Epilog
Mulcahy lehnte sich auf dem Heck der Seaspray zurück, das eingegipste Handgelenk auf ein Kissen gelegt, die linke Schulter fest, kompakt und relativ schmerzfrei in einer Kompressionsbandage, die er jetzt seit fast vierzehn Tagen täglich trug. Eine ausgekugelte Schulter, gerissene Bänder und eine Speichenfraktur am Handgelenk hätten ihm wirklich viel größere Schmerzen bereiten müssen, dachte er, doch einen Tag nach der Operation war er bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und wenn er jetzt aufpasste, keine hektischen Bewegungen machte und seine Entzündungshemmer nahm, spürte er allenfalls gelegentlich ein mittelschweres Stechen. Im Grunde sahen seine Verletzungen viel schlimmer aus, als sie es tatsächlich waren. Vor allem mit der Kevlar-artigen Bandage und der Handgelenksmanschette. Damit hätte er glatt in einem Science-Fiction-Film auftreten können – was seinem heutigen Segelkompagnon nicht entgangen war.
»Ahoi, Robocop, kipp dir das hinter die Binde, dann wirst du vielleicht ein bisschen lockerer und zeigst mir, wie man das Ding hier in Bewegung setzt«, sagte Liam Ford, als er ihm ein weiteres Bud reichte und sich so schwungvoll setzte, dass der Kiel an Backbord aus dem Wasser zu kommen drohte.
Mulcahy stieß ein verächtliches Grunzen aus. Sie konnten nicht mit dem Boot rausfahren. Mit der Bandage konnte er sich nicht einmal ans Ruder setzen, und Ford hatte keine Ahnung, wo beim Boot hinten und vorne war. Aber er war zufrieden, selbst so festgemacht im Yachthafen von Dun Laoghaire. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, eine Meeresbrise wehte ihm um die Nase, und er hielt ein kaltes Bier in der einen Hand, mit der er zugreifen konnte. Er schloss die Augen und ließ sich von der Hitze und dem Alkohol davontragen, bis das Rascheln von Zeitungspapier und ein Fluch ihn aus seinen Träumen zurückholte.
»Wie ich sehe, hat deine Freundin wieder zugeschlagen«, hörte er Fords dröhnenden Bass. Sein Freund deutete auf die riesige, rote Schlagzeile auf der Titelseite des Sunday Herald. MEINE KREUZIGUNGSHÖLLE, Teil II von Siobhan Fallon mit dem dazu passenden Foto. Nach zwei Wochen war es natürlich nicht mehr die wichtigste Story – diese Ehre wurde einem Politiker zuteil, der in einem Club in der Leeson Street beim Kokainschnupfen erwischt worden war. »Meine Güte, was meinst du, wird sie je damit aufhören?«
»Nicht bis sie auch noch den letzten Tropfen aus der Geschichte rausgequetscht hat«, sagte Mulcahy und lächelte über Fords jämmerlichen Versuch, ihn auf die Palme zu bringen.
Er hatte den Artikel schon gelesen, genau wie den ersten Teil vor einer Woche, und fand ihn insgesamt ziemlich gut. Wie sie ihn aus dem Krankenhausbett heraus in die Zeitung gebracht hatte, wusste er nicht. Er nahm an, dass sie ihn jemandem diktiert hatte. Und obwohl der Stil für seinen Geschmack etwas zu reißerisch war, fand er ihre Schilderung doch sehr eindringlich. Seltsamerweise waren sowohl Siobhans Artikel als auch die gesamte Berichterstattung im Herald vergleichsweise zurückhaltend gewesen, wenn man sie mit der in den anderen Zeitungen verglich, die sich wie ein ausgehungertes Wolfsrudel auf Rinn gestürzt hatten. Besonders als man von Seiten der Behörde hat verlauten lassen, dass Rinn vermutlich nicht vor Gericht gestellt werden würde, weil man ihn schon wenige Stunden nach seiner Festnahme in die Psychiatrie eingewiesen hatte und er jetzt für unbestimmte Zeit im Central Mental Hospital in Dundrum behandelt wurde. Sein Pflichtverteidiger hatte schon zu verstehen gegeben, dass jeder Versuch der Generalstaatsanwaltschaft, den Fall vor Gericht zu bringen, dazu führen würde, dass man Rinn für verhandlungsunfähig erklären ließe. Es herrschte auch die einhellige Meinung, dass dieser Einspruch einer gerichtlichen Überprüfung standhalten würde. Insbesondere nachdem die Nachforschungen bei Interpol ans Tageslicht gebracht hatten, dass Rinn über all die Jahre, die er als Lehrer im Ausland verbracht hatte, mehrfach wegen Schizophrenie und Körperverletzung aufgefallen war.
Daraufhin hatten sich die Medien wie die Geier auf Rinn gestürzt. Jede auch noch so versteckte Episode seines Lebens wurde bloßgelegt, zerfleddert und von halbseidenen Experten interpretiert. Niemand schien überhaupt zu bemerken oder sich gar dafür zu interessieren, dass Emmet Byrne hundertprozentig rehabilitiert aus der Haft entlassen worden war. Oder dass Catriona Plunkett und Shauna Gleeson, die beiden schwer verletzten Opfer Rinns, im Krankenhaus noch um ihr Leben kämpften. Die eine oder andere Zeitung hatte ihnen ein bis zwei Absätze gewidmet, doch der Rest trampelte einfach wie in einer Stampede über sie hinweg, um Rinn seine gerechte Strafe zukommen zu lassen.
Mulcahy verfluchte sie innerlich. Soweit er das beurteilen konnte, interessierten sich nur sehr wenige Journalisten für die Wahrheit – ihr Hauptziel war es, ihrer Stimme im Medienrummel Gehör zu verschaffen.
Natürlich machte sich auch Mulcahy seine Gedanken über Rinn. Während er nachts wach lag, weil der Schlaf ihm keine Ruhe brachte, dachte er gründlich über den Mann nach. Die meisten Gedanken führten allerdings ins Nichts. Jeder Psychiater hätte bestätigt, dass Rinn an Schizophrenie und Paranoia litt und in dem Glauben handelte, seine Anweisungen direkt vom heiligen Paulus zu bekommen. Doch das interessierte Mulcahy nicht. Ein Beweisstück jedoch schien ihm die Erklärung zu geben, nach der er suchte. Eins, über das die Zeitungen nicht berichtet hatten. Ein anonymer Gratulant hatte es ihm mit ein paar Genesungswünschen aus Kerry geschickt – offenbar ein Kollege von der Polizei, da es in einem Garda-Aktendeckel ankam: die Fotokopie des Berichts des tragischen Verkehrsunfalls, bei dem Sean Rinns Eltern im Jahr 1974 ums Leben gekommen waren. Er enthielt auch die Abschrift der Notizen der Polizisten, die als Erste etwa zehn bis fünfzehn Minuten nach dem Zusammenstoß am Unfallort eingetroffen waren. Demnach waren Rinns Eltern direkt bei dem Aufprall gestorben. Der kleine, gerade einmal sechs Jahre alte Junge war vom Rücksitz nach vorne geschleudert worden, wo er im leblosen Schoß seiner Mutter lag, als das Auto in Brand geriet und alles um ihn herum in Flammen aufging. Nur die Tapferkeit des anwesenden Garda John Reynolds hatte ihm das Leben gerettet – der sein eigenes Leben riskiert, sich ins Feuer gestürzt und den widerstrebenden, sich selbst in dieser Situation an seine tote Mutter klammernden Jungen herausgezogen hatte. In einer Fußnote am unteren Seitenrand wurde ergänzt, die Hitze wäre so groß gewesen, dass sich das kleine Kruzifix, das sich vom Hals der Mutter gelöst hatte, förmlich in die Handfläche des Jungen gebrannt hatte. Erst Tage später, nachdem sich der Zustand des Kindes stabilisiert hatte, konnte es durch einen chirurgischen Eingriff im Killarney District Hospital entfernt werden.
Das verstand Mulcahy. Und mehr brauchte er auch nicht. Das Entscheidende an der ganzen Sache war, dass Rinn eine junge Frau getötet und sechs anderen das Leben ruiniert hatte. Und natürlich, dass man ihn erwischt hatte. Das half Mulcahy durch die Alpträume und die nächtlichen Schweißausbrüche – denn nach dem Aufwachen wusste er, dass er Rinn gestoppt hatte.
Und das machte auch seinen aktuellen Status erträglich: Er war »bis zur Anhörung wegen eines schwebenden Disziplinarverfahrens vom Dienst suspendiert«. Zumindest bekam er die Gelegenheit, seinen Fall vor einer Kommission zu präsentieren und war nicht auf Brendan Healys Wohlwollen angewiesen. Das Haar in der Suppe war natürlich Cassidy. Der Sergeant war am Tag nach Rinns Festnahme ins Krankenhaus gekommen und hatte Mulcahy angefleht, ihn nicht bei der Innenrevision wegen der Weitergabe sensibler Informationen zu verpfeifen. Wenn »flehen« überhaupt das richtige Wort war für das missmutige, schmeichlerische Geschwätz, mit dem er sich zu rechtfertigen versucht hatte – unter anderem, dass er ja das Geld von Siobhan gar nicht genommen hätte, aber auch, dass Mulcahys Vater ihm vor Jahren vollkommen grundlos die Chance auf eine Beförderung versaut hätte. Mulcahy wusste jedoch, dass sein Vater immer ein guter Menschenkenner gewesen war – wahrscheinlich hatte er Cassidys Verdorbenheit sofort erkannt.
Trotzdem hatte Mulcahy das Gefühl, dass er den Sergeant jetzt nicht einfach in die Scheiße reiten konnte. Schließlich hatte der Mann ihm das Leben gerettet. Er war sich allerdings noch nicht sicher, ob er die Sache ganz fallen lassen sollte. Das musste er sich in Ruhe überlegen. Aber nicht jetzt. Dafür war später noch Zeit.
Ein Bild, das er nicht aus dem Kopf bekam, war das von Siobhan Fallon am Kreuz. Jede Nacht, wenn er im Bett lag, schwebte ihr an die rauen Bretter festgenagelter, nackter Körper über ihm, und ihr Blut prasselte auf ihn herab. Das Bild verfolgte ihn wie ein gemartertes Schreckgespenst. Selbst ein Besuch an ihrem Krankenhausbett hatte nicht geholfen, diese Erinnerung zu verscheuchen oder auch nur ein wenig abzumildern. Wenn überhaupt, war sie eher noch schlimmer geworden. Sie hatten sich vorwiegend peinlich berührt angeschwiegen. Siobhan hatte ihm nur widerwillig und erst nach längerem Zögern in die Augen gesehen und sich ein Lächeln abgerungen. Es war, als wären sie sich nie zuvor begegnet. Und dann, er war gerade fünf Minuten dort gewesen, war ein anderer Mann dazugekommen, ein älterer, etwas seltsam aussehender Gentleman mit einem riesigen Blumenstrauß – Vincent irgendwas, hatte er sich vorgestellt –, worauf Mulcahy sich verabschiedet hatte und gegangen war. Wie es aussah, war es Rinn in der Nacht doch noch gelungen, etwas zu töten.
Mulcahy spürte einen stechenden Schmerz in der Schulter, als er den Kopf hob, um den Blick über den Hafen und das ruhige Wasser der breiten Bucht schweifen zu lassen. Es fuhren nicht besonders viele Schiffe und Boote herein und hinaus, und er sehnte sich nach einer kühlen Brise auf seinem Gesicht und seinem Körper, die ihn von diesem Land und all dem Schmerz reinigte, der es erfüllte. Vielleicht hatte Liam recht. Vielleicht sollte er wirklich etwas lockerer werden.
»Was meinst du, kriegen wir das hin, wenn wir nur unter Motor fahren und uns nah an der Hafenmauer halten?«
»Meine Güte, er lebt wieder!«, lachte Ford. »Sag mir einfach, in welche Richtung es gehen soll, und wir fahren los.«