden. Die Entscheidung lag nicht bei mir.« Ibañez’ Stimme klang jetzt etwas gepresst. »Wie Sie wissen, ist Jesicas Vater ein sehr einflussreicher Mann. Er wollte, dass seine Tochter wieder nach Spanien zurückkommt, in seine Nähe, in ihr Heimatland, wo sie in Sicherheit ist und keine weiteren Verletzungen befürchten muss, weder physischer noch psychischer Art.« Er wartete einen Moment, um die Spitze wirken zu lassen. »Womöglich hätte Don Alfonso nicht so sehr darauf gedrängt, wenn Ihre Kollegen nicht diesen schändlichen Versuch unternommen hätten, Jesica zu vernehmen, obwohl sie dafür noch längst nicht bereit war. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen kann ich durchaus nachvollziehen, warum er sich nicht mit, äh, Feinheiten beschäftigt hat, sondern garantiert haben wollte, dass seine Tochter ohne jede Verzögerung in Sicherheit gebracht wird.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, knurrte Mulcahy ins Telefon. »Sie war nie wirklich in Gefahr, und das wissen Sie ganz genau. Das Ganze führt nur dazu, dass unsere Ermittlungen in der Luft hängen.«

»Und genau aus diesem Grunde wollte ihr Vater, dass Jesica in die Heimat überführt wird, Inspector. Weil das, wie Ihre Reaktion nur allzu deutlich zeigt, die einzige Möglichkeit war, ganz sicher zu sein, dass sie nicht noch einmal von Ihren Beamten dazu gezwungen werden würde, über diesen schrecklichen Vorfall zu sprechen, bevor sie dazu in der Lage ist. Was, wie ich hinzufügen möchte, laut Auskunft unserer Ärzte noch eine ganze Weile dauern wird. Daher entschuldige ich mich nicht bei Ihnen, Inspector. Wir haben keinen Fehler gemacht. Wir haben alle erforderlichen Genehmigungen eingeholt, auch die Ihrer Regierung. Wenn man Sie davon nicht in Kenntnis gesetzt hat, können Sie uns nicht die Schuld daran geben.«

Als Mulcahy Brogan die Information übermittelte, wäre ihr fast die Luft weggeblieben.

»Madrid? Herrgott noch mal! Dann können wir uns ja gleich von der Hoffnung verabschieden, diesen Scheißdreck schnell aufzuklären. Wie sollen wir denn jetzt an eine Aussage rankommen? Oder einen Verdächtigen identifizieren, falls wir einen festnehmen?«

»Nach den Vorkommnissen im Krankenhaus hatten die Spanier wohl kein großes Vertrauen mehr in uns.« Mulcahy sah Cassidy an. »Aber eins versteh ich überhaupt nicht. Wie kommen Sie darauf, dass ich gewusst hätte, dass sie das Mädchen wegschaffen? Oder dass ich Ihnen das dann nicht mitgeteilt hätte?«

Brogan war so anständig, etwas rot zu werden. »Sie sind doch für den Kontakt zur Botschaft zuständig. Wer, wenn nicht Sie, hätte etwas davon wissen sollen?«

Er spürte, dass sein Ärger über Brogan schwand und sich wieder auf den Punkt richtete, auf den er schon die ganze Zeit hätte abzielen sollen. Ihre Paranoia wegen seiner Anwesenheit in ihrem kleinen Lehensgut war zwar ziemlich nervig, aber das, was die Spanier sich da geleistet hatten, war weitaus schlimmer. Es machte jede irgendwie geartete Kooperation unmöglich und würde die Ermittlungen erheblich erschweren.

»Irgendwie kriegen wir das schon hin«, sagte er und legte mehr Zuversicht in die Stimme, als er verspürte. »Es wurden doch alle Proben genommen. Und Jesica hätte uns im Moment ohnehin nicht mehr viel sagen können. Wir müssen denen da oben nur klarmachen, dass wir nichts von der Überführung wussten und über die entstandene Situation auch nicht sehr glücklich sind. Ansonsten soll der Minister sich um die politische Seite kümmern. Der muss ja irgendwas damit zu tun gehabt haben.«

Bevor Brogan sich abwandte und ging, sah Mulcahy, dass keins seiner Worte bei ihr angekommen war.

Das Besprechungszimmer war verlassen. Mulcahy hatte den größten Teil des Nachmittags an seinem Schreibtisch mit der Durchsicht der Akten verbracht. Abgesehen von einer Sekretärin, die im Vorzimmer etwas in einen Computer tippte und sich von seiner Anwesenheit nicht stören ließ, war er allein im Büro. Brogan war es gelungen, ihn kaltzustellen. Kurz nachdem er ihr von seinem Telefonat mit Ibañez erzählt hatte, war sie mit Cassidy und den anderen zu Haustürbefragungen und Vernehmungen einiger aktenkundiger Sexualtäter aufgebrochen. Immerhin hatte ihre Abwesenheit ihm die Gelegenheit gegeben, ein paar längst überfällige Anrufe zu machen. Nicht zuletzt bei seinem alten Spezi Sergeant Liam Ford in der Drogenfahndung, den er seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte.

»Meine Fresse«, lachte Ford verblüfft, als er erfuhr, dass man seinen alten Chef zum Dienst bei der Sitte zwangsrekrutiert hatte. »Haben Sie dir an der Tür die Eier abgehackt?«

Mulcahy versicherte ihm, dass das nicht der Fall wäre. Sie verabredeten sich für den Mittag des folgenden Tags auf ein Bier, dann legte Mulcahy auf. Kein Wunder, dass Brogan und Cassidy so empfindlich waren. Unabhängig davon, was er über die Sitte dachte, war Fords Reaktion typisch für die Garda. Noch ein Grund mehr, hier so schnell wie möglich wieder rauszukommen. Dabei konnte die Rückkehr des Mädchens nach Madrid für ihn nur hilfreich sein, weil sie ihn jetzt vielleicht nicht mehr brauchten. Die spanische Botschaft würde keinen großen Wert mehr auf den »Verbindungsmann« legen, und wenn alles glattging, konnte er sich in ein paar Tagen unauffällig verdrücken. Das, wohin er zurückging, war zwar nicht viel besser, doch zumindest brauchte er nicht mehr um Brogan und Cassidy, diesen kleinen Scheißer, herumzuschleichen.

In diesem Augenblick klingelte sein Handy, aber er erkannte die Nummer im Display nicht.

»Mike?«

Die Stimme hatte einen spanischen Akzent, und er erkannte sie sofort als die seines alten Kollegen Javier Martinez von der Drogenbekämpfungstruppe in Madrid. Obwohl sie während der sieben Jahre, die er in Spanien verbracht hatte, enge Freunde gewesen waren, hatte Mulcahy ihn seit Monaten nicht gesprochen, und seine Laune besserte sich sofort. Es war fast so, als wäre er in sein altes Leben zurückgekehrt.

»Jav? Wie geht’s dir? Verdammt, ich vermisse euch alle sehr.«

»Von ›uns alle‹ kann keine Rede mehr sein«, gluckste Martinez. »Hast du noch nichts davon gehört? Ich bin genau wie du und alle anderen versetzt worden.«

»Wieso das denn?«, fragte Mulcahy. »Der Job war dir doch auf den Leib geschrieben.«

»Dir etwa nicht?«

Mit einem Grunzen bestätigte Mulcahy die unleugbare Wahrheit dieser Aussage.

»Aber wie gesagt«, fuhr Martinez fort, »ich wurde versetzt. Befördert. Jetzt bin ich Leiter der – wie nennt ihr das – Abteilung für Sicherheit und Auswärtige Zusammenarbeit. Du weißt schon, es geht um VIPs, Diplomaten, Politiker und ein paar Sondereinsätze.«

»Ach herrje, als Babysitter hab ich dich nie gesehen.« Aber schon während er das sagte, wurde Mulcahy klar, dass Martinez, der genialste Netzwerker, dem er je begegnet war, diese Rolle brillant ausfüllen würde.

Dieses Mal lachte Martinez laut auf. »Ein bisschen mehr gehört schon noch dazu. Zum Babysitten komm ich kaum, weil ich im Hintergrund die Fäden ziehen oder irgendwelche Gefälligkeiten arrangieren muss. Wie zum Beispiel den für Don Alfonso Mellado Salazar gestern Abend.«

Martinez schwieg einen Moment, gab Mulcahy die Gelegenheit zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.

»Du warst das?« Mulcahy traute seinen Ohren nicht. »Du hast die Überführung des Mädchens organisiert?«

»Nein, nein«, Martinez schnalzte scharf. »Das habe ich gerade erst von Ibañez erfahren. Es war sehr plump, aber sie müssen eine Genehmigung von eurer Regierung gehabt haben, sonst wäre das nicht gegangen. Nein, ich rufe dich an, weil ich dir sagen will, dass ich dich als unseren Verbindungsmann vorgeschlagen habe. Als Ibañez während der gestrigen Telefonkonferenz deinen Namen erwähnte, war ich natürlich sehr überrascht. Aber ich dachte mir sofort, einen besseren Mann können wir nicht auf unserer Seite haben. Ich habe gestern Abend noch versucht, dich anzurufen, du bist allerdings nicht rangegangen, und dann hatte ich viel zu tun und hab’s vergessen. Also entschuldige bitte.«

»Um Himmels willen, Jav«, stöhnte Mulcahy. »Dann häng ich hier ja wochenlang fest.«

»Ja, aber bei unserem letzten Telefonat hast du noch geklagt, wie sehr du dich langweilst.«

»Das ist Monate her.«

»Und seitdem hat sich deine Situation deutlich verbessert?«

Als er auflegte, verspürte Mulcahy einen Hauch mehr Begeisterung für seine neue Aufgabe. Sie hatten darüber gesprochen, wie man am besten mit Salazar senior in Kontakt treten könne, wobei Martinez in dieser Beziehung ähnlich skeptisch war wie Mulcahy. Insgeheim freute sich Mulcahy darüber, dass er Martinez ein bisschen was heimzahlen konnte, indem er ihn nötigte, der Möglichkeit eines Motivs in Jesicas Heimat nachzugehen.

»Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?«, hatte Martinez sich beschwert. »Sämtliche Terroristen und Spinner in Spanien, von der ETA bis zu diesen Scheiß-Al-Qaida-Bombern, haben es auf ihn abgesehen.«

»Ganz genau, Jav«, sagte Mulcahy und legte noch einmal richtig nach. »Jetzt komm schon, Mann. Erzähl mir nicht, dass das bei euch noch niemandem in den Sinn gekommen ist.«

»Natürlich ist es das. Aber dann fanden wir das doch ziemlich paranoid. Seine Tochter wurde überfallen, und es hat auch niemand irgendeine Erklärung abgegeben, dass es irgendetwas mit ihm zu tun hätte. Wir glauben, dass selbst die dümmsten Terroristen und Attentäter heutzutage, äh, eine größere Medienkompetenz haben als das.«

In dem Punkt wollte Mulcahy ihm nicht widersprechen, trotzdem ließ er Martinez nicht von der Leine. Dann stürzte er sich mit neuer Energie auf seine Aktenberge. Bisher hatte er nicht viel Neues entdeckt, außer der Tatsache, wie viele Widerlinge und Perverse es in Dublin gab. In den fünf Jahren, die er Ende der Achtziger Streife gegangen war, hatte er es nur mit etwa einem guten Dutzend Fälle von häuslicher Gewalt und ein paar Exhibitionisten zu tun gehabt. Wie alle anderen auch hatte er dann zehn Jahre später natürlich den noch immer nicht beendeten Skandal mit Irlands pädophilen Priestern verfolgt. Tief im Innersten hatte er dabei allerdings vorwiegend eine große Befriedigung dafür empfunden, dass die jahrhundertealte Herrschaft der Kirche über die Seelen und Schuldgefühle seiner Landsleute endlich zerschlagen wurde.

Was er hier las, überstieg jedoch sein Vorstellungsvermögen – und es hatte auch keinen allgemeinen Aufschrei in den Medien nach sich gezogen. Hunderte gebrochener Arme und Rippen, zersplitterter Wangenknochen, von betrunkenen oder anderweitig berauschten Ehemännern oder Vätern krankenhausreif geschlagene Frauen und Kinder. Dazu die Vergewaltiger und Pädophilen aus allen Gesellschaftsschichten – Maurer, Lehrer, Anwälte, IT-Spezialisten, Banker und Geistliche. Dabei hatten sie ihm nur die Fälle vorgelegt, bei denen die Opfer im Zuge des Verbrechens körperliche Schäden erlitten hatten. Sicherlich war diese Welle häuslicher Gewalt nicht einfach aus dem Nichts entstanden. Schließlich hatte der Wirtschaftsboom keinen Aufschwung an Abartigkeit nach sich gezogen. Mulcahy erschrak, wenn er darüber nachdachte, was die Menschen offenbar jahrelang verheimlicht hatten.

Am Ende hatte er keine Wahl. Er musste seinen Abscheu überwinden und die Arbeit fortsetzen. Dabei fiel ihm sofort auf, dass das Ausmaß an Gewalt, mit dem der Täter bei Jesica Salazar vorgegangen war, extrem selten war. Wie auch der Prozentsatz von Überfällen und Vergewaltigungen durch Fremde. Irische Männer ließen ihren Zorn eindeutig am liebsten an ihren Ehefrauen und Geliebten aus, und zwar normalerweise in der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände. Mulcahy fing mit den Fällen an, bei denen es tatsächlich zu einer Verhandlung gekommen war, arbeitete sich von dort langsam, ein Bündel zerstörten Lebens nach dem anderen, durch die Kartons, fand jedoch nichts, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit oder eine andere Verbindung zum Überfall auf Jesica Salazar zeigte. Immer wenn er auf eine Vergewaltigung oder einen körperlichen Angriff auf eine Fremde stieß, untersuchte er den Tathergang auf Gemeinsamkeiten und legte die Akte dann zur Seite, um sie sich später noch einmal genauer anzusehen.

Nachdem die Fälle, in denen Ermittlungen aufgenommen worden waren, schon nicht sehr vielversprechend ausgesehen hatten, war mit dem riesigen Haufen ohne ausreichende Hinweise noch weniger anzufangen. Auch hier handelte es sich meistens um Fälle im häuslichen Umfeld, bei denen die Opfer oft in der Hitze des Gefechts Anzeige erstattet hatten, um sie dann kurz darauf wieder zurückzuziehen. Hier fanden sich Schilderungen, wie normale Verabredungen in Vergewaltigungen geendet hatten; darunter – zumindest nach den Aussagen der Opfer – auch einige Übergriffe von so ungeheuerlicher Brutalität, dass Mulcahy nicht verstand, warum die Polizei es nicht für notwendig gehalten hatte, weiterführende Ermittlungen aufzunehmen. Er hatte sich ungefähr ein Drittel der Akten angesehen, als Brogan und Cassidy wieder in das Einsatzzentrum stapften und er merkte, dass es schon nach sieben war. Keiner der beiden sah ihn auch nur an, stattdessen stellten sie sich vor das Whiteboard, steckten die Köpfe zusammen, diskutierten und malten dabei etwas auf die Karte. Er stand auf und ging zu ihnen hinüber.

»Irgendwelche Fortschritte?«

»Ja, aber viel ist es nicht«, räumte Brogan schließlich ein. »Wir glauben, dass wir den Tatort ausfindig gemacht haben. Die Spurensicherung untersucht ihn gerade. Morgen früh wissen wir mehr. Wie es aussieht, könnte der Täter sie dort in einen Lieferwagen gezerrt haben. Das würde vieles erklären.«

»Klingt logisch«, ergänzte Cassidy mürrisch. »In einem Lieferwagen könnte er eine brennende Lötlampe oder was auch immer bereitgehalten haben. Die Möglichkeit hatten wir von Anfang an in Erwägung gezogen – aber als wir darüber gesprochen haben, waren Sie wohl noch gar nicht hier.«

Cassidys Blick schoss zu Brogan hinüber.

»Richtig, Sergeant, das war ich nicht«, erwiderte Mulcahy und versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

»Tja, dann haben Sie morgen bei der Besprechung um neun die Gelegenheit, sich auf den neusten Stand bringen zu lassen«, ging Brogan schnell dazwischen. »Ich gehe mal davon aus, dass Sie dann dabei sind, Mike. Für heute können Sie aber auch Schluss machen. Es sei denn, Sie haben selbst irgendwas gefunden.«

»Nein, absolut nichts«, sagte er. »Zumindest nichts, was einem sofort ins Auge fällt. Wenn ich die Fälle so rekapituliere, scheint unser Täter schon eine Ausnahme zu sein. Aber das wussten Sie vermutlich schon.«

»Na ja, ich habe nicht erwartet, dass Sie einen Fall entdecken, der genauso abgelaufen ist. Daran würde ich mich erinnern. Aber die Chance, dass der Täter irgendwo in den Akten auftaucht, ist ziemlich groß.«

»Auf ein oder zwei Fälle sollte man noch einen zweiten Blick werfen, aber da möchte ich erst einmal mit Ihnen drüber reden.«

»Wir können uns ja morgen nach der Besprechung zusammensetzen«, schlug Brogan vor. »Dann seh ich mir das, was Sie haben, kurz an. Bis dahin muss ich mit Sergeant Cassidy noch ein paar anderen Dingen nachgehen, bevor wir Feierabend machen können. Okay?«

»Gut«, sagte Mulcahy und nickte. »Dann sehen wir uns morgen früh.«

Das laute Dröhnen eines Busses, der vor dem Fenster am Burgh Quay angelassen wurde, riss Siobhan aus ihren Träumereien. Sie sah auf die Uhr unten rechts auf ihrem Bildschirm und stellte fest, dass eine weitere Stunde verstrichen war, ohne dass sie der Story im Computer irgendetwas Wichtiges hinzugefügt hatte. Sie arbeitete an einem Artikel auf der Grundlage einer kurzen AP-Meldung, die Griffin für sie herausgesucht hatte: Ein fetter Junge in Portland, Oregon, hatte mit dem Sturmgewehr seines Vaters seine ganze Highschool als Geisel genommen, als er hörte, dass Hot Dogs aus dem Schulmenü gestrichen werden sollten. Ein paar Anrufe bei einem Ernährungswissenschaftler und einem Staatssekretär im Gesundheitsministerium, ein paar ausgewählte Zitate, schon hatte sie einen netten kleinen Artikel über Fettsucht, die nicht nur die amerikanischen Kinder, sondern auch die irischen bedrohte. Allgemeines Geschwafel hielt sich immer am besten bis zum nächsten Sonntag.

Zwanzig nach acht. Wenn sie zu ihrem Treffen mit Vincent Bishop nicht zu spät kommen wollte, musste sie jetzt los. Den letzten Schliff konnte sie dem Artikel morgen früh, wenn sie ausgeruht war, innerhalb von zehn Minuten geben, falls das überhaupt nötig war. Griffin hatte längst aufgegeben und sich zu einer einsamen Nacht in seine kleine Zweizimmerwohnung in Drumcondra verzogen, wo er durch die verschiedenen Nachrichtensender im Fernsehen zappte. Sie speicherte den Artikel, loggte sich aus, ging zum Fenster und streckte sich und ihre steifen Arme.

Das Tageslicht schien langsam zu schwinden, allerdings ließ sich das durch die Rauchglasscheiben des Verlagsgebäudes immer schwer feststellen. Sie sah den Fahrgästen gerne ins Gesicht, die in den Oberdecks der Busse an der Endstation auf die Abfahrt warteten. Da Siobhan im ersten Stock war, befanden sich beide auf gleicher Höhe. Die Fahrgäste waren gerade einmal vier bis fünf Meter von ihr entfernt, ahnten aber nicht, dass sie durch die verspiegelten Scheiben beobachtet wurden. Siobhan versuchte anhand ihrer Kleidung und der Gesichter herauszubekommen, was für ein Leben sie führten, wo sie arbeiteten, woher sie kamen und wohin sie fahren könnten. Freitagnachts hatte sie sogar einmal auf der Rückbank des 128ers ein jugendliches Paar beim Bumsen gesehen. Der Rest des Oberdecks war leer gewesen, und das Mädchen hatte sich an der Lehne festgehalten und verzweifelt versucht, Ausschau zu halten, während der Junge, der sich seine Jeans gerade mal bis zu den Arschbacken heruntergezogen hatte, wild am Pumpen war. Sie konnten nicht ahnen, dass auf Siobhans überraschten Schrei der Rest der Nachrichtenredaktion herbeigeeilt war, um einen Blick darauf zu werfen, und alle wie ein Haufen großer Kinder kreischten, als der Junge schließlich erzitterte und zusammensackte.

Von der Erinnerung erheitert ging sie zurück zum Schreibtisch. Die Kameradschaft in der Nachrichtenredaktion war kaum zu überbieten. Sie zog ihre Jacke an und streckte die Hand aus, um den Monitor auszuschalten, als das Telefon auf Jim Clarkins Schreibtisch hinter ihr klingelte. Sie zögerte kurz, ging dann aber ran. Clarkin, der ausgebrannte Kriminalberichterstatter, kam nur sehr selten ins Büro. Er zog es vor, in den Bars in der Umgebung des Four Courts nach seinen Storys zu suchen oder der Reihe nach in seinem Wagen alle Gerichte abzuklappern. Er arbeitete immer von seinem Handy aus. Da musste sich jemand verwählt haben. Aber man konnte nie wissen.

»Hallo, Nachrichtenredaktion.«

Zu ihrer Überraschung fragte der Anrufer tatsächlich nach Clarkin.

»Der ist nicht da. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie weiterhelfen?«

Der Anruf kam von einem Handy, die Stimme war durch das Rauschen aber kaum zu verstehen. Das Anliegen des Anrufers war jedoch eindeutig. Er wollte Informationen verkaufen.

»Ja, also, wir sind immer auf der Suche nach guten Storys. Ich denke, da ließe sich etwas machen, wenn das für uns passt. Es müsste allerdings schon etwas Besonderes sein – für irgendwelchen Mist zahlen wir nichts. Können Sie mir mehr darüber erzählen?«

Als sie an ihren Schreibtisch gelehnt zuhörte, erschlaffte ihr Gesicht und nahm einen gelangweilten Ausdruck an, bis der Anrufer zum entscheidenden Detail seiner Story kam. Eine spanische Schülerin war am Vorabend in einem Vorort im Süden der Stadt überfallen und vergewaltigt worden. Erst als er zu den Verletzungen kam, die der Täter ihr angeblich zugefügt hatte, sprang Siobhan auf und griff nach dem Kugelschreiber und ihrem Block.

»Was hat er gemacht? Oh Jesses, das ist ja widerlich.« Ihr Gesicht spannte sich vor Ekel, als sie die Einzelheiten notierte. »Und wie geht’s dem Mädchen? … Kennen Sie ihren Namen? … Na ja, Sie müssen wissen … Spanierin, mehr können Sie nicht sagen? … Und in welchem Krankenhaus liegt sie? … Okay, in welchem Krankenhaus hat sie gelegen? … Ja, gut … Was können Sie mir sonst noch sagen?«

Als sie nach weiteren Details fragte, gab sich der Anrufer jedoch enttäuschend kurz angebunden, und als er anfing, die Dinge zu wiederholen, die er schon gesagt hatte, unterbrach sie ihn. »Okay, hören Sie, ich denke, zwanzig Euro ist das wert. Geben Sie mir Ihren Namen, dann hinterlege ich das Geld für Sie an der Rezeption.«

Sie zog einen Umschlag aus der Schublade und schrieb den Namen des Anrufers darauf.

»Nein, keine Sorge, der Umschlag wird da sein – sofern die Story einer Überprüfung standhält. Und vielen Dank, ja? Ich heiße Siobhan Fallon, vielleicht sollten Sie sich meinen Namen merken, falls Sie irgendwann noch mehr haben, okay?«

Sie legte auf, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte Bishops Nummer. Sie wurde sofort zur Mailbox durchgestellt.

»Hi, Vincent, hier ist gerade noch etwas reingekommen, daher werde ich mich etwas verspäten. Falls Sie wegmüssen, rufen Sie mich bitte kurz an.«

Dann schaltete sie das Handy aus, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und dachte scharf nach, wobei ihr Blick hektisch hin und her sauste. Nach gut zwei Minuten zog sie ihre Jacke aus und drückte die Leertaste auf der Tastatur, worauf der Bildschirm wieder zum Leben erwachte. Konzentriert klickte sie auf dem Bildschirm herum, öffnete ihren Kontakte-Ordner und scrollte die lange Liste mit Namen, Anmerkungen und Telefonnummern herunter, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. Sie tippte eine Nummer ins Telefon und wartete.

»Hi, spreche ich mit dem Hauptquartier der Garda Síochána? Hören Sie, ich weiß, dass es spät ist, aber ist Des Consodine noch da? Sergeant Consodine, meine ich …«

Es war ein ruhiger, klarer Abend. Das helle Blau des leicht bezogenen Himmels bog sich tief herab und küsste am Horizont das glatte, grüne Meer, als Mulcahy auf der Strand Road in Richtung Süden fuhr. Ausnahmsweise war er froh über den stockenden Verkehrsfluss. Erschöpft ließ er den Blick über den dunklen, nassen Sand in der lang geschwungenen Dublin Bay streifen. Es war Ebbe, also war das Wasser fast einen halben Kilometer weiter draußen, so dass dort jetzt Hunde spazieren geführt wurden, Liebespaare Arm in Arm gingen und weit draußen auch ein paar Angler ihre Köder ausgeworfen hatten. Als er im Stau stand und auf die riesigen rot-weißen Schornsteine des Pigeon-House-Kraftwerks hinausblickte, kehrten Erinnerungen an seine Kindheit zurück. An ausgedehnte Strandspaziergänge, Paddeln im kalten, klaren Wasser, das Fangenspielen mit den langen, flachen Wellen, die bis zu den Knien hochgekrempelte Hose seines Vaters und die unerschütterliche Sicherheit seiner starken Hand, mit der er ihn festgehalten und vor allem und jedem beschützt hatte. Hinterher hatte es am Kiosk im Martello Tower oft noch ein Eis gegeben, oder sie waren nach Dun Laoghaire gefahren, um auf der Seaspray eine Fahrt durch die Bucht zu machen.

Als sich die Autoschlange schließlich weiterbewegte, lenkte er den Saab aus einer Laune heraus auf einen der in regelmäßigen Abständen eingerichteten Parkstreifen, von denen man einen schönen Blick aufs Meer hinaus hatte. Eigentlich war Dublin doch gar nicht so übel, dachte er, wenn er nur dieses schreckliche Gefühl loswerden könnte, dass er ohne Anker im offenen Meer trieb. Er stellte den Motor aus und betrachtete die ruhige, stille Bucht vor sich. Das schwache Abendlicht schien über dem Wasser zu schweben und es niederzudrücken, als wollte es es noch weiter beruhigen. Diese Ruhe stand im absoluten Widerspruch zu dem Katalog von Misshandlungen, mit denen er sich den ganzen Nachmittag lang beschäftigt hatte. Aber diese Momente stiller Schönheit waren für ihn schon immer ein wichtiger Teil Dublins gewesen – der Teil, den er nach seinem Umzug nach Madrid sehr vermisst hatte, als ihn der Lärm und die Hast des spanischen Alltagslebens fast erschlagen hätten. Er hatte sich dann natürlich schnell daran gewöhnt und war fast süchtig geworden nach der Ausgelassenheit der Madrileños und ihrer Liebe für Farben, Lärm und Spektakel. Als er Gracia, seine spätere Frau, kennenlernte, hatte er sich in die Ruhe verliebt, die sie ausstrahlte. Aber am Ende hatte das nicht gereicht. Es hatte bei Weitem nicht gereicht.

Er stützte den Kopf in die Hände und spürte, wie sein Handy in der Jackentasche verrutschte. Er zog es heraus und starrte darauf, scrollte die Anrufliste zurück, bis er Siobhan Fallons Nummer sah. Rein äußerlich konnte er sich kaum einen Menschen vorstellen, der weniger Ähnlichkeit mit Gracia hatte. Abgesehen von den Haaren natürlich. Und vielleicht den Augen. Aber auch Siobhan besaß eine ganz eigene Schönheit. In ihrem Fall war es jedoch keine innere oder schlummernde Kraft. Sie ging offen und direkt auf die Welt los. Er drückte die Anruftaste, wurde aber direkt zu ihrer Mailbox durchgestellt.

»Hi, Siobhan, hier ist Mike Mulcahy. Ich wollte nur sagen, dass mir der gestrige Abend gefallen hat, und vielleicht haben Sie ja Lust, etwas Ähnliches demnächst wieder zu unternehmen.«

Sie kam eine halbe Stunde zu spät ins Pembroke und stellte wie erwartet fest, dass Vincent Bishop nicht mehr in der Bar war, für sie jedoch eine Nachricht hinterlassen hatte, dass er im Restaurant säße und sie ihm doch gerne folgen könnte. Er hatte eine Flasche Champagner mitgenommen und bestand darauf, dass sie mit ihm auf ihren Erfolg bei der Maloney-Story anstieß. Auf »unseren« Erfolg, wie er ihn bezeichnete – für Siobhans Geschmack etwas zu laut. Bald sprachen sie allerdings über andere Themen, und Bishop kam erst nach dem Essen noch einmal auf Maloney zurück.

»Ich habe im Zuge dieser Story ein fabelhaftes Geschäft gemacht«, sagte Bishop, während er die Knöpfe seines Jacketts öffnete.

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie. In ihrem Kopf fing eine Warnglocke leise an zu läuten, doch nach dem Essen und dem Wein war sie entspannt und fühlte sich sicher.

»Ach, wissen Sie, Marty und Suzy Lenihan leiten eine dieser Sportvermarktungsagenturen – ich hatte schon vor einiger Zeit ein Auge darauf geworfen. Am Montagmorgen, als sich die Aktien im freien Fall befanden, konnte ich mir einen ordentlichen Anteil daran sichern – Sie wissen schon, als die Gerüchte aufkamen, dass die beiden sich trennen würden. Das ist eine sehr solide geführte, kleine Firma. In ein bis zwei Wochen, wenn die Leute merken, dass mehr als nur ein einfacher Seitensprung erforderlich ist, um eine Trennung der beiden herbeizuführen, werden die Preise wieder steigen.«

»Hören Sie, Vincent, über solche Sachen möchte ich lieber nichts wissen.«

»Nein, warten Sie«, unterbrach er sie und griff in seine Tasche. »Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken. Ich dachte, vielleicht gefällt Ihnen das als Zeichen meiner Hochachtung.«

Er zog eine etwas abgewetzte, rote Samtschachtel aus der Tasche und schob sie über den Tisch.

»Was ist das«, fragte sie, während sich die Alarmglocke in eine laute Sirene verwandelte. Sie beugte sich vor und starrte auf die Schachtel, die in der Farbe geronnenen Bluts in seinen dürren Fingern lag.

»Sehen Sie es sich an«, drängte er. »Machen Sie. Die beißt schon nicht.«

Obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte, nahm sie die Schachtel und öffnete sie. Drinnen lag ein Ring aus stumpfem, gelbem Metall, der nur gut fünf Zentimeter Durchmesser hatte, aber in einem ausgeklügelten Muster aus kleinen Wirbeln und gewundenen Wölbungen geformt und mit vier grauen Perlen besetzt war. Die Form erinnerte sie an ein Keltenkreuz, doch als sie noch einmal hinsah, fiel ihr ein gebogener Metalldorn auf der Rückseite auf, und ihr wurde klar, dass es eine Tara-Brosche war. Obwohl man ihr das Alter ansah, war sie bezaubernd.

Sie hob den Blick und starrte Bishop über den Tisch an, wobei ihr ausnahmsweise einmal die Worte fehlten.

»Ich weiß, eine Tara-Brosche ist heutzutage ein bisschen altmodisch«, sagte er fast entschuldigend. »Aber die ist etwas Besonderes. Ich zeig es Ihnen.«

Er griff nach der Schachtel, nahm die Brosche heraus, drehte sie um und zeigte ihr die flache, glatte Rückseite. Seltsamerweise wirkte sie durch die Schlichtheit des Metalls sogar noch wertvoller.

»Da, sehen Sie?«, sagte er und hielt sie ins Licht. »Das ist das Zeichen von George Waterhouse, dem Dubliner Juwelier, der den keltischen Stil wieder zum Leben erweckt hat, nachdem die Originalbrosche aus dem achten Jahrhundert an einem Fluss in Meath gefunden worden war. Dieses Stück haben sie für die erste Weltausstellung in London 1851 angefertigt. Ich habe es vor ein paar Jahren auf einer Auktion ersteigert. Die frühen Kopien waren meistens aus Silber oder Zinn, aber diese ist aufwendiger gearbeitet. Sie besteht aus zweiundzwanzigkarätigem Gold und ist mit irischen Flussperlen besetzt.«

»Sie ist … sie ist fantastisch.« Siobhan sah sich in dem kleinen Restaurant um, weil sie annahm, dass alle sie anstarrten. Das tat aber keiner.

»Dann nehmen Sie sie«, sagte er und streckte ihr die Brosche auf der Handfläche entgegen. »Es wäre schön, sie an Ihnen zu sehen, ehrlich gesagt würde ich sie an Ihrer Stelle jedoch in der Schachtel lassen. Es ist ein sehr seltenes Stück.«

Siobhan starrte ihn nur über den Tisch an. Das Ding musste Tausende wert sein.

»Was ist?« Er winkte ihr mit der Brosche wie mit einem Stück Modeschmuck zu.

»Soll das ein Witz sein?«, sagte sie schließlich, als sie wieder etwas herausbekam. »Das kann ich nicht annehmen. Selbst wenn ich wollte. Also, nicht dass Sie mich falsch verstehen, sie ist unglaublich schön …«

Er wollte sie unterbrechen, sie unterbrach ihn jedoch sofort mit einer energischen Handbewegung.

»Nein, wirklich, Vincent, das ist sehr großzügig von Ihnen, aber es wäre nicht richtig.«

Sie brach ab, sah, wie sich ein Schatten auf seinem langen, blassen Gesicht ausbreitete, und suchte weiter nach den richtigen Worten. Dieses Mal jedoch war er schneller.

»Was interessiert es mich, ob es richtig oder falsch ist. Ich will, dass Sie sie haben.« Seine Stimme war jetzt ein tiefes, eindringliches Knurren, und seine Augen blitzten ihr entgegen. Einen Moment lang spürte sie, warum er so ein ausgezeichneter und unnachgiebiger Geschäftsmann war, und erkannte gleichzeitig, dass der Geschäftsmann in ihm ihr überhaupt nicht zusagte. Außerdem wurde ihr klar, dass sie in dieser Auseinandersetzung keinesfalls klein beigeben durfte. In keiner Beziehung. Sie beugte sich über den Tisch und flüsterte in vertraulichem Tonfall:

»Hören Sie, ich bin sehr froh darüber, dass wir Freunde sind, Vincent, und es freut mich, dass Ihnen der Aufruhr gefällt, den wir mit der Maloney-Geschichte erregt haben. Aber wir beide sind Profis. Ich interessiere mich nur für Maloneys Nachrichtenwert. Wenn Sie damit Geld verdient haben, ist das Ihre Sache. Ich muss und will das nicht wissen. Noch wichtiger ist dabei, dass nicht der geringste Verdacht aufkommen darf, dass ich davon finanziell profitiert haben könnte. Wie sollte ich sonst noch irgendetwas darüber schreiben können? Das verstehen Sie doch, oder?«

Sie hielt seinem Blick stand, bis das Feuer in seinen Augen schließlich erlosch. Er nickte, schloss die Hand um die Brosche, griff dann nach der Schachtel und stach die Nadel behutsam wieder in den dunklen Samt. Als sie sah, wie seine langen, weißen Finger sich bewegten, ekelte sie sich mehr denn je bei dem Gedanken an eine Berührung. Aber sie wusste, dass er eine kleine Geste von ihr erwartete. Sie streckte die Hand aus, tätschelte seinen Handrücken zweimal kurz, lehnte sich, bevor er irgendwie darauf reagieren konnte, wieder zurück und lächelte, so freundlich sie konnte.

»Sie verstehen das doch, oder?«

»Nein«, sagte er missmutig, »aber dum spiro, spero, wie man so sagt.«

»Sagt man das?« Siobhan lachte. »Ich glaub, den kenn ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen.«

Er lächelte wieder, wenn auch sehr verhalten. »Das ist nur so ein lateinisches Motto von mir. Ich will damit sagen, dass ich eine andere Möglichkeit finden werde, Ihnen meine Dankbarkeit zu zeigen. Darauf können Sie sich verlassen.«