19
Das Salazar-Anwesen nahm das ganze Obergeschoss eines majestätischen, historischen Gebäudes zwischen dem Palacio Real und der Oper ein. Mit dem gewundenen und geschwungenen Stuck, der wie weißer Zuckerguss in der Sonne gebacken wurde, erinnerte der riesige Bau Mulcahy unweigerlich an eine Hochzeitstorte.
»Dir ist schon klar, dass das nur die Zweitwohnung ist«, raunte Martinez ihm zu, als sie von einem Mann mittleren Alters in einem anthrazitfarbenen Anzug – der Tracht moderner Butler, wie Mulcahy annahm – in ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer geführt wurden. »Don Alfonsos Familie hat auch noch ein nettes Haus in der Nähe des Retiro«, fuhr er fort. Von der geschäftigen Stadt, die sie umgab, merkte man nichts. »Aber wie ich gehört habe, ist es derzeit an einen russischen Milliardär vermietet.« Er lachte. »Die Familienresidenz ist sogar noch beeindruckender. Das ist der Palacio Salazar auf dem Land, in der Nähe von El Escorial. Was auch zeigt, wie lange die Salazars hier in Spanien schon ganz nah am Zentrum der Macht sind.«
Mulcahy verstand, was er sagen wollte. Das alte Machtsystem, das auf Familienzugehörigkeit, Vermögen und Privilegien basierte, war in Spanien noch allgegenwärtig, selbst wenn es hinter dem jugendlichen, vertrauenerweckenden Gesicht versteckt wurde, mit dem sich die Nation der Welt am liebsten präsentierte. Er sah sich um. Der Raum war sparsam, aber elegant eingerichtet. Alles von den geschnitzten Holzmöbeln bis zu den hellen Wandbehängen strahlte eine etwas verblasste Eleganz aus, als ob schon der Gedanke an eine Modernisierung verachtenswert wäre. In diesem Moment schwang die Tür auf. Martinez war sofort auf den Beinen, strich sich mit einer Hand den Anzug glatt und ging auf den großen, schlanken Mann zu, der mit beschwingten, herrischen Schritten hereinkam.
Mulcahy erkannte ihn sofort aus den Medien. Don Alfonso Mellado Salazar. Er trug einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, bei dem der Silberton der Nadelstreifen perfekt zu seinen Haaren passte. Er musste mindestens Anfang siebzig sein. Doch obwohl er nicht direkt vom Alter gezeichnet war, wirkte er doch etwas geschwächt. Sein dünnes, hohlwangiges Gesicht hatte etwas Falkenartiges und Gebieterisches an sich. Die silbernen Haare waren aus der breiten Stirn nach hinten gekämmt, darunter dominierten der hohe Nasenrücken, die eindringlichen, braunen Augen und die blassen, fleischigen Lippen. Seine Haltung war jedoch gebeugt und daher weniger furchteinflößend, als Mulcahy erwartet hatte.
»Don Alfonso, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie uns in Ihrem Heim empfangen.« Martinez war sehr formell, fast schon unterwürfig, als er mit gesenktem Kopf und ausgestreckter Hand auf Salazar zuging. Salazar nickte, ergriff die angebotene Hand und schüttelte sie herzlich.
»Einen guten Tag wünsche ich, Javier. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, sich persönlich darum zu kümmern.«
Obwohl er erst ein paar Stunden in der Stadt war, merkte Mulcahy, wie er sich in der Sprache wieder besser zurechtfand. Während des Mittagessens hatte er Martinez vorgeschlagen, dass sie ins Spanische wechseln sollten, und nachdem er etwa eine halbe Stunde mehr oder weniger gestammelt hatte, lief es nun wieder besser. Es reichte, um die Feinheiten des Gesprächs zu erfassen und überrascht festzustellen, dass sein Freund und Salazar sich mit Vornamen anredeten und der Ältere auch noch das vertraulichere »tu« benutzte. Ganz offensichtlich waren sie sich schon oft begegnet. Anscheinend war Mulcahy nicht der Einzige, dem Javier mit der Fahrt zum Flughafen einen Gefallen getan hatte.
»Dies ist der Polizeibeamte aus Dublin, Sir«, verkündete Martinez, als er Salazar durch den Raum führte. »Ein guter Mann und ein Freund von mir, Detective Inspector Mike Mulcahy.«
»Ja, ich habe von ihm gehört«, sagte der alte Mann. »Er wurde von den Botschaftsmitarbeitern sehr gelobt. Er spricht unsere Sprache, oder?«
»Einen guten Tag, Sir«, sagte Mulcahy. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Mein Spanisch ist alles andere als perfekt, ich hoffe aber, es reicht für die Befragung. Ich werde mein Bestes tun, um das Ganze für Ihre Tochter so unproblematisch wie möglich zu machen.«
Martinez hatte diese formelle Herangehensweise vorgeschlagen, doch Salazar interessierte sich nicht für Nettigkeiten.
»Der Mann, den Sie festgenommen haben, ist also derselbe, der meine Tochter überfallen hat?«, fragte er anklagend. »Wie ich gehört habe, soll er seitdem noch ein Mädchen ermordet haben – noch ein Kind. Ist das richtig?«
»Die Ermittlungen laufen noch, aber ja, der Verdächtige könnte die beiden Verbrechen und vermutlich noch mindestens ein weiteres begangen haben. Mehr können wir im Moment allerdings noch nicht sagen.«
Er schwieg, als Salazar missbilligend schnaufte und Martinez einen skeptischen Blick zuwarf, dem es allerdings ausgezeichnet gelang, so zu tun, als bemerke er ihn gar nicht. Bevor der alte Mann weitersprechen konnte, fuhr Mulcahy fort: »Wir hoffen, dass Ihre Tochter uns weiterhelfen kann, diesen Mann für immer hinter Gitter zu bringen.«
Einen Moment lang sah Salazar aus, als wollte er eine geringschätzige Bemerkung machen, doch dann senkte sich ein Schatten auf sein Gesicht, und er schien leicht in sich zusammenzusacken. Traurigkeit schien ihn erfasst zu haben. Er bot Mulcahy seine Hand an.
»Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen bedanken, weil Sie das Verhör unterbrochen haben, dem sich meine Tochter schändlicherweise unterwerfen musste, obwohl sie erst wenige Stunden zuvor überfallen worden war. Das hätte niemals passieren dürfen. Es war ein Skandal. Sie sollen jedoch wissen, dass ich Ihnen für Ihre Intervention sehr dankbar bin.«
Mulcahy war nicht sicher, was er darauf sagen sollte, weil es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Da er nicht sah, inwiefern es der Sache geholfen hätte, den Mann aufzuklären, schüttelte er schweigend die ausgestreckte Hand.
»Ich hatte gedacht, es wäre gut für sie«, fuhr Salazar fort, während er Mulcahy noch trauriger, fast schon resigniert ansah, was gar nicht dem unnahbaren Image entsprach, mit dem sich der Politiker in der Öffentlichkeit präsentierte. »Sie sollte ein paar Wochen Abstand von mir und der Politik gewinnen und sehen, wie normale Menschen leben. Also habe ich ihren Bitten nachgegeben, mit ein paar Schulfreundinnen nach Dublin gehen zu dürfen. Ich habe gedacht, es ist Irland, ein katholisches Land, da ist sie sicher. Ich hätte es besser wissen müssen.«
Mulcahy widerstand dem Drang, etwas darauf zu erwidern. Es war besser, einfach weiterzumachen und auf neutralem Boden zu bleiben.
»Darf ich fragen, wie es Ihrer Tochter inzwischen geht, Sir?«
»Danke, es geht ihr so gut, wie man es sich unter den gegebenen Umständen nur wünschen kann. Und wir sollten auch fortfahren. Je eher es erledigt ist, desto eher kann sie anfangen, das alles hinter sich zu lassen. Ich bringe Sie zu ihr.«
Salazar bat den Butler, seinen Besuchern den Weg zu zeigen, worauf sie durch eine Reihe geschmackvoll eingerichteter und trotzdem trostloser Flure gingen. Salazar blieb etwas zurück und verwickelte Martinez in ein leises Gespräch, von dem Mulcahy nur mitbekam, dass es um einen gemeinsamen Bekannten ging. Als der Butler schließlich eine Tür öffnete und sie hineinbat, fanden sie sich zu Mulcahys Überraschung in einem sparsam eingerichteten Wartezimmer wieder, in dem schon drei andere Personen saßen. An der Art, wie sie sich zu ihm umdrehten, und an ihren prüfenden Blicken erkannte er, dass sie wussten, warum er hier war.
Salazar stellte sie einander vor. »Inspector Mulcahy, darf ich vorstellen: Doktor Mendizabal, die Psychiaterin meiner Tochter, Señor Don Ruiz Ordonez, mein Anwalt, und äh …?«
»Die Polizeistenografin, Don Alfonso«, unterbrach Martinez ihn schnell. »Um das Gespräch mitzuschreiben, damit es als Zeugenaussage verwendet werden kann.«
»Ah, gut. Bitte, dann lassen Sie uns hineingehen.«
Mulcahy warf Martinez einen fragenden Blick zu. Er hatte nur zugestimmt, dass ein Psychiater beim Gespräch anwesend war und ein Stenograf natürlich auch. Aber was wollten die anderen hier? Martinez zuckte die Achseln, wusste auch nicht, wie er damit umgehen sollte, und überließ es so Mulcahy, die Leute an der Tür aufzuhalten. Dabei kam ihm die Psychiaterin zu Hilfe und erläuterte Don Alfonso behutsam, dass seine Anwesenheit seine Tochter zwar zweifelsohne beruhigen würde, sie aber gleichzeitig auch hemmen könnte, und der Anwalt ohnehin hinterher eine Abschrift der Stenografin lesen könnte. Weder Salazar noch Ordonez schienen glücklich darüber zu sein, doch Mulcahy und Dr. Mendizabal blieben hartnäckig. Mulcahy lächelte ihr dankbar zu, als sie durch die Tür in den Nebenraum gingen.
Der Samstag war nicht ruhiger geworden, so dass Siobhan keine Zeit gefunden hatte, den Hinweisen nachzugehen, die sie von Doherty bekommen hatte. Seit dem Ende der Konferenz war Griffin ihr mit seiner schlechten Laune auf die Nerven gegangen und hatte leise über die einzelgängerischen Entscheidungen des Herausgebers geflucht. Heffernan hatte eine totale Kehrtwende vollzogen und darauf bestanden, dass die Emmet-Byrne-Story nicht mehr gut genug für die Titelseite war.
»Der dämliche Wichser ist noch sauer auf Lonergan und den Generalstaatsanwalt«, murrte Griffin. »Der gönnt ihm den Erfolg nicht, obwohl die es wirklich verdient haben.«
Eine halbe Stunde später geriet eine Story in den Fokus, auf die Griffin schon die ganze Woche ein Auge gehabt hatte. Ein Rentner aus Cork, der schon vor ein paar Tagen als vermisst gemeldet worden war, wurde in einem Gebüsch nur dreihundert Meter von seinem Pflegeheim tot aufgefunden. Griffin witterte einen Knüller. Also hatte Siobhan stundenlang in der Nachrichtenredaktion festgesessen und an der Story gearbeitet, die in Häppchen von freien Mitarbeitern, Agenturen und all jenen hereinkam, denen sie am Telefon etwas über den erschreckenden Zustand von Irlands Altenheimen entlocken konnte. Zumindest würde ihr Name unter dem Artikel stehen.
Sie hatte fast alles erledigt und machte eine kurze Pause, als sie beim Überfliegen der AP-Meldungen auf ihrem Monitor etwas entdeckte, das sie veranlasste, in den lauwarmen Kaffee zu husten, an dem sie gerade nippte.
»Herrgott, Paddy, komm mal eben her. Hast du das gesehen?«
Griffin, der gerade am Telefon einen seiner Nachwuchsreporter zur Schnecke gemacht hatte, weil es ihm nicht gelungen war, Informationen über ein rattenverseuchtes Altenheim in Tubbercurry zu bekommen, knallte den Hörer auf die Gabel und kam mit von Stress gezeichnetem Gesicht zu ihr herüber.
»Was gibt’s?«
»Guck dir das an.« Sie deutete auf die Agenturmeldung, die sie auf dem Bildschirm geöffnet hatte.
15.35 Dublin: Gardaí weigern sich, einen Kommentar zu unbestätigten Berichten abzugeben, nach denen eine junge Frau gestern Nacht vor einem Club im Stadtzentrum entführt wurde. Sie erklärten nur, sie würden »sämtliche Aspekte des Vorfalls untersuchen«.
»Was ist damit?«, fragte Griffin.
Sie sah, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen, als wüsste er genau, worauf sie hinauswollte, hätte aber keine Lust mitzuspielen.
»Ach, komm schon, Paddy. Was ist, wenn es wirklich nicht Byrne war?«
»Und was ist, wenn irgendein Arschloch bei Associated Press eine totale Nullmeldung zu einem Riesenskandal aufblasen will?«, konterte er. »Du weißt genauso gut wie ich, was ›vor einem Club im Stadtzentrum‹ bedeutet. Irgendein Wichtigtuer, die Nase voller Koks und zu blöd, die Zeitung zu lesen, sieht, wie jemand seine Freundin etwas hart rannimmt, und ruft die Polizei. Und du weißt selbst, dass ›unbestätigte Berichte‹ sofort in der Ablage unter Dummes Zeug landen.«
»Und was ist, wenn doch was dran ist? Vielleicht steckt da draußen ein Mädchen in Schwierigkeiten.«
Griffin starrte sie an und schüttelte ganz langsam den Kopf. »Wenn ich danebenliege, wirst du mich kreuzigen, oder?«
»Das nächste Jahr lang auf jeden Fall, ohne jede Gnade.« Sie lächelte, dann stieß sie zu. »Außerdem werde ich es allen anderen erzählen. Es wäre das traurige Ende einer großen Karriere.«
»Du mich auch«, grunzte er, dann sah er zu Heffernans Tür. »Aber er mich erst recht. Also los, setz dich ans Telefon und guck mal, was du rauskriegst. Vielleicht springt ja noch eine Viertelspalte dabei raus. Frag auch deinen Kontaktmann bei der Polizei. Ich will wissen, ob Lonergan und seine Leute das überhaupt mitgekriegt haben. Wenn nicht, hau sie richtig in die Pfanne.«
»Danke, Paddy. Ich liebe dich – manchmal.«
»Ich glaub dir kein Wort«, sagte er und wandte sich ab, damit sie nicht sah, dass er grinsen musste.
Mulcahy hatte angenommen, dass sie in ihr Schlafzimmer gehen würden. Er war davon ausgegangen, dass es Jesica noch so schlecht ging, dass sie im Bett lag. Daher war er erleichtert, als er merkte, dass der Raum, in dem die Vernehmung stattfinden würde, ein ganz normales, bequem eingerichtetes Wohnzimmer war. Und dass Jesica Salazar sich inzwischen – wenige Wochen nach der Tortur – so weit erholt hatte, dass sie wieder auf den Beinen war. Sie kauerte in einer ausgebeulten, grauen Jogginghose, dazu passendem Kapuzenpullover und makellos weißen Turnschuhen auf einem kleinen Sofa und sah aus wie ein Mädchen, das versuchte, ein ganz normaler Teenager zu sein. Aber nichts, weder die langen Haarsträhnen, mit denen sie herumspielte, um sich dahinter zu verstecken, noch das große Kissen, das sie sich schützend an die Brust drückte, konnte die Blutergüsse verdecken, die ihr Gesicht immer noch stellenweise verfärbten und verunstalteten. Dazu kamen die großen, dunklen Tränensäcke unter ihren Augen. Sie schien bis in die letzte Faser misstrauisch zu sein, angespannter als eine Sprungfeder.
Die Psychiaterin fragte Jesica, ob sie Mulcahy erkenne. Das Mädchen musterte ihn besorgt, als ob sie etwas falsch gemacht hätte, und antwortete dann, dass sie das nicht täte.
»Wir sind uns in Dublin im Krankenhaus begegnet«, sagte Mulcahy. »Meine Kollegen wollten Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich habe dabei gedolmetscht.«
Jesica griff sich an den Hals. Mulcahy wusste nicht, ob die rote Schwiele dort und am Nacken noch zu sehen war, da der Kragen ihres geschlossenen Kapuzenpullovers diesen Bereich verdeckte. Aber offensichtlich sagten ihr die Worte etwas, denn sie nickte, antwortete knapp »sí« und senkte den Kopf.
»Wir haben ja schon darüber gesprochen, Jesica«, sagte die Psychiaterin. »Der Inspector muss dir ein paar Fragen stellen. Bist du schon so weit, dass du das hinkriegst? Was meinst du?«
Jesica antwortete nicht, hob den Kopf und fragte, ohne Mulcahy dabei direkt anzusehen: »Haben Sie mein Kreuz und die Kette gefunden?«
»Nein, das suchen wir noch.«
»Es ist von meiner Mutter«, sagte sie aufgebracht.
»Oh. Wir tun alles, um es zu finden.«
Wieder hob sie den Kopf, dieses Mal sah sie ihm direkt in die Augen und sagte wütend: »Er hat es, oder?«
In ihrem Blick lagen Schmerz, Angst und mehr als all das: Demütigung. Doch bevor er antworten konnte, ging die Psychiaterin dazwischen.
»Vielleicht sollten wir uns am Anfang um etwas Konstruktiveres kümmern.« Sie sprach schnell mit einem ihm unbekannten Akzent, daher musste er sich stark konzentrieren, um alles zu verstehen. »Man hat mir gesagt, Inspector, dass Jesica in ihren eigenen Worten erzählen sollte, was in der Nacht passiert ist. Vielleicht sollten wir erst einmal dabei bleiben.«
»Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich mich an nichts erinnern kann«, klagte Jesica. »Ich hab Ihnen doch schon alles erzählt.«
Der Zorn des Mädchens richtete sich offenbar mehr gegen die Psychiaterin als gegen ihn, also schwieg Mulcahy ein paar Sekunden lang. Als die Spannung sich etwas gelegt hatte, beugte er sich vor und sah Jesica in die Augen.
»Ich weiß, dass es schwer für dich ist, Jesica«, sagte er. »Aber wenn du mir so nichts erzählen kannst, darf ich dir denn ein paar Fragen stellen?«
Das Mädchen ließ sich erweichen. Langsam und vorsichtig begann er dann, die Fragen von der Liste zu stellen, die er sich gemacht hatte. Er fragte noch einmal nach ihrem Besuch im GaGa-Club, mit wem sie dort gewesen war und wann und mit wem sie ihn wieder verlassen hatte. Aber ob sie nicht wollte oder nicht konnte, auf jeden Fall war sie noch weniger in der Lage, die Fragen zu beantworten, als am Tag des Überfalls. Die wenigen Antworten, die sie gab, bekam sie nur sehr langsam und stockend heraus. Offenbar kehrten die schmerzlichen Erinnerungen nur sehr zögerlich zurück. Mulcahy hatte Mitleid mit ihr, weil sie anscheinend ihr Bestes gab, sich jedoch erkennbar dafür schämte, dass das Hauptaugenmerk seiner Fragen auf dem lag, was ihr passiert war. Mach einfach weiter, dachte er sich. Frag so lange, wie sie es aushält. Vielleicht würde ja trotzdem etwas dabei herauskommen. Er merkte jedoch, dass es ein langer, schmerzhafter Prozess werden würde.
Der Durchbruch erfolgte gegen halb fünf nachmittags. Nicht weil er oder Jesica etwas Bestimmtes gesagt hatten, sondern aufgrund einer Bemerkung der Psychiaterin, als sie und Mulcahy nach etwa vierzig Minuten, in denen sie so gut wie keine Fortschritte gemacht hatten, das Zimmer verließen. Den Tiefpunkt hatte sie kurz vorher erreicht. Er hatte Jesica die Fotos von Byrne gezeigt, die sie kaum ansah, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht weiß, wie er aussieht«, sagte sie nur.
Daraufhin hatte Dr. Mendizabal vorgeschlagen, eine Pause zu machen.
»Manchmal«, sagte sie, als sie den Raum verlassen hatten, »schützt sich das Gedächtnis in solchen Fällen vor unerträglichem Leiden. Nur wenn wir einen Weg finden, diese inneren Verteidigungsanlagen zu umgehen, haben wir eine Chance, an das Trauma heranzukommen.«
»Und wie umgeht man die?«, fragte Mulcahy.
»Na ja, in der Klinik würde man es zum Beispiel mittels Hypnose oder Hypnotherapie versuchen. In einem Fall wie diesem wäre das durchaus der nächste Schritt. Dann können Sie dem Gehirn befehlen, die Verteidigungsschirme sinken zu lassen. Es ist faszinierend, was man in der Trance noch alles findet. Dinge, die hinterher auch bei der Heilung hilfreich sind.«
»Denken Sie, dass das auch bei Jesica funktionieren würde?«
»Es ist eine Therapieform, die ich auf jeden Fall noch einsetzen will.«
»Bestände die Möglichkeit, das jetzt zu versuchen?«
Die Psychiaterin runzelte die Stirn. »Es würde Ihnen nicht weiterhelfen. Ich weiß zwar nicht genau, wie es in Ihrem Land gehandhabt wird, aber hier in Spanien dürfen Aussagen, die unter Hypnose gemacht werden, vor Gericht nicht verwendet werden. Dafür gibt es reichlich Urteile und Präzedenzfälle.«
»Das wird in Irland nicht anders sein, Doktor, aber wenn wir mit den üblichen Mitteln sowieso zu keinem sinnvollen Ergebnis kommen, ist die Gerichtsverwertbarkeit vielleicht gar nicht entscheidend. Wenn wir Informationen bekommen könnten, die die Beteiligung unseres Verdächtigen unzweifelhaft belegen, werden die Ermittler schon einen anderen Weg finden, diesen Beweis zu führen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Dr. Mendizabal dachte noch darüber nach, als Mulcahys Handy mit einem Piepton den Eingang einer SMS meldete. Er entschuldigte sich, trat einen Schritt zur Seite, öffnete sie und stellte überrascht fest, dass sie von Siobhan war.
Gestern Nacht wurde noch ein Mädchen entführt. Wird noch vermisst. Lonergan, Brogan etc. dementieren alles rundheraus. Ruf mich an!
Der Schock traf ihn wie ein unerwarteter linker Haken. Rinns Gesicht. Sofort hatte er ein Bild von Rinns Gesicht vor Augen, das die Leere in seinem Kopf ausfüllte. In der letzten Nacht hatte er zu grübeln angefangen, ob Rinn und Byrne womöglich als eine Art Team zusammengearbeitet haben könnten. Er hatte den Gedanken jedoch verworfen. Es hatte nie irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass an den Überfällen des Priesters mehr als eine Person beteiligt war. Mulcahy sinnierte immer noch darüber, als Dr. Mendizabal auf ihn zukam.
»Lo siento, Inspector, ist alles in Ordnung? Sie sehen etwas besorgt aus.«
»Ja«, war alles, was er sagte, bevor er sich daran erinnerte, mit wem er es zu tun hatte. »Doktor, haben Ihnen Jesicas Worte oder Reaktionen je den Eindruck vermittelt, dass sie von mehr als nur einer Person angegriffen worden sein könnte?«
Schon während er es sagte, fiel ihm ein, dass das Mädchen immer nur von einem Angreifer gesprochen hatte.
»Nein, niemals«, sagte die Psychiaterin. »Ich halte das auch für äußerst unwahrscheinlich, wenn man sich ansieht, was Jesica da angetan wurde. Es gibt zwar Sexualverbrecher, die als Paar zusammenarbeiten, das ist aber relativ selten. Und ich halte es für ausgeschlossen, wenn man sich Jesicas Verletzungen ansieht. Der Täter empfindet während so einer Tat keine Freude oder Lust, er lebt vielmehr einen Zwang aus. So etwas kann man auf psychologischer Ebene nicht mit einer anderen Person teilen. Diese Zwangshandlung kann nur die Person ausführen, die an der Zwangsstörung leidet. Sonst niemand. Können Sie mir folgen?«
Mulcahy nickte und versuchte, sich daran zu erinnern, was Siobhan von der Psychologin erzählt hatte, der sie ein paar Fragen geschickt hatte. »Klingt logisch.«
»Warum haben Sie das gefragt?«
»Ich habe gerade erfahren, dass in Dublin noch ein Mädchen vermisst wird.«
»Aber Sie haben doch schon einen Mann in Gewahrsam genommen?«
»Ja, Doktor«, sagte Mulcahy leise. »Fragt sich nur: Ist das wirklich der richtige Mann? Im Augenblick ist Jesica das einzige Opfer, das uns vielleicht weiterhelfen kann.«
»Allerdings sagt sie, sie hätte ihn nicht gesehen.«
Mulcahy rieb sich frustriert die Stirn, doch plötzlich blitzte die Erinnerung an seine Begegnung mit Jesica in Dublin wieder auf, als sie im Krankenhaus lag, die rote Strieme an ihrem Hals abtastete und verwirrt mit schmerzerfüllter Stimme sagte:
Hizo la señal de la cruz.
Da hatte er die Antwort. Mulcahy drehte sich wieder zu Dr. Mendizabal um, sah ihr direkt in die Augen und war sich sicher, dass sie ihn verstand.
»Als ich am Tag des Überfalls mit Jesica gesprochen habe, hat sie mir erzählt, dass der Angreifer sich bekreuzigt hat.«
»Und?«
»Verstehen Sie nicht?«, sagte Mulcahy und führte ihr die Geste vor, wobei er die Bewegung etwas übertrieben ausführte, als er mit der Hand die Stirn, die Brust und dann nacheinander beide Schultern berührte. »Wenn sie das gesehen hat, muss sie auch sein Gesicht gesehen haben. Selbst wenn sie sich jetzt nicht mehr daran erinnert.«
Als die Psychiaterin die Bedeutung dieser Worte begriff, strich sie mit der rechten Hand die weiße Baumwolle auf ihrer linken Schulter glatt. Mulcahy fragte sich, ob sie sich dieser Angewohnheit bewusst war, die er in schwierigen Situationen während der Vernehmung schon mehrfach beobachtet hatte.
»Natürlich muss ich mich in erster Linie um die therapeutischen Bedürfnisse meiner Patienten kümmern, Inspector«, sagte sie schließlich. »Und wir bräuchten sowohl die Erlaubnis von Don Alfonso als auch Jesicas Einwilligung. Aber ich denke, unter diesen Umständen könnte ich befürworten, es mit Hypnose zu versuchen. Jesica möchte Ihnen unbedingt helfen, und man sieht, dass ihr ihre Unfähigkeit, das zu tun, ernsthaft zu schaffen macht. Man könnte argumentieren, dass wir zu ihrer emotionalen Gesundung beitragen, indem wir ihr helfen, über das Erlebte zu reden.«
Zu Mulcahys Überraschung bot Dr. Mendizabal sogar an, zu Salazar zu gehen, ihm diese Vorgehensweise nahezulegen und seine Erlaubnis einzuholen. Kaum war sie weg, wollte Mulcahy Siobhan anrufen, brach dann aber ab und fragte sich, wie er denn auf den Gedanken kam. Steckte er etwa plötzlich mit ihr unter einer Decke? Also suchte er stattdessen Brogans Nummer heraus, wurde jedoch direkt an ihre Mailbox weitergeleitet. Er fluchte und legte auf. Aber welchen Wert hatte es überhaupt, sie anzurufen, wenn er bisher noch nicht einmal das kleinste Beweisfitzelchen für sie hatte. Er setzte sich schwer atmend auf einen Stuhl im Flur und überlegte, was er als Nächstes machen sollte. Wenn alles gut lief, war er vielleicht gezwungen, diesen Anruf doch noch zu machen. Und zwar schon bald. Im Moment jedoch wäre es idiotisch von ihm, seine Zukunft einer Mailbox anzuvertrauen.
Es dauerte nicht lange, bis Jesica in Trance war. Im gedämpften Licht des Zimmers hatte Mulcahy gebannt zugesehen, wie die Psychiaterin sie eingeleitet hatte, indem sie Jesica bat, sich aufs Sofa zu legen. Dann forderte sie sie auf, sich auf einen bestimmten Punkt an der Decke zu konzentrieren und sich zu entspannen. Sie erzählte ihr, dass ihre Augenlider jetzt langsam schwer würden, dann der Körper, die Gliedmaßen, eins nach dem anderen. Alles würde warm und schwer werden. Sie solle sich einfach entspannen, sich der Wärme und Ruhe hingeben, sich weiter entspannen, die Unruhe und das Leid der Welt vergessen, die Wärme und Schwere in ihren Gliedmaßen spüren, im Hals, im Kopf, sich entspannen …
Nach höchstens zwei oder drei Minuten lag das Mädchen ganz ruhig da, und die einzigen Lebenszeichen waren die sich langsam hebende und senkende Brust und die etwas unruhig flackernden, geschlossenen Augenlider. Mulcahy war überrascht gewesen, als Jesica dieser Prozedur so bereitwillig zugestimmt hatte. Aber vielleicht hielt sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen, das mentale Trauma anzugehen, nachdem die körperliche Heilung schon so weit fortgeschritten war.
Mulcahy sah zu, als die Psychiaterin ein paar kurze Tests durchführte, ob Jesica wirklich richtig in Trance war. Sie forderte Jesica auf, den Zeigefinger der rechten Hand zu heben, was diese dann auch tat. Dann erzählte sie ihr, dass sie keine Angst haben müsse und zwei Stimmen ihr Fragen stellen würden – ihre und die von Señor Inspector Mulcahy. Und dass sie immer dann den Zeigefinger heben solle, wenn etwas zur Sprache kam, bei dem die Erinnerung zu schlimm war.
Mulcahy hatte mit Dr. Mendizabal vorher ein paar Stichworte und Fragen abgesprochen und sie aufgeschrieben. Diese Liste, die sie noch mit ein paar Notizen versehen hatte, lag jetzt vor ihr. Mulcahy merkte, dass ihre Herangehensweise sich gar nicht so sehr von seiner Verhörtechnik unterschied. Zur Einführung stellte sie Jesica ein paar einfache Fragen: über die Reise nach Irland, wie ihr die Schule gefallen hatte und wer ihre Freunde gewesen waren. In dieser Phase konzentrierte Dr. Mendizabal sich ausschließlich auf positive Erlebnisse und mied alles, bei dem Jesica sich unwohl fühlen könnte. Mulcahy war überrascht, wie bewegt und ausdrucksstark die Gesichtszüge des Mädchens dabei waren – das sah man bei Menschen im Wachzustand eigentlich nie. Die Muskeln erzeugten ein verstohlenes Lächeln, konzentriertes Stirnrunzeln oder Zuckungen, die ihre Gefühle und Gedankengänge ganz direkt widerzuspiegeln schienen. Sie sprach fast immer mit der tonlosen, nasalen Stimme, die ihn an die wenigen Gelegenheiten erinnerte, als er Gracia im Schlaf hatte reden hören.
Langsam lenkte die Psychiaterin die lächelnde Jesica von ihren Freunden zum Tanzen. Erst zum Tanzen mit Freunden in Clubs, dann zum Tanzen mit Jungs und schließlich zum Tanzen in Dublin am fraglichen Abend. Wieder fiel Mulcahy auf, dass Dr. Mendizabal nie etwas Verstörendes wie »am Abend vor dem Überfall« oder auch nur »in dieser Nacht« oder sonst irgendetwas sagte, das einen Hinweis auf Jesicas späteres Martyrium gab. So hatte Mulcahy das Gefühl, fast jeden Augenblick mit ihr zu erleben, als sie den Club beschrieb, die Lichter, die Musik. Ein zufriedenes Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie erzählte, wie ein Junge, blond und attraktiv »wie Beck-ham«, selbstsicher auf sie zugekommen war und sie angesprochen hatte, worauf sie sich von ihren Freunden entfernt hatte.
Mulcahy kannte Patrick Scully nur aus den Videos der Überwachungskameras, trotzdem war er sprachlos von der Klarheit und Genauigkeit von Jesicas Beschreibung. Er fragte sich, ob Menschen unter Hypnose sich immer so klar ausdrückten. Obwohl Scully nicht mehr zu den Verdächtigen zählte, hatte er das Gefühl, dass dieser Verdacht gar nicht erst aufgekommen wäre, wenn sie diese Aussage von Jesica eher gehabt hätten. Aber das war jetzt reine Theorie: Es brachte nichts, verpassten Gelegenheiten nachzutrauern. Nicht jetzt, wo Jesica gerade erzählte, wie glücklich sie war, als Scully ihr vorschlug, dass er sie nach Hause begleiten würde, und in welcher Hochstimmung sie den Club verlassen hatte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie anfing, sich unwohl zu fühlen, als sie in Stillorgan an der Wand des Einkaufszentrums lehnten und er anfing, sie zu betatschen. Anfangs gefiel es ihr, selbst als er sie da unten berührte, aber dann wurde er immer zudringlicher, was ihr nicht gefiel und was sie ihm auch sagte. Doch dann versuchte er es noch einmal, und sie stieß ihn weg, worauf er wütend wurde.
Wieder fielen Mulcahy die lebhaften Veränderungen in Jesicas Miene auf, die Muskeln tanzten förmlich in ihrem Gesicht. Dr. Mendizabal sah ihn an und deutete auf Jesicas rechten Zeigefinger, der jetzt leicht zitterte und sich etwas über dem Niveau der anderen Finger befand. Mulcahy zog eine Augenbraue hoch, aber die Psychiaterin schüttelte den Kopf und deutete mit der flachen Hand an, dass alles in Ordnung sei. Mulcahy merkte, dass sie den Zeigefinger wie die Nadel eines Messgeräts für Jesicas Angstzustand verwendete.
Diese Angst blieb ziemlich stabil, als das Mädchen beschrieb, wie Scully sie hatte stehen lassen, dann nahm sie etwas ab, als gerechter Zorn und Enttäuschung die Oberhand gewannen. Jesica beschrieb, wie sie nach einem Taxi gesucht hatte. Mulcahys Hoffnung flackerte auf, erlosch aber sofort wieder, als sie sagte, dass sie keines gefunden und deshalb beschlossen hätte, zu Fuß zu gehen. Und so erzählte Jesica weiter, wie sie über Straßenkreuzungen ging, Scully verfluchte, an einer Videothek, einem 7-Eleven vorbeikam und dann eine Mauer und Tore passierte, die Mulcahy als die Kilmacud-Grundschule erkannte. Plötzlich erstarrte ihr Körper, ihre Gesichtsmuskulatur verzerrte sich vor Angst und Schmerz, und ihr Zeigefinger schnellte weiter nach oben, als er bisher gewesen war.
»Nein … nein!«, stöhnte sie mit brüchiger, verängstigter Stimme.
Weil er wusste, dass dies das Resultat der ersten Begegnung mit dem Angreifer sein musste, sah Mulcahy Dr. Mendizabal an, die auch ziemlich besorgt wirkte. Die Psychiaterin sagte zu Jesica, sie solle sich entspannen, ruhig bleiben, ihr würde hier nichts passieren, und das Mädchen hörte auf sie und beruhigte sich etwas. Dann forderte die Psychiaterin Jesica auf, keine Angst zu haben, sich umzusehen und zu beschreiben, was sie sah und spürte. Jesica fing wieder an zu erzählen. Als sie die Mauer hinter sich hatte, war ein Auto an ihr vorbeigefahren und hatte vor ihr angehalten. Mulcahy spürte die Anspannung schon, doch Jesica verstummte einen Moment lang, schob das Kinn etwas vor, als würde sie noch einmal genauer hinsehen, und sagte schließlich: »Nein, kein Auto, ein Lieferwagen.«
»Welche Farbe hat er?«, fragte Mulcahy, der gar nicht mit einer Antwort rechnete, aber dennoch eine bekam.
»Weiß«, sagte das Mädchen.
»Bist du sicher?«
»Ja.« Sie nickte energisch. »Er war weiß mit schwarzen Fenstern im Heck, auf denen sich die Straßenlaternen von gegenüber orange spiegelten.«
Mulcahy spürte, wie eine gewisse Erleichterung seinen Körper durchflutete, weil Byrne damit wieder zum Hauptverdächtigen wurde. Dann erinnerte er sich an ihre anfängliche Klarheit, und er überlegte, ob sie sogar noch genauere Angaben machen konnte – womöglich die Automarke oder sogar das Kennzeichen kannte.
»Ist eine Schrift auf dem Lieferwagen? Hinten oder an der Seite?«
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Oben auf dem Dach ist ein Schild. Quer rüber. Aber es ist zu dunkel, ich kann es nicht lesen.«
Die Erleichterung war schlagartig verschwunden und wurde durch Konfusion ersetzt. Bei Byrnes Lieferwagen war nichts auf dem Dach. Aber etwas anderes machte ihm wieder zu schaffen, nagte in seinem Hirn, bis die Erinnerung so massiv über ihn hineinbrach, dass er fast schon körperlich darunter zusammensackte: Er sah vor sich, wie Martinez ihn am Flugplatz von der Straße zurückriss. Das Taxi! Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Ein Kleinbus – ein Großraumtaxi. Was war, wenn Rinn sein falsches Taxischild auf einem Kleinbus montiert hatte? Er dachte verzweifelt darüber nach, was für ein Fahrzeug bei Rinns Verkehrsübertretung erwähnt worden war, kam aber nicht darauf. Er wollte dazwischengehen und Jesica weitere Fragen über das Schild stellen, doch Dr. Mendizabal bedeutete ihm zu warten und zeigte auf die Augen des Mädchens, die sich jetzt unter den fest geschlossenen Lidern wie Murmeln bewegten.
Plötzlich warf Jesica den Kopf in den Nacken, und ihre Schultern schnellten fast zehn Zentimeter hoch, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen.
»Er hat mich geschlagen, er hat mich geschlagen«, keuchte sie. Mulcahy kannte diese Worte aus der ersten Vernehmung. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen quollen aus ihren geschlossenen Augen. Doch die Psychiaterin brach die Hypnose noch nicht ab. Stattdessen sagte sie Jesica wieder langsam und ruhig, dass sie sich entspannen solle, dass sie sich selbst aus der Szene entfernen, sich darüber erheben und darauf hinabblicken solle. Das Mädchen nickte nur kurz und fuhr dann fort.
»Er schlägt mich«, sagte Jesica, jetzt mit abwesenderer Stimme. »Es ist dunkel, er hat mir etwas über den Kopf gestülpt, was so unangenehm riecht, dass ich würge. Ich krieg keine Luft, er schlägt mich wieder.«
Mulcahy versetzte sich in Jesica hinein, als sie erzählte, wie sie im Dunkeln gefallen war und in den Beinen und am Hinterkopf einen stechenden Schmerz verspürte, als sie in den Lieferwagen gestoßen wurde. Er erinnerte sich jetzt wieder, dass sie im Krankenhauszimmer gesagt hatte, der Angreifer hätte etwas über sie geworfen. Damit wollte er ihr offenbar die Augen verdecken, damit sie ihn nicht richtig sah. Aber das konnte nicht stimmen. Sie hatte gesagt, dass er sich bekreuzigt hatte. »Wie ein Priester.« Es war eine so lebhafte und anschauliche Beschreibung gewesen. Sie musste ihn gesehen haben.
»Das Bekreuzigen, Jesica«, flüsterte Mulcahy. »Du hast gesagt, er hätte sich …«
Er wollte die Frage stellen, als Dr. Mendizabal ihm die Hand vors Gesicht hielt und ihn besorgt ansah. Dann deutete sie auf den Zeigefinger des Mädchens. Er pendelte langsam auf und ab.
»Es hat aufgehört«, sagte das Mädchen mit zitternder Stimme von dem Schrecken, den sie gerade noch einmal durchlebt hatte. »Ich höre nichts außer dem Schmerz in meinem Kopf. Bin ich tot? Nein, ich höre, wie er sich bewegt, um mich herumkriecht wie eine Schlange, wie eine … aaaah.« Luft strömte aus Jesicas Lunge, als wäre sie wieder geschlagen worden, und ihre Hände schnellten zum Hals hinauf, als würde sie jemand würgen. »Nein, nein, Mama, nein, er darf mir nicht wehtun …«
Mulcahy musste den Blick abwenden. Er ertrug den Schmerz und die Angst nicht, die sich in ihrer Miene abzeichneten, all die nervösen Zuckungen und den Schrecken, als sie den Kampf noch einmal durchlebte. Sie erzählte, wie die Halskette nachgab, dann riss, wie sie wieder Luft bekam und lange, keuchende Atemzüge ihre Lunge erfüllten … Offenbar musste sie einen Moment lang ohnmächtig gewesen sein, weil sie nur beschreiben konnte, wie sie ganz entfernt wahrgenommen hatte, dass sie geschändet wurde, als grobschlächtige Finger ihre Oberschenkel auseinandergedrückt und ihre Kleidung zerschnitten hatten, bis sie schließlich angefangen hatte, sich zu wehren und allmählich immer heftiger gestrampelt hatte, worauf der Sack von ihrem Gesicht gerutscht war und …
Mulcahy sah Jesicas Gesicht sofort erwartungsvoll an und prüfte dann aus den Augenwinkeln, ob Dr. Mendizabal sie jetzt nicht unterbrach.
»Er beugt sich über mich, und ich kann wieder frei atmen, spüre die Luft in meinem Gesicht und höre auch … ja, ich höre, dass er ein Gebet spricht: ›Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name …‹ Er betet, starrt dabei auf mich hinab und bekreuzigt sich … wie ein Priester. Und er hält ein brennendes Schwert in der Hand, es glüht rot, so heiß ist es. Er betet über mir, betet und berührt mich mit dem Kreuz …« Das Mädchen schnappte nach Luft, ihr Körper erstarrte und schnellte dabei an der Hüfte wie ein Klappmesser nach oben. Sie stieß ein tiefes, schreckliches Stöhnen aus.
Mulcahy sah die Besorgnis im Gesicht der Psychiaterin, hörte, wie sie versuchte, das Mädchen zu beruhigen, und fragte, ob sie zurückkommen wolle. Doch Mulcahy konnte das einfach nicht zulassen, nicht jetzt, wo sie so nah dran waren.
»Beschreib uns sein Gesicht, Jesica. Erzähl uns, wie sein Gesicht aussieht«, flehte er.
Er sah einen Anflug von Panik im Gesicht der Psychiaterin, gefolgt von Wut. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, damit er aufhörte. Sie unterbrach Jesica aber nicht, da sie, die brave Jesica, schon angefangen hatte zu antworten.
»Kein Priester«, japste sie durch zusammengepresste Zähne, als ihr die Gesichtszüge vor Angst und Verwirrung entglitten und der Körper wie besessen zuckte. »Ein Teufel«, keuchte sie, als hätte sie etwas aus tiefster Seele heraufgeholt. »Er hat ein Teufelsgesicht, dünn und rot … die Augen brennen wie Feuer, und die Flammen der Hölle züngeln darunter … um sein Gesicht, auf seiner Haut. Alles lodert!«
Jesica zitterte jetzt vor Angst am ganzen Körper, und Dr. Mendizabal winkte energisch mit den Händen und forderte Mulcahy auf, ruhig zu sein.
»Das reicht«, sagte sie. »Es ist genug, Jesica, es war gut, sehr gut. Jetzt entspann dich wieder. Es war gut, du musst keine Angst haben. Atme tief durch …«
Als die Psychiaterin wieder zu Mulcahy hinübersah, lag in ihrem Blick kein Zorn mehr, sondern Erleichterung, und die überkam auch ihn, als ihm bewusst wurde, was das Mädchen gesagt hatte. Offenbar erkannte man das auch in seiner Miene, denn Dr. Mendizabal sah ihn jetzt mit fragendem Blick an, als wollte sie sagen: Ist alles in Ordnung?
»Nur eine Frage noch?«, fragte er tonlos. »Eine einfache. Versprochen. Die letzte.«
Sie erwiderte ebenso tonlos, aber mit strengem Blick: »Einfach?«
Er nickte.
»Gut«, sagte sie dann. »Jesica, du machst das sehr gut, ganz großartig. Der Inspector wird dir jetzt noch eine Frage stellen, dann ist es Zeit, dass du zu uns zurückkommst.«
Das Mädchen nickte fast unmerklich.
»Jesica«, sagte er, so sanft er konnte, »diese Flammen, die an diesem Mann, an diesem Teufel, gezüngelt haben, waren die auch in seinem Gesicht oder nur an seinem Hals?«
Mulcahy kannte die Antwort schon. Aber er wollte sie aus Jesicas Mund hören. Damit er ihr hinterher sagen konnte, dass sie – nur sie allein – die letzten vorhandenen Zweifel daran hatte zerstreuen können, wer ihr diese Schmerzen zugefügt hatte.
Mulcahy merkte gar nicht, dass er vor Erregung zitterte, bis er das Zimmer verließ und Martinez und Salazar sah. Salazar richtete sich schwerfällig auf und sah Mulcahy oder die Tür hinter ihm besorgt an.
»Wie geht es ihr, Inspector? Ist mit meiner Tochter alles in Ordnung?«
»Ja, Jesica geht es gut. Dr. Mendizabal hilft ihr, sich wieder zurechtzufinden.«
Salazar stieß einen so tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dass er schmaler zu werden schien. »Und haben Sie etwas Nützliches in Erfahrung bringen können?«
Auch Mulcahy atmete einmal tief durch und versuchte, das, was er gehört hatte, einzusortieren. Er wusste, dass er behutsam vorgehen musste, wenn er diese Informationen sinnvoll einsetzen wollte.
»Ihre Tochter ist sehr tapfer gewesen, Señor Salazar, und Sie können sehr stolz auf sie sein. Ich glaube, wir haben jetzt eine Teilbeschreibung des Täters, aber der Vorfall war offensichtlich so traumatisch …« Er brach ab, wusste nicht, wie viel er noch sagen durfte.
»Passt die Beschreibung auf den Verdächtigen, den Sie in Gewahrsam haben?«
»Das kann ich nicht genau sagen, Sir, da ich ihn noch gar nicht gesehen habe«, wich Mulcahy der Frage so gut er konnte aus. »Ich werde diese Informationen an meine Kollegen vor Ort weitergeben, die den Fall dort bearbeiten. Wollen Sie jetzt vielleicht zu Ihrer Tochter gehen, Sir? Sie hatte nach Ihnen gefragt.«
Salazar grunzte nur und ging direkt zur Tür. Mulcahy war erleichtert, keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen. Er zog sein Handy aus der Tasche und schaltete es an. Es piepte sofort. Siobhan hatte eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen. Sie sprach ohne Punkt und Komma, während der Dubliner Verkehr im Hintergrund rauschte:
»Herrgott noch mal, Mulcahy, wieso bist du gerade heute nicht erreichbar? Warum rufst du nicht zurück? Hast du meine SMS nicht gekriegt? Hör zu, offenbar wurde gestern noch ein Mädchen entführt. Mitten in der Stadt, direkt vor dem Twentyone Club in der D’Olier Street. Gleicher Tathergang und alles – aber Lonergan und Brogan erzählen mir nur, dass ich mich verpissen soll, es würde sich um einen Einzelfall handeln, der nichts mit den anderen zu tun hat. Du musst dich bei ihnen melden und ihnen sagen, dass sie die Sache ernst nehmen müssen. Womöglich ist da noch ein Mädchen in Gefahr, und die feiern immer noch ihren vermeintlichen Erfolg. Ruf mich zurück, ja? So bald wie möglich.«
Mulcahy legte auf und sah sich um. Der Glanz seiner Umgebung kam ihm inzwischen etwas surreal vor. Was meinte Siobhan denn, welchen Einfluss er noch auf Brogan hatte – oder gar auf Lonergan, dem er noch nie begegnet war? Und wer sagte, dass dieses neue Verschwinden irgendetwas mit dem Priester zu tun hatte? Was zum Teufel sollte er von Madrid aus machen? Aber der Gedanke, dass eine weitere junge Frau das durchmachen musste, was Jesica gerade beschrieben hatte, war einfach zu schrecklich, um Siobhans Nachricht zu ignorieren. Und er wusste, dass er jetzt, wo es draufankam, plötzlich rumeierte, seine eigene Zukunft über die Sicherheit des vermissten Mädchens stellte. Selbst wenn keiner wusste, ob tatsächlich ein Mädchen vermisst wurde.
Er griff zum Telefon, rief wieder Brogans Nummer auf, drückte auf Verbinden und rechnete damit, direkt zu ihrer Mailbox durchgestellt zu werden. Überraschenderweise meldete sie sich noch vor dem zweiten Klingeln.
»Ich habe gerade gehört, dass noch ein Mädchen entführt worden ist«, sagte er.
»Verdammt noch mal, Mulcahy«, fluchte Brogan leise in ihr Handy. Als glaubte sie, es mit einem Schwachkopf zu tun zu haben. »Vergessen Sie das, ja? Irgend so ein Säufer behauptet, er hätte gesehen, wie ein Mädchen in der D’Olier Street in einen Lieferwagen gezogen wurde. Ein anderer meint, es wäre ein Taxi gewesen. Und das war’s dann auch schon. Es gibt weder eine Leiche, noch ist ein mit Kreuzen übersätes Mädchen aufgetaucht. Es gibt nicht mal eine Vermisstenanzeige. Da macht die Presse aus einer Mücke einen Elefanten, wobei unklar ist, ob es diese Mücke je gegeben hat – und Ihre Freundin Fallon steht mal wieder an vorderster Front.«
»Vielleicht wurde das Mädchen nur noch nicht gefunden«, widersprach Mulcahy. »Die Letzte hatte er doch auch ziemlich gut versteckt, oder?«
»Klar. So gut, dass wir sie innerhalb weniger Stunden gefunden haben. Und dann sind wir losgezogen, haben ihn geschnappt und in eine Zelle gesteckt, wo er, als wir vor rund einer Stunde das letzte Mal reingeschaut haben, auch noch war, okay?« Sie seufzte verärgert. »Na ja, aber hatte Lonergan nicht gesagt, Sie wären heute in Madrid, um eine Aussage aufzunehmen? Sind Sie doch hiergeblieben?«
»Nein, bin ich nicht. Ich rufe aus Madrid an.«
Es entstand eine lange Pause.
»Haben Sie denn schon mit Jesica gesprochen? Hat sie ihn identifizieren können? Kommen Sie, Mike, reißen Sie sich zusammen.«
»Ich habe ihr Byrnes Fotos gezeigt. Sie hat ihn nicht erkannt.«
»Mist«, sagte sie. »Wir haben uns da ziemlich große Hoffnungen gemacht. Lonergan war anfangs gar nicht so scharf darauf, aber ich habe ihn überredet, es einfach zu versuchen.«
»Die Sache ist die, Claire, ich glaube, wir haben eine Teilbeschreibung einer anderen Person.«
»Einer anderen Person?«, wiederholte sie bestürzt. »Wer soll das denn sein? Was, um alles in der Welt, erzählen Sie da?«
»Es geht um den Mann, von dem ich Ihnen vor ein paar Tagen erzählt habe.«
»Den Taxifahrer?«
»Also, eigentlich ist er gar kein Taxifahrer, aber …«
»Nein, Mike, jetzt warten Sie mal. Ich unterbreche Sie jetzt sofort, weil Sie eine Sache in den Kopf bekommen müssen. Es gibt keine andere Person. Haben Sie das verstanden?«
»Hören Sie, Claire, wo jetzt noch ein Mädchen vermisst wird, müssen Sie doch einsehen …«
»Nein, ich muss überhaupt nichts einsehen.« Brogan war richtig wütend. »Ich sehe nur, dass Sie nicht mehr zu diesem Ermittlungsteam gehören, also halten Sie sich da gefälligst raus. Hören Sie, ich weiß nicht, warum Sie das tun, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich – als Kollegin und Freundin –, dass Fallon Sie an der Nase herumführt. Sie will nur eine schäbige Story auf der Titelseite ihres Schmierblatts sehen. Dabei interessiert sie überhaupt nicht, wie sie da rankommt und wen sie dafür benutzt. Sie ist mir und Lonergan den ganzen Nachmittag auf die Nerven gegangen, und jetzt, wo sie nicht weiterkommt, meint sie, Sie dafür einspannen zu können. Das wird jedoch nicht klappen, Mike, weil wir gegen Emmet Byrne heute Morgen in drei Punkten Anklage erhoben haben: Entführung, schwere sexuelle Nötigung und Mord. Und wissen Sie, wieso? Weil er gestanden hat. Er ist selbst damit herausgerückt. Ich war dabei.«
»Aber Siobhan sagt, er hätte das früher schon einmal …«
»Jetzt reicht’s mir aber!«, schrie Brogan ihn an. »Jetzt ist sie schon ›Siobhan‹, was? Was ist sie? Ihr verdammtes persönliches Orakel? Hören Sie, Mulcahy – Emmet Byrne ist unser Mann. Er und nur er allein. Jetzt werde ich auflegen und Ihnen den größten Gefallen tun, den man Ihnen je getan hat, und dieses Gespräch einfach vergessen. Okay?«
»Nein, Claire, legen Sie nicht auf. Hören Sie mir zu. Ich sage es Ihnen, Byrne ist nicht der Priester. Das ist alles ein …«
Doch die Leitung war tot. Brogan hatte ihm nicht mehr zugehört.
»Aber was ist mit der Zeugenaussage? Was ist mit Gracia?«, rief Martinez, während er Mulcahy die breite Treppe hinabfolgte.
»Das spielt jetzt keine Rolle, das können wir später klären. Du musst mich sofort zum Flugplatz fahren. Ich muss heute noch zurück nach Dublin.«
»Was kannst du da erreichen, was du nicht auch aus Madrid veranlassen kannst? Ruf deine Kollegen an und überlass denen das.«
Mulcahys Blick zeigte seine Entschlossenheit. »Was, bitte sehr, habe ich denn deiner Ansicht nach wohl gerade versucht?«
»Okay, aber es muss eine andere Lösung geben. Das dauert Stunden, bis du in Dublin bist.«
»Nein, Jav. Sie sind hundertprozentig überzeugt, dass sie den Richtigen haben. Sie begreifen einfach nicht, dass sie vollkommen danebenliegen.«
Martinez sah ihn zweifelnd an, doch Mulcahy hielt diesem Blick stand. »Ach komm, Jav, hör auf damit. Du weißt, wie das ist. Wenn ich irgendeine andere Möglichkeit sehen würde, würde ich sie nutzen. Ich sehe aber keine. Ich muss zurück. Kannst du jetzt bitte feststellen, wann ich fliegen kann?«
Martinez telefonierte auf dem Weg zum Wagen.
»Der letzte Flug nach Dublin geht um sieben«, sagte er, als er in seinen Mercedes stieg. Er sah auf die Uhr. »Wenn wir viel Glück haben, können wir es gerade noch schaffen. Bist du sicher?«
»Ja.«
Martinez bellte ein paar Instruktionen in sein Handy und klappte es dann zusammen. Als er den Motor anließ, ertönte ein hydraulisches Zischen, und das Faltdach des Autos schloss sich über ihnen. Martinez griff in den schmalen Schlitz hinter seinem Sitz und gab Mulcahy ein kleines Blaulicht.
»Setz das lieber aufs Dach, mein Freund. Wir werden es brauchen.«
»Komm schon, Siobhan. Der Artikel muss jetzt raus.«
Siobhan blickte von ihrem Monitor auf und sah, dass die Uhr 17.45 anzeigte, die Deadline für die erste Ausgabe. Sie stieß ein paar Flüche aus und klickte auf den Senden-Button.
»Gut, da hast du das Mistding«, rief sie Griffin zu. »Ist sowieso ein Haufen Dreck.«
Es war ihr nicht gelungen, die Sache auf den Punkt zu bringen. Sie hatte ihren Groll nur in einem etwas albernen, kleinen Kommentar über das unverantwortliche Handeln der Gardaí verarbeiten können, die die Berichte über die Entführung einer jungen Frau ignorierten und sich beharrlich weigerten, eine Verbindung zum Priester zu erkennen. Und schon den hatte sie nur mit viel Glück in die Zeitung bekommen. Sie war so sicher richtigzuliegen, dass sie davon richtige Bauchschmerzen bekam. Aber sie hatte noch nicht einmal konkrete Beweise dafür, dass wirklich eine Entführung stattgefunden hatte, abgesehen von einem Augenzeugen, den sie ausfindig gemacht und befragt hatte. Dadurch hatte sich allerdings ihre Überzeugung gefestigt, dass er die Wahrheit sagte, weil er ihr erzählt hatte, dass er einer der seltensten Spezies Dublins angehöre – den Abstinenzlern. Während sie die Sätze in den Computer hackte, musste sie die ganze Zeit daran denken, dass sich noch ein Mädchen in Gefahr befand und sie nichts dagegen tun konnte. Sie fühlte sich auf eine Art mies, wie sie es noch nie erlebt hatte. Es ging um viel mehr als nur eine Story, es ging um ein Menschenleben, und – sie sah sich in der geschäftigen Nachrichtenredaktion um – niemand schien sich dafür zu interessieren.
Offenbar nicht einmal Mulcahy. Da hatte sie ja einen tollen Verbündeten. Er hatte nicht zurückgerufen. Tja, wer brauchte den schon? Sie hatte die Ochsentour gemacht, war Nachrufe, Todesanzeigen und das Wahlregister durchgegangen. Sie hatte sich jede freie Minute darin vertieft, wenn Griffin ihr nicht auf die Finger geguckt hatte. Und jetzt hatte sie, was sie brauchte, und sie wollte verdammt sein, wenn sie ihr Wissen nicht nutzte. Aber wie sollte sie vorgehen?
Wieder ließ sie den Blick durch die Nachrichtenredaktion schweifen, und da, als hätte er sich gerade aus dem Nichts materialisiert, kam Franny Stoppard in die Nachrichtenredaktion geschlendert, ihr alter Kumpel und absoluter Lieblingsfotograf – mit diesen Worten würde sie jetzt jedenfalls auf ihn zugehen. Ein Bär von einem Mann, der wusste, wie man sich in schwierigen Situationen verhielt, nachdem er sich jahrelang Paparazzi hassende Prominente vom Hals halten musste. In seiner Nähe war sie sicher, und sie brauchte ihm nicht einmal zu erzählen, was sie suchte. Sie schnappte sich ihre Tasche, sagte nur kurz Griffin Bescheid, dass sie fertig und in einer Stunde für die Druckfreigabe zurück wäre, lief zu Stoppard hinüber und packte ihn am Ellbogen.
»Oh, Gott sei Dank, dass du da bist, mein Lieber. Ich muss noch was erledigen, und du bist der Einzige, der mir dabei helfen kann.« Trotz seines offensichtlichen Mangels an Begeisterung lächelte sie ihm strahlend zu. »Komm, vielleicht kriegen wir für die Spätausgabe noch den Knüller des Jahres hin.«
An einem Werktag hätten sie es nie geschafft. Aber heute waren die Straßen halbwegs frei, und Sirene und Blaulicht bahnten ihnen einen Weg durch den Verkehr, als Martinez wie eine Rakete aus Madrid schoss. Mulcahy verbrachte einen Teil der Fahrt damit, sich bei der Garda Transport Division in Dublin Castle über das Sirenengeheul hinweg telefonisch verständlich zu machen. Sie bestätigten schließlich, dass Rinn unter seinem Namen zwei Fahrzeuge angemeldet hätte: einen grauen Toyota Corolla, Baujahr 2003, und einen weißen Volkswagen Transporter, Baujahr 2005. Den Rest der Zeit verbrachte Mulcahy damit, sich heftig dafür zu schelten, dass er das nicht schon längst überprüft hatte.
Als sie von der Autobahn in Richtung Flugplatz abfuhren, sah Martinez auf die Uhr und fluchte. »Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Abflug.«
Er nahm sein Handy vom Armaturenbrett und ließ sich zum Sicherheitsdienst des Flughafens durchstellen, befahl dann demjenigen, den er am Telefon hatte, einen Wagen an das Diplomaten-Gate zu platzieren und den Tower aufzufordern, die Maschine festzuhalten, bis sie einen VIP-Passagier an Bord genommen hätten. Ein paar Minuten später bog Martinez auf einen Zubringer ein, der zu einem Tor im Maschendrahtzaun führte. Dahinter wartete ein Wagen mit gelben Blinklichtern, und ein Polizist hielt das Tor auf.
»Weiß der Geier, was für einen Ärger ich mir aufhalse, wenn sie rauskriegen, dass du kein Außenminister bist«, sagte er lachend.
»Ich bin überzeugt, dass du dich da schon wieder herauswinden wirst«, sagte Mulcahy. »Ist dir doch bisher auch immer gelungen.«
Martinez schob ihn voran. »Zeig ihnen deinen Pass. So viel Macht hab ich hier auch nicht.«
Mulcahy zeigte seinen Reisepass, wurde dann zum wartenden Sicherheitsfahrzeug geschoben und hineingesetzt, wobei eine Hand beim Einsteigen seinen Kopf herunterdrückte. Die Tür wurde zugeschlagen, und das Fahrzeug fuhr mit quietschenden Reifen an. Er wusste nur, dass er in der Luft und auf dem Rückweg nach Irland sein wollte. Sein Wunsch wurde schneller wahr, als er erwartet hatte, denn der Wagen raste über das Rollfeld und hielt dann abrupt neben der Aer-Lingus-Maschine. Dort stand ein weiterer Wachmann und deutete auf die Gangway und die offene Tür über ihm, von der eine Stewardess ihn hinaufwinkte.
Mulcahy eilte an Bord und bekam einen Platz sehr weit vorne. Noch bevor er sich hingesetzt hatte, rollte das Flugzeug schon Richtung Startbahn. Ihm fiel ein, dass er Siobhan nicht zurückgerufen hatte. Doch als er das Handy aus der Tasche zog, erschien die Stewardess vor ihm und forderte ihn auf, es auszuschalten. In diesem Moment stach ihm der kleine gelbe Umschlag am oberen Rand des Displays ins Auge, der anzeigte, dass er eine weitere SMS bekommen hatte. Er klickte auf Lesen, weil er wusste, dass sie von Siobhan war, und verscheuchte die protestierende Stewardess mit einer kurzen Geste.
»Du Mistkerl – ich hab ihn trotzdem. Rinn, Palmerston Park, stimmt’s?«
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass er sich in einem Flugzeug übergeben müsste.