9

»Du findest doch selbst raus, oder? Ich muss dringend los.«

Er spürte den Druck ihrer weichen Lippen auf seiner Wange, aber als er die Augen geöffnet hatte, war sie schon weg. Er hob die Hand und schirmte damit das Licht ab, das durch die dünnen, ihm unbekannten Vorhänge hereinfiel, und sah gerade noch rechtzeitig zur Tür, um die weiße Bluse und ein paar marineblau bekleidete Oberschenkel aus dem Zimmer verschwinden zu sehen. Dann hörte er ihre Stimme noch einmal. »Ruf mich an«, gefolgt von ein paar fröhlichen Worten, die aber zu gedämpft und damit unverständlich waren. Und dann, ein paar Sekunden darauf, fiel die Wohnungstür ins Schloss. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Gracias Gesicht vor seinen Augen auf wie eine fehlgezündete Erinnerung. Dann folgte die glückliche Erkenntnis: Siobhan. Er hatte nicht geträumt.

Mulcahy rieb sich den Schlaf aus den Augen und stützte sich auf einen Ellbogen. Aus irgendeinem Grund ging ihm die Melodie eines schrecklichen Countrysongs nicht aus dem Kopf. Er sah sich im Zimmer um, während er langsam zu sich kam. Ihr Zimmer. Das Doppelbett mit der zerknitterten und angegrauten Federdecke nahm den größten Teil ein. Alle anderen Oberflächen waren mit Zeitungen, Zeitschriften oder knittrigen Kleidungsstücken bedeckt. In einem kurzen Erinnerungsfetzen fiel ihm wieder ein, wie sie mit verschmolzenen Lippen, aufeinanderprallenden Zähnen, die Hände überall am Körper des anderen, in die Wohnung gestolpert waren und sie sich – groteskerweise, atemlos – für die Unordnung entschuldigt hatte.

Er schwang seine langen Beine aus dem Bett, blieb einen Moment lang auf dem Rand sitzen und blickte erfolglos auf sein Handgelenk, um festzustellen, wie spät es war. Wo war seine Uhr? Dann sah er seine ordentlich zusammengelegte Kleidung auf einem Stuhl, die Jacke über die Lehne gehängt, die Schuhe nebeneinander darunter. Hatte er …? Niemals. Das musste Siobhan heute Morgen gemacht haben. Er lächelte über die Geste, mehr noch allerdings über die Eigentümlichkeit dieser kleinen Oase der Ordnung im ansonsten so chaotischen Zimmer. Dann entdeckte er dort auch seine Armbanduhr und griff danach. Erst sieben. Gott sei Dank! Wohin musste sie um diese Zeit so hastig? Er kannte die allgemeine, wenn auch etwas unspezifische Antwort: zur Arbeit. Und dahin sollte er sich auch begeben. Er nahm sein Handy aus der Jacke, ging ins Wohnzimmer und suchte nach einem Umschlag oder irgendetwas Ähnlichem, auf dem ihre Adresse stand. Auf dem Esstisch sah er einen Haufen Rechnungen mit vielen roten Zahlen. Die Telefonistin vom Taxiunternehmen versicherte ihm, dass in zehn Minuten ein Wagen vor der Tür stehen würde.

Punkt halb neun war er am Harcourt Square, nachdem er sich zwischendurch in seiner Wohnung geduscht, rasiert und frische Klamotten angezogen hatte. Das Taxi hatte er warten lassen, ein teures Vergnügen, aber er hatte Lust auf den kleinen Luxus. Außerdem hätte er sich ohnehin ein neues rufen müssen, weil er den Saab am Vorabend bei der Arbeit gelassen hatte. Als er wieder ins Taxi stieg, fühlte er sich lebendiger als in den letzten paar Wochen, außerdem war er voller Tatkraft. Es wurde Zeit, diesen ganzen Mist mit Brogan und Cassidy, diesem Arschloch, zu beenden, beschloss er. Jetzt zählte nur noch eins: Er musste dafür sorgen, dass der Fall abgeschlossen oder zumindest seine Mitarbeit daran beendet wurde, bevor Murtagh offiziell bekannt gab, dass die Stelle im Süden frei geworden war. Tja, und das würde er ganz bestimmt nicht dadurch erreichen, dass er irgendwo im Hinterzimmer Akten durchforstete, während die anderen draußen offenbar mit Scheuklappen herumstolperten. Er musste richtig Druck machen, ganz egal, ob denen das gefiel. Was könnte denn schlimmstenfalls passieren? Er würde ihnen so sehr auf die Nerven gehen, dass sie ihn zum Teufel jagten. Für ihn klang das nach einer klassischen Win-win-Situation.

Er traf Brogan im Flur, als sie gerade ins Meeting gehen wollte. Sie sah müde aus, etwas zerzauster als üblich – als ob der Druck ihr langsam zu schaffen machte.

»Claire, wegen gestern Abend.«

»Gestern Abend?« Sie sah ihm direkt ins Gesicht, gleichzeitig aber scheinbar durch ihn hindurch. Offenbar war sie in Gedanken woanders.

»Ja, das Theater mit Mr Cassidy …«

»Bitte, Mike, dafür habe ich wirklich keine Zeit.« Sie wollte um ihn herumgehen, doch er stellte sich ihr lächelnd in den Weg.

»Dann nehmen Sie sich welche, Claire. Denn ich hätte das Thema Religion nicht zur Sprache gebracht, wenn ich nicht der Ansicht wäre, dass das in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt. Ich meine wirklich, dass man ernsthaft darüber nachdenken und es nicht einfach abbügeln sollte, wie Sie es gestern getan haben.«

Ihre Antwort entsprach absolut nicht dem, was er erwartet hatte. »In Ordnung, Mike, womöglich haben Sie recht. Ich habe mir die Fotos von der gerichtsmedizinischen Untersuchung gestern Nacht selbst noch einmal angesehen und muss zugeben, dass da wohl etwas dran ist. Es klingt plausibel. Wie Sie schon sagten, wahrscheinlich wäre es gut, wenn wir uns das genauer ansehen. Direkt nach dem Meeting, okay? Dann unterhalten wir uns darüber. Aber im Moment muss ich mich erst einmal um das Chaos hier kümmern.«

Sie ging durch die Tür in den Besprechungsraum. Er folgte ihr. Mit ihrem Eintritt wurde es still. Mulcahy setzte sich hinten auf einen Stuhl und überlegte, wie es zu dieser Kehrtwendung gekommen war und welches Chaos sie meinte.

»Okay, etwas Ruhe jetzt, bitte«, fing Cassidy an. »Heute Morgen gibt es keine guten Neuigkeiten. Also hört zu, Kollegen, weil wir wieder einen langen, anstrengenden Tag vor uns haben.«

Mulcahy richtete sich auf und hörte ebenso aufmerksam zu wie die Gardaí vor ihm. Cassidy saß vorne und war gekleidet wie immer, er trug denselben grauen Anzug und hatte schmierige Haare. Brogan kauerte hinter ihm am Schreibtisch und blätterte mit vergrämter Miene in einem Aktenstapel herum.

»Okay«, fuhr Cassidy fort. »Wir haben also die Spurensicherung gedrängt, in der Nacht möglichst viele Untersuchungen durchzuführen, und, Wunder über Wunder, das haben sie auch getan.«

Ein sarkastisches Murmeln erhob sich, doch Cassidy unterbrach es mit einer kurzen Geste.

»Das ist ja auch alles ganz wunderbar, aber leider auch schon die einzige gute Nachricht. Um es kurz zu machen, wir haben nichts Eindeutiges, was Scully überführen könnte – zumindest unter den bisherigen vorläufigen Ergebnissen.«

Cassidy war im Verlauf der Ansprache merklich mürrischer geworden, jetzt runzelte er die Augenbrauen, und ein wütender Blick zeigte sich in seinem Gesicht.

»Also, das sind nicht nur schlechte Nachrichten. Aber was den Lieferwagen betrifft, haben wir ein Problem«, sagte er mit einem kurzen Blick zu Brogan. »Das liegt daran, dass einer der dämlichen Idioten drüben bei der Verkehrspolizei wohl Scheiße im Kopf hatte und gestern Nachmittag übersehen hat, dass der Patrick Cormac Scully, dessen Fahrzeug er gestern geprüft hat, neunzehnhundertsechsundfünfzig geboren wurde, nicht neunzehnhundertsechsundachtzig, wie wir es angefragt hatten.«

Die Polizisten vor Mulcahy sahen sich an, manche fragend, andere verstanden schnell, was passiert war.

»Ganz genau«, sagte Cassidy. »Der Lieferwagen gehört Scullys Vater, der mit Vornamen auch Patrick Cormac heißt und Klempner ist. Was, wie wir alle wissen, auch von uns hätte überprüft werden müssen – von dir, Hanlon, du blöder Esel.«

Alle im Raum sahen Donagh Hanlon an, der wiederum nicht wusste, wohin er den Blick richten sollte und daher zu Boden sah. Der Goldjunge von gestern lief tiefrot an. Unterdessen erhob Brogan sich vom Schreibtisch und bat wieder um Ruhe.

»Leute, das ist genau der nutzlose Mist, den wir gerade wirklich nicht gebrauchen können. Es hat dazu geführt, dass wir Scully junior fälschlicherweise als Eigentümer des Lieferwagens betrachtet und dies wiederum als Grund für die Durchsuchung des gesamten Grundstücks angeführt haben. Genau solch ein Formfehler könnte ein verdammter Anwalt vor Gericht dazu benutzen, uns wie einen Haufen inkompetenter Amateure dastehen zu lassen. So etwas geht einfach nicht. Das geht nie, aber ganz besonders bei einer Ermittlung wie dieser nicht. Also hört zu und nehmt es als Warnung: Überprüft alles doppelt und verlasst euch nicht darauf, dass etwas schon erledigt ist – weder von uns und schon gar nicht von jemand anders. Keine dummen Ausrutscher mehr, okay?«

Mulcahy betrachtete die nickenden Köpfe und sah den Ernst in allen Gesichtern, einen Ausdruck, in den sich bei Hanlon noch Beschämung mischte.

»Okay«, fuhr Brogan fort. »Aber das schließt natürlich keineswegs aus, dass Scully unser Mann sein könnte. Nur weil der Lieferwagen nicht ihm gehört, heißt das nicht, dass er ihn nicht benutzt haben kann. Vielleicht hat er ihn sich ausgeliehen, und da sein Vater Klempner ist, steigen die Chancen, dass er als Junge bei seinem Vater auf dem Schoß gelernt hat, wie man die Geräte benutzt. Außerdem kriegen wir inzwischen noch jede Menge andere Ergebnisse von der Spurensicherung herein, darunter auch die Untersuchung seiner Kleidung vom Labor. Also werden Andy und ich uns ihn heute noch in einem Verhör vorknöpfen. Mal sehen, ob die Nacht in der Zelle ihm das Lächeln aus dem Gesicht gewischt hat. Er ist immer noch unser Hauptverdächtiger. Wir werden ihm keine Pause gönnen. Wir müssen nur ein bisschen tiefer nachbohren, als wir gedacht haben. Okay?«

Wieder ein beifälliges Murmeln. Als Brogan und Cassidy anfingen, den anderen ihre Aufgaben für den Tag zuzuteilen, schweiften Mulcahys Gedanken ab, und er überlegte, was er Ibañez bei seinem vormittäglichen Anruf sagen sollte. Dem Spanier war gestern fast die Luft weggeblieben, als er von der schnellen Festnahme erfahren hatte. Mulcahy hatte zusätzlich noch Salz in die Wunde gestreut, indem er angemerkt hatte, dass sie den Täter ja leider nicht identifizieren könnten, weil das Mädchen nicht vor Ort war. Was sollte Mulcahy ihm jetzt sagen? Dass sie zwar keine neuen Erkenntnisse hatten, den Mann aber weiterhin in Gewahrsam hielten? Dass er ihnen bei den Ermittlungen half – aber eben nicht sehr viel? Das sollte er lieber vorher mit Brogan besprechen. Sie könnten Scully jederzeit wegen versuchten Drogenhandels anklagen und so vielleicht den Eindruck erwecken, dass sie doch irgendwie vorankamen.

Nach weiteren fünf Minuten beendeten sie das Meeting, und während die anderen verschwanden, sammelte sich eine kleine Gruppe um Brogan, die Fragen stellte und ein paar Einzelheiten besprach. Mulcahy ging in sein Büro, schaltete den Computer an, blätterte in den Akten herum, die er am Vortag auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen, und behielt Brogan im Auge, damit er mitbekam, wann sie Zeit für ihn hatte.

Er las eine Zeugenaussage von einem Taxifahrer, der vor einem Jahr in Rathgar Zeuge eines gewaltsamen Überfalls auf eine Frau geworden war, als ihm klar wurde, dass er seine E-Mails noch nicht gelesen hatte. Er öffnete den Posteingang und sah, dass eine lange Liste mit Antworten auf seine Anfragen an die Polizeireviere im Großraum Dublin hereingekommen war. Er sah auf die Uhr und dann zu Brogan hinüber, die in eine Diskussion vertieft zu sein schien. Er hatte noch ungefähr eine Dreiviertelstunde bis zum Anruf in der Botschaft. Er klickte auf die erste Mail und begann zu lesen.

In der Nachrichtenzentrale des Sunday Herald saß auch Siobhan an ihrem Computer. Ihre Finger flogen über die Tastatur, und auf dem Monitor reihten sich die Buchstaben zu Worten aneinander. Gelegentlich gingen ihr ein paar angenehme Erinnerungsfetzen der letzten Nacht durch den Kopf, doch sie ließ sich davon nicht ablenken. Die Haare gekämmt, das Gesicht geschminkt, die Lippen in einem glänzenden Purpurrot, da wäre keiner ihrer Kollegen – nicht einmal der gewiefteste, zynischste und erfahrenste Journalist – auf die Idee gekommen, dass sie die Nacht irgendwie anders als mit erholsamem Schlaf verbracht hatte. Vielleicht wäre ihnen eine gewisse Begierde in ihrem Blick aufgefallen, eine vor Konzentration gefurchte Augenbraue, ein paar kaum verborgene Begeisterungsfalten um ihre Mundwinkel, was sie womöglich als Anzeichen interpretiert hätten, dass sie gerade eine brandheiße Story am Wickel hatte.

Auf dem Weg zur Arbeit hatte sie darüber nachgedacht, ob sie im Blue Light bei Mulcahy zu schnell aufgegeben hatte. Aber sie hatte gemerkt – und war sich immer noch sicher –, dass Mulcahy sich niemals darauf eingelassen und ihr etwas über das Mädchen verraten hätte. Und auch sonst hätte sich nichts entwickelt, wenn sie nicht auf seine Bedingungen eingegangen wäre. Und das war es ja wohl auch wert gewesen. Sie konnte sich vorstellen, dass die Sache mit ihm weiterging, und darüber freute sie sich wirklich vorbehaltlos. Dann, kaum war sie im Büro, hatte den ersten Kaffee getrunken und den Computer hochgefahren – was hätte da anderes kommen können als die Bestätigung, dass sie trotzdem nicht vergessen durfte, an sich selbst zu denken.

Sie hörte die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter ab: »Diese Mitteilung ist für Fallon. Die Reporterin.« Es war eine harte, unfreundliche und eigenartig geschlechtslose Stimme – vor allem weil sie stark, wenn auch amateurhaft, verstellt war. »Ein Freund bei der Truppe meinte, Sie suchen Informationen über einen Fall, an dem ich arbeite. Über ein Mädchen aus Spanien. Ich kann Ihnen helfen, das kostet aber was.«

Der Anrufer wusste, was er tat, indem er ein paar saftige Häppchen hinterließ, um den Appetit zu wecken und zu zeigen, dass er wirklich etwas zu erzählen hatte. Dann machte er ein paar detaillierte Angaben über den Zeitpunkt seines nächsten Anrufs und was er für die Informationen verlangte. Siobhan spulte zurück und hörte sich den Anruf noch einmal an. Sie nahm an, dass es sich um einen der von Des Consodine erwähnten Gardaí handelte, der seine Beteiligung an den Ermittlungen zu Geld machen wollte, aber Angst hatte, direkt mit ihr in Verbindung zu treten. Einen Moment dachte sie an Mulcahy und seine verdammte Integrität, kam aber zu dem Schluss, dass sie ihn genau so wollte. Dann dämmerte ihr, dass ihr das sogar zugutekam. Die geringfügigen Bedenken, die sie gehabt hatte, eine Story zu verfolgen, die mit einem Mann zu tun hatte, mit dem sie ins Bett ging, waren jetzt vollständig verflogen. Er hatte ihr die perfekte Ausrede gegeben, indem er gesagt hatte, dass er der Letzte wäre, mit dem sie über diesen Fall reden sollte. Tja, das brauchte sie jetzt nicht mehr. Solange sie sich daran hielt, konnte sie nichts falsch machen.

Die meisten E-Mails, die Mulcahy als Antwort auf seine Anfrage bekommen hatte, waren nutzlos: kurze, abschlägige Auskünfte, dass sie vor Ort keine Informationen hätten, die den Angaben entsprachen. Diejenigen, in denen mehr Einzelheiten angeführt wurden, konnte man ebenso gut als negativ werten, da sie nichts Relevantes enthielten. Die Formulierung »religiöse Untertöne« hatte die Fantasie einiger Witzbolde und Einfaltspinsel in ein paar Revieren in und um Dublin strapaziert, was dazu führte, dass er sich durch einen Haufen Berichte wühlen musste, die alles Mögliche enthielten – von langatmigen Ermittlungen über eine Frau aus Cabra, die geradezu krankhaft in den päpstlichen Nuntius verliebt gewesen war (sie war eines Nachts in die Nuntiatur eingebrochen, worauf den unglücklichen italienischen Kleriker fast der Schlag getroffen hatte, als er aufwachte und sie neben sich schlafend entdeckte) bis zu einer stumpfsinnigen Liste von Einbruchdiebstählen in Kirchenräume im Bereich Santry während der letzten fünf Jahre. Alles andere waren im Großen und Ganzen die unvermeidlichen Nebenprodukte der kirchlichen Missbrauchsskandale des vergangenen Jahrzehnts: Gerüchte und Berichte über Priester, die des Missbrauchs von Kindern beschuldigt worden waren.

Nur ein Bericht stach heraus. Als er die knappe Zusammenfassung in der E-Mail überflog, fing sein Nacken an zu kribbeln. Dieses Kribbeln wurde stärker, als er die angehängte Seite aus einer Akte las. Es ging um einen gewaltsamen Überfall auf die neunzehnjährige Grainne Mullins aus Irishtown vor ziemlich genau einem Jahr. Sie war auf der Straße vor ihrem Haus von einem Mann angegriffen und hinter einen Busch gezerrt worden, wo er ihre Hände mit Kabelbindern gefesselt, sie gewürgt, sich vor ihr entblößt und ihr dann mit einem Messer zwei Kreuze in die Brust geritzt hatte. Abgesehen von diesem einseitigen Bericht fand sich am oberen Seitenrand nur noch die Bemerkung zum aktuellen Stand des Falls: Eingestellt.

Mulcahy griff zum Telefon und rief den Sergeant im Revier in Ringsend an, der die Mail an ihn weitergeleitet hatte. Er war im Dienst, konnte ihm jedoch kaum weiterhelfen. Die fragliche Akte sei auf Eis gelegt worden, nachdem der Detective, der das Mädchen vernommen hatte, kurzfristig zur Unterstützung in einer wichtigen Mordsache abgezogen worden war. Der Mann sei daraufhin befördert und versetzt worden – und der Fall offenbar irgendwie in Vergessenheit geraten. Erst vor ein paar Tagen habe man das im Zuge einer Routineprüfung sämtlicher unerledigter Fälle entdeckt.

»Und das Opfer hat sich zwischendurch nicht wieder gemeldet?«, fragte Mulcahy, der verblüfft war, dass ein so ernster Fall in Vergessenheit geraten konnte.

»Sieht wohl nicht danach aus, was?«, erwiderte der Sergeant.

»Aber als Detective Branigan versetzt wurde, lief die Ermittlung noch?«

»Wenn ich das richtig verstanden habe schon.«

»Und wie ist dann das ›Eingestellt‹ in die Kopfzeile geraten?«

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete der Sergeant. Man hörte einen Anflug von Bedauern in seiner Stimme, dass er so dumm gewesen war, noch einmal nachzuforschen. »Vielleicht hat Branigan es ja auch weitergeleitet und die Akte in der Eile falsch abgelegt. So was soll ja gelegentlich mal vorkommen, wissen Sie?«

»Schon möglich«, erwiderte Mulcahy, der nicht überzeugt war.

»Na ja, Sie von der Nationalpolizei vergessen leicht mal, wie das hier vor Ort auf den Revieren aussieht. Meistens geht es hier zu wie in einer verdammten Irrenanstalt. Wir haben viel zu viel Arbeit und viel zu wenig Leute. Vielleicht sollten Sie mal von Ihrem hohen Ross runterkommen und sich angucken, wie das hier abläuft.«

»Ja, alles klar«, sagte Mulcahy, der dem Mann kaum noch zuhörte, seit ihm klar geworden war, dass er ihm nicht mehr weiterhelfen konnte. »Trotzdem vielen Dank. Ich guck mal, ob ich da selbst noch was in Erfahrung bringen kann.«

»Tun Sie das«, antwortete der Sergeant gereizt. »Sie sind wahrscheinlich der Einzige, der Zeit dafür hat.«

Mulcahy legte auf. Er starrte immer noch die Adresse des Mädchens an. Wie standen die Chancen, dass sie noch da wohnte, wenn sie sich nicht wieder beim örtlichen Revier gemeldet hatte? Einen Versuch war es trotzdem wert – und vermutlich war es auch einfacher, als diesen Branigan aufzutreiben, der sowieso kaum etwas dazu sagen würde, wenn der Fall wirklich irgendwie unbemerkt durch den Rost gefallen war. Mulcahy schrieb sich gerade die Daten des Mädchens auf, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung vor sich sah und den Kopf hob. Brendan Healy stand in der Tür. Wie lange war er da schon?

»Sir?«, sagte Mulcahy automatisch.

»Ich dachte schon, Sie legen das Mistding gar nicht mehr aus der Hand«, sagte Healy und deutete aufs Telefon.

Er sah sich mit kritischem Blick im kleinen Zimmer um und schlug sich mit den Handschuhen, die er in einer Hand hielt, in die Handfläche der anderen, als suchte er einen Platz, wo er sich hinsetzen könnte. Doch dieses Problem könnte er sicher selbst lösen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Brendan?«

Healy runzelte die Stirn. »Der Minister ist bei mir gewesen.«

Mulcahy sah auf die Uhr. Noch gut fünf Minuten, bis er die spanische Botschaft anrufen sollte. Damit konnte es also nichts zu tun haben.

»Geht es um die Ermittlung?«

Healy nickte. »Heute Morgen hat ihn der spanische Botschafter angerufen und sich nach den Fortschritten erkundigt. Er sagte, man habe ihn gestern darüber informiert, dass wir jemanden in Gewahrsam genommen hätten. Waren Sie das?«

»Natürlich. Ich habe den Botschaftssekretär Ibañez gleich angerufen, nachdem Brogan mir das über Scully erzählt hatte. Sie hat gesagt, sie hätte das mit Ihnen besprochen.«

»Sagt sie das?«, erwiderte Healy kryptisch. »Tja, der Minister war nicht sehr erfreut darüber. Besonders dann nicht, als ich ihm erzählen musste, dass wir hinsichtlich dieser Person bisher so gut wie keine Fortschritte gemacht haben, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Mulcahy verstand es nicht nur, er versuchte schon herauszubekommen, was er denn nach Healys Ansicht dagegen tun sollte.

»Sie müssen ziemlich sicher sein, dass dieser Scully in die Sache verwickelt ist«, fuhr Healy fort.

»Das ist nicht mein Verdienst. Das war Brogans Arbeit. Ich persönlich habe mit diesem Teil der Ermittlung nicht viel zu tun gehabt.«

»Haben Sie nicht?« Die Falten in Healys Stirn vertieften sich. »Na ja, dann sollten Sie aber langsam mal in die Gänge kommen, bevor wir Ärger mit den Spaniern kriegen.«

Mulcahy biss die Zähne zusammen. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Nein? Also, es sollte da lieber keinen Ärger geben, Mike. Ich habe dem Minister gesagt, dass Sie heute Vormittag persönlich zum Botschafter gehen, um mit ihm zu reden und ihm mit aller Ihnen zur Verfügung stehenden Diplomatie zu erklären, warum er nicht damit rechnen soll, dass in nächster Zeit etwas Entscheidendes passiert. Und wenn Sie schon da sind, könnten Sie ihm auch klarmachen, dass Sie der offizielle Verbindungsmann für den Fall sind – auf ausdrücklichen Wunsch der Spanier, wie Sie wissen – und nicht etwa der Minister oder sein Sekretär. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir.« Was sollte man da missverstehen, dachte Mulcahy, dessen Laune sank. Also würde er hier noch ein paar Tage ausharren müssen.

»Gut. So, und wo ist Brogan?«

»Wahrscheinlich vernimmt sie den Verdächtigen unten im Verhörraum.«

»Okay. Ich schau da gleich noch mal rein – will mit eigenen Augen sehen, ob dieser Scully so schuldig wirkt, wie das alle behaupten.«

Siobhan ergriff ihre Handtasche und wollte schnell eine Tasse Kaffee trinken gehen, als das Pling! einer ankommenden E-Mail sie wieder an den Monitor zog. Sie setzte sich, und ihre Schultern sackten herab, als sie sah, dass sie von Vincent Bishop kam, an den sie an diesem Vormittag nicht einmal denken wollte. Trotzdem konnte sie der Verlockung eines möglichen guten Tipps nicht widerstehen, besonders weil der Betreff lautete: »Das wird Ihnen sicher gefallen …«

Sie klickte auf seinen Namen, und die E-Mail öffnete sich, war aber leer. Sie brauchte ein paar Sekunden, um festzustellen, dass sich im Anhang eine pdf-Datei befand. Dann klickte sie darauf und war perplex, als das eingescannte Bild eines Flugtickets von Dublin auf die Seychellen erschien. Abflugtermin war der nächste Montag. Auf ihren Namen. Daneben war eine Buchungsbestätigung für eine Woche in einem Hyper-Luxus-Urlaubsresort namens Banyan Tree. Die war allerdings nicht nur auf ihren Namen ausgestellt, sondern auch auf Bishops.

Der Schlag auf ihre Tastatur erregte in der Redaktion keine sehr große Aufmerksamkeit, die obszöne Schimpfworttirade aus ihrem Mund hingegen schon. Paddy Griffin zog eine Augenbraue hoch, stand auf und schlenderte von seinem Schreibtisch zu ihr.

»Was gibt’s?«, fragte er und beugte sich zu ihrem Monitor hinab.

»Ach verdammt, das interessiert dich nicht, Paddy. Glaub mir.« Sie schloss das Fenster, bevor er es sich ansehen konnte, und beendete dann auch noch hastig das Mail-Programm. »Da will mich bloß jemand verarschen.«

»Inwiefern?«, fragte er enttäuscht. Offenbar glaubte er ihr nicht.

»Vergiss es. Es ist wirklich nichts. Mach schon, zurück an die Arbeit mit dir«, sagte sie, schob ihn etwas beiseite und stand auf. »Ich wollte gerade einen Kaffee trinken gehen, soll ich dir einen mitbringen? Ich lad dich ein.«

Griffin, der noch abhängiger von der täglichen Dröhnung Kaffee war als sie, lächelte, nickte kurz und ließ sie vorbei. Erst draußen auf dem Burgh Quay ließ Siobhan ihrem Zorn wieder freien Lauf. Sie verschwand um die Ecke in eine Gasse, die so gut vom Verkehrslärm abgeschirmt war, dass sie ihr Handy benutzen konnte. Als sie sich mit dem Rücken an die Backsteinwand lehnte, zitterten ihre Hände. Sie stieß auf die Kurzwahltaste mit Bishops Nummer, wollte die Situation unbedingt wieder unter Kontrolle bekommen.

Er meldete sich sofort.

»Hi, Siobhan …«

»Vincent, was um alles in der Welt bilden Sie sich ein?«