16

Pater Touhy, der Gemeindepfarrer von St. Imelda in Chapelizod, sah aus, als hätte er seinen siebzigsten Geburtstag schon vor langer Zeit gefeiert. Ein schwacher, leicht gebeugt gehender Mann mit einem blassen, freundlichen Gesicht über der schwarzen Robe und einem so weißen Haarschopf wie die Blume auf einem Glas Guinness. Er hatte vorab nur eins wissen wollen – »Sind Sie die junge Frau, die im Fernsehen diese Frage gestellt hat?« – und sich dann, als sie das bejahte, bereit erklärt, mit ihr zu sprechen. Siobhan hatte ihn auf gut Glück einfach mal angerufen. Seine Kirche war abgeschlossen und wurde schon von Reportern und Kamerateams belagert, die draußen bis auf die Straße standen. Eine ganze Journalistenmeute war sofort dorthin geeilt, als der Garda-Pressesprecher auf eine Frage in der Pressekonferenz geantwortet hatte, dass Emmet Byrne, der Verdächtige im Priester-Fall, tatsächlich eine Verbindung zur katholischen Kirche habe – er arbeite halbtags als Gärtner für die Gemeindekirche St. Imelda in Chapelizod.

Als sie sah, dass alle schon vor Ort waren, forderte Siobhan den Taxifahrer auf weiterzufahren. Vor allem weil sie sah, dass Anne-Marie Cowen von den RTE-Nachrichten einen Bericht in eine Kamera sprach – und sie keine Lust hatte, mit ihr zu reden. Auch gut. Nach einem kurzen Telefonat ließ der Gemeindepfarrer sie durch die Hintertür eines winzigen angebauten Presbyteriums um die Ecke hinein und bot ihr eine Tasse Tee an. Er wäre froh, dass sie ihn angerufen hätte, sagte er, da er leider davon überzeugt sei, dass mehr als göttliche Intervention vonnöten wäre, um die Gardaí zu überzeugen, dass sie mit dem »armen Emmet« den Falschen erwischt hätten. Emmet war ein Mann, wie Pater Touhy versicherte, an dem sich mehr Menschen versündigten, als er selbst sündige.

Siobhan sah auf die Uhr, wollte unbedingt vorankommen, weil sie davon ausging, dass ihr höchstens eine halbe Stunde blieb, bevor der Rest der Meute merkte, wo das Presbyterium war, und sich bis zur Tür durchkämpfte. Der alte Pfarrer sah jetzt schon so aus, als würde er jeden Moment vor lauter Anstrengung in Tränen ausbrechen. Er gab auch sofort zu, dass er besorgt wäre. Ein katholischer Geistlicher sei dieser Tage in Irland schließlich nicht der beste Fürsprecher für einen Mann, den man eines Sexualverbrechens bezichtigte, von Vergewaltigung und Mord ganz zu schweigen. Ganz so naiv war er dann also vielleicht doch nicht.

»Ich bin überzeugt davon, dass die Leute die Meinung eines alteingesessenen Gemeindepfarrers wie Ihnen respektieren«, sagte Siobhan. »Auf jeden Fall werden sie hören wollen, was Sie über Byrne zu erzählen haben. Inwiefern sie das dann glauben, muss man dann wohl ihnen überlassen.«

Sein Lächeln verriet ihr, dass er verstanden hatte, was sie sagte. »Glauben Sie, ich würde ihn hier arbeiten lassen, wenn ich nicht hundertprozentiges Vertrauen in ihn hätte? Er ist ein guter Mann. Sehr freundlich und zuvorkommend. Wenn ich ganz ehrlich bin, allerdings auch etwas schwer von Begriff. Und genau das ist das Problem – seine Freundlichkeit kann manchmal zu Fehlinterpretationen führen.«

»Fehlinterpretationen?«, sagte Siobhan, die sofort ihre Antennen ausfuhr. »Wie genau meinen Sie das, Pater?«

»Na ja, Sie wissen schon, wie beim letzten Mal, als er festgenommen wurde.«

Sie hätte sich fast an ihrem Pfefferkuchen verschluckt, konnte es aber gerade noch durch ein Husten verbergen.

»Entschuldigung, Pater, da muss ich mich etwas verschluckt haben. Was sagten Sie über eine Festnahme?«

»Ja, er wurde festgenommen«, sagte Pater Touhy. »Wegen Missbrauchs an diesem Kind. Eine schreckliche Sache war das.«

»Ein Kind?« Sie versuchte, die Teetasse so behutsam auf die Untertasse zu stellen, dass es nicht klirrte. Obwohl sie allen Heiligen im Himmel dankte, dass sie daran gedacht hatte, ihr Diktiergerät anzustellen, griff sie für alle Fälle nach ihrem Notizblock. Zum zweiten Mal in dieser Woche fragte sie sich, ob sie wohl in die Reihen der Gesegneten aufgenommen worden war. Konnte das Schicksal noch netter zu ihr sein?

»Haben Sie das gar nicht gewusst?«, fragte Pater Touhy sie etwas geziert, wie sie fand.

»Nein, die Polizei hat diese Information noch nicht bekannt gegeben. Das verändert das Gesamtbild dann aber schon ein wenig, finden Sie nicht auch?«

»Ja und nein«, sagte der Pfarrer und rieb sich frustriert die rasierten Wangen, wodurch er weit weniger naiv aussah. »Ich erzähle Ihnen das nicht nur deshalb, weil es sowieso herauskommen wird, sondern weil die Leute wissen sollen, dass er es nicht getan hat. Es war die furchtbare, rachsüchtige Beschuldigung eines jungen Mädchens, das Emmet in Schwierigkeiten bringen wollte und genau wusste, wie man das macht. Zum Glück hat ihre Mutter die Wahrheit herausbekommen, bevor es zu spät war. Gegen Emmet ist nie Anklage erhoben worden.«

»Sie wissen doch, was die Leute sagen werden, Pater«, wandte Siobhan ein und dachte schon, während sie sprach, über den Artikel nach. »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹.«

»Deshalb brauche ich Ihre Hilfe«, sagte er, »weil es viel zu einfach für die Polizei sein wird zu behaupten, er hätte ein Geständnis abgelegt.« Er brach ab, rieb sich mit seiner blassen Hand das Kinn und taxierte sie mit seinen kleinen Augen.

»Ein Geständnis abgelegt?« Inzwischen war Siobhan sich nicht mehr sicher, wer hier wen ausnutzte, es interessierte sie aber auch gar nicht richtig. Die Story wurde von Sekunde zu Sekunde besser.

»Ja«, sagte Pater Touhy. »Beim letzten Mal wollten sie die Sache nicht fallen lassen, obwohl die Anklage zurückgezogen worden war. Der Garda, der ihn festgenommen hat, behauptete nämlich, Emmet hätte gestanden. Am Ende kamen sie damit aber nicht weiter, weil er dieses vermeintliche Geständnis abgelegt hatte, bevor sie ihn über seine Rechte aufgeklärt hatten. Sie mussten ihn laufen lassen, auch wenn es ihnen nicht passte.«

»Und Sie glauben, dass sie deshalb …?«, Siobhan wurde immer leiser, hoffte, dass er den Satz für die Aufnahme vervollständigte.

»Ja.« Pater Touhy tat ihr den Gefallen. »Ich bin davon überzeugt, dass sie nur aus diesem Grund wieder bei ihm angeklopft haben – weil sie darauf hofften, ein schnelles Geständnis zu bekommen. Emmet hat da ein Problem – bei Gott, ich muss es ja nun wirklich wissen. Er beichtet einfach gern Dinge, die er nicht getan hat. Weil er glaubt, dass er damit bedeutender erscheint. Ein paar von diesen Dingen, die dann dabei rauskommen, klingen ziemlich seltsam, wenn man ihn nicht kennt. Doch er meint das nicht böse. Wenn Sie ihn kennen würden, wüssten Sie, dass er zu so etwas gar nicht in der Lage wäre.«

Siobhan wusste nicht recht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. »Ich unterbreche Sie nur ungern, Pater«, sagte sie so behutsam wie möglich, »aber nach den Gerüchten, die ich gehört habe, steckt Emmet in weitaus größeren Schwierigkeiten. Ehrlich gesagt habe ich nichts von einem Geständnis gehört. Vielmehr hat die Polizei behauptet, sie hätten gerichtsmedizinische Beweise, und mehr kann man in solch einem Fall wirklich nicht erwarten. Ich glaube, Sie sollten sich eher darauf vorbereiten.«

Sie überschlug es schnell im Kopf: Es war Freitagnachmittag, sie brauchte also nur sechsunddreißig Stunden zu überstehen. Wenn sie die Information über Emmets vorherige Festnahme exklusiv für ihre eigene Titelseite behalten konnte, wäre das ein spektakulärer Coup. Außerdem tat ihr der alte Pfarrer doch ein bisschen leid.

»Hören Sie, Pater, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Ich würde das sonst niemandem gegenüber erwähnen. Wie Sie schon sagten, wird es wahrscheinlich sowieso irgendwie herauskommen. Aber es hat keinen Sinn, den Leuten einen Stock in die Hand zu geben, den sie doch nur dazu benutzen würden, auf Emmet einzuprügeln. Sie können sich ja vorstellen, wie schlecht diese Information für ihn wäre, sollte sie in die falschen Hände geraten.«

Seine nächsten Worte überraschten sie.

»Aber bei Ihnen ist sie in den richtigen Händen, Siobhan, oder?«

Wenn sie sich nicht so aufwendig geschminkt hätte, hätte er sehen können, dass sie bis zu den Haarwurzeln errötete.

»Ich hätte erwartet, dass Sie Rinn jetzt, wo Sie diesen anderen Kerl geschnappt haben, vergessen«, sagte Brennan, nachdem Mulcahy sich am Telefon gemeldet hatte.

»Da haben Sie natürlich recht«, erwiderte Mulcahy, der dazu nicht viel sagen wollte. »Sie wissen ja, wie das läuft. Das ist zwar jetzt der Schwerpunkt der Ermittlungen, trotzdem verfolgen wir auch andere Spuren.«

Brennan schien nicht vollkommen überzeugt zu sein, aber sein tiefsitzender Wunsch, dass jemand, egal wer, Rinn Daumenschrauben anlegte, reichte offenbar, um darüber hinwegzugehen.

»Gut. Also, ich habe meinen alten Freund angerufen, wie Sie mich gebeten hatten«, sagte Brennan schließlich und atmete hörbar aus wie ein Mann, der beschlossen hatte, dass man manchmal die Regeln beugen musste, um zu einem Ergebnis zu gelangen. »Ich hatte gedacht, die Tatsache, dass er seit Jahren pensioniert ist, würde ihm vielleicht etwas die Zunge lockern, musste aber feststellen, dass sich vermutlich eher in seinem Gehirn etwas gelockert hat. Er konnte sich kaum noch an mich erinnern, von Sean Rinn ganz zu schweigen.«

Mulcahy wartete, dass Brennan fortfuhr, und hoffte, nicht nur seine Zeit zu verschwenden. Brennan klang jedoch, als ob er tatsächlich etwas für ihn hätte.

»Seine Frau hat mir dann die Nummer von einem Kollegen gegeben, mit dem er damals zusammengearbeitet hat. Er heißt Tommy Casey.« Der Sergeant gluckste. »Ich habe ihn angerufen, und wie sich herausstellte, kannten wir uns von ganz früher, und danach war er dann etwas hilfsbereiter. Er erinnerte sich gut an Rinn und die ganze Aufregung in Drumcondra. Muss wohl doch schlimmer gewesen sein, als ich dachte. Laut Tommy wurde Rinn nach einem Zwischenfall mit jemandem vom Personal aus All Hallows rausgeschmissen.«

»Ein Zwischenfall? Reden wir von einer Misshandlung?«

»Ja, aber es war nichts Sexuelles. Es gab einen Streit – mit einem Mann, glauben wir. Die Details wusste Tommy auch nicht mehr. Nur dass Anzeige in der Drumcondra-Garda-Station erstattet wurde, die bald darauf wieder zurückgezogen wurde. Dazu kamen Gerüchte, dass ein Batzen Geld den Besitzer gewechselt hat, worauf die ganze Sache unter den Teppich gekehrt wurde.«

»Klingt eigentlich fast wie das, was Sie mir letztes Mal schon erzählt haben«, sagte Mulcahy.

»Absolut nicht«, sagte Brennan. »Ich dachte immer, er wäre wegen irgendeiner Geschichte in Donegal aus dem Seminar geflogen. Aber dieser ›Zwischenfall‹ hat sich hier, im All Hallows College in Dublin ereignet. Tommy meinte, dass der andere Kerl, mit dem Rinn aneinandergeraten ist, selbst aus dem Norden kam. Aus Gweedore, um genau zu sein. Von dort stammte ja auch Rinns Großvater, der Richter am High Court. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

»Und weiter«, fragte Mulcahy und dachte an das Ölgemälde in Rinns Haus.

»Tommy meinte, es hieß damals, eine riesige Summe hätte den Besitzer gewechselt. Und das alles wegen einer Schlägerei? Ist doch ziemlich unwahrscheinlich, oder? Außerdem ist Rinn aus dem Seminar geflogen. Das wäre doch eine absolute Überreaktion, wenn man davon ausgeht, dass die meisten von den Seminaristen sowieso ein bisschen überdreht waren. Ich meine, sie lebten im Zölibat, hatten also keine Möglichkeit, ihre unheiligen, hormonell bedingten Bedürfnisse auszuleben. Was wiederum dazu führte, dass sie sich auf dem Sportplatz mit ihren Hurlingschlägern grün und blau geprügelt haben.«

»Okay«, sagte Mulcahy. Vielleicht war es tatsächlich etwas seltsam, wenn er so darüber nachdachte, trotzdem wusste er nicht, worauf der Sergeant hinauswollte.

»Also, das ist schon alles«, sagte Brennan. »Aber verstehen Sie nicht? Was auch immer die Träger der geistlichen Würden in All Hallows dazu gebracht hat, den Enkel von Oberrichter Rinn aus ihren heiligen Mauern zu verweisen, muss verdammt ernst gewesen sein. Der alte Herr war eine verdammt große Nummer bei den Ordensrittern.«

Mulcahy dachte zurück an das Foto auf Rinns Kamin von seinem Großvater mit seinen Ordensinsignien. Der alte Richter war also ein wichtiger Mann bei den Knights of St. Columbanus gewesen, den über viele Jahrzehnte wichtigsten Drahtziehern in der irischen Gesellschaft, seit der Unabhängigkeit des Landes von England. Aber was machte das? Es wäre viel überraschender gewesen, wenn ein armer Bursche aus Donegal Richter am High Court geworden wäre, ohne bei den Rittern gewesen zu sein. Wie bei den Freimaurern in anderen Ländern waren insbesondere die Polizei und die Justiz früher mit den Ordensrittern durchsetzt gewesen. Trotzdem war an dem, was Brennan sagte, etwas Wahres dran. Es war seltsam, dass jemand mit so ausgezeichneten Verbindungen zu ihnen ausgerechnet aus dem Seminar geworfen wurde, und das auch noch in einer Zeit, als die Ritter noch sehr viel Macht und Einfluss besaßen. Bizarr, hätte Mulcahy gesagt.

»Ich glaube daher«, fuhr Brennan fort, »dass alles letztlich damit zu tun hatte, was damals, ein paar Jahre vorher, in Donegal passiert ist. Und das muss ziemlich schlimm gewesen sein. Vielleicht wusste dieser Kerl aus Gweedore darüber Bescheid und hat gedroht, es auszuplaudern. Oder er hat es ausgeplaudert und ist von Rinn senior und den Geistlichen im Seminar bestochen worden. Vielleicht war es da aber schon zu spät, und Rinn konnte nicht mehr zurück nach All Hallows. Was immer er auch getan hat, es war einfach zu heftig, so dass es die Geistlichen im Seminar nicht ignorieren konnten.«

»Und wie wir inzwischen erfahren haben, gab es nicht viel, was sie bei einem der ihren nicht verschleiert hätten«, pflichtete Mulcahy ihm bei.

»Genau«, sagte Brennan. »Aus irgendeinem sehr guten Grund wollten sie ihn loswerden – und zwar sofort.«

»Also liegt der Schlüssel für Rinn in dem, was in Gweedore passiert ist.«

»So ist es«, sagte Brennan triumphierend.

Mulcahy lehnte sich zurück. Das klang logisch. Und dass wahrscheinlich absolut keine Verbindung zum Priester bestand, spielte dabei überhaupt keine Rolle mehr. Wenn Rinn wirklich etwas zu verbergen hatte, könnte sich darin ein Grund finden, den Fall Caroline Coyle wiederaufzunehmen. Mit Rinn als Hauptverdächtigem. Auf die Art bekam Brennan vielleicht auch seine Ruhe.

»Herrje, Sergeant«, lachte Mulcahy, »an Ihnen ist aber wirklich ein Kriminalpolizist verloren gegangen, das ist mal sicher.«

Siobhan blieb noch etwas länger in Chapelizod, ging die Straßen auf und ab, betrat mit dem Notizblock in der Hand kleine Läden und Lokale und fragte, ob jemand Emmet Byrne kannte. So bekam sie zwei unterschiedliche Bilder von dem Mann. Ein paar sahen ihn als einheimisches Original, der zwar nicht ganz alle beieinander hatte, aber trotzdem ganz liebenswert und in jeder Beziehung ziemlich harmlos war. »Oh, klar, der arme Emmet, der kann keiner Fliege was zuleide tun«, sagte die Frau beim Zeitungshändler. So ähnlich äußerten sich der Friseur und die Frau im Imbiss an der Ecke, in dem Emmet oft gefrühstückt oder zu Mittag gegessen hatte. Ganz anders war es, wenn sie mit jemandem von der Garda sprach oder auch mit Leuten, die Informationen von der Polizei erhalten hatten. Es waren Gerüchte im Umlauf, was bei der Durchsuchung von Byrnes Wohnung alles aufgetaucht sein sollte. Eine Reporterkollegin von der Irish Independent hatte sich bei Siobhan gemeldet und gesagt, dass dort jede Menge komisches Zeug gefunden worden sei: Kreuze, Kerzen, Ketten und ein großer Stapel Pornos. Angeblich hatte sie es aus erster Hand von einem Polizisten, der an der Wohnungsdurchsuchung beteiligt gewesen war. Außerdem sei alles voller Zeitungsausschnitte über den Priester gewesen: »Wie ein verdammter Schrein«, hatte sie gesagt.

Also rief Siobhan Pater Touhy an und fragte ihn, ob er irgendetwas darüber wüsste.

»Glauben Sie mir, ich bin oft in der Wohnung gewesen, und so etwas gab es da nicht«, widersprach der alte Pfarrer. »Also natürlich hatte er Kreuze, Kerzen und einen kleinen Schrein, aber es war ein Schrein für die Heilige Jungfrau. Er ist ein sehr gläubiger Mann. Da spricht ja wohl nichts dagegen.«

»Und was ist mit den Zeitungsausschnitten über den Priester, die er angeblich gesammelt haben soll?«

»Nein«, wandte der alte Mann ein, »so etwas habe ich bei ihm nie gesehen. Ich weiß allerdings, dass er ein paar Fotos vom Papst und Padre Pio an den Wänden hatte.«

Siobhans Informant aus dem Ermittlungsteam ließ bis vier Uhr nachmittags überhaupt nichts von sich hören, dann rief er an und sagte, dass die Eltern des toten Mädchens informiert worden wären, und gab ihr die Adresse in Dartry. Sie fühlte sich dadurch etwas vor den Kopf gestoßen, raste aber trotzdem sofort rüber. Der erste Reporter war manchmal der Einzige, der überhaupt etwas in die Finger bekam. Den Fehler, die Tür zu öffnen, würden die Eltern kein zweites Mal machen – zumindest nicht, wenn ein Journalist davorstand.

Doch als sie ankam, umzingelte schon eine Horde Presseleute das Haus. Also beschloss sie, ins Büro zurückzufahren. Das reichte erst einmal, und offenbar war Pater Touhy ihrem Rat gefolgt und hatte über Byrnes frühere Festnahme geschwiegen – sonst hätte sie es inzwischen von irgendjemandem gehört. Natürlich bestand immer das Risiko, dass es von einer anderen Seite durchsickerte, zum Beispiel aus dem Ermittlungsteam. Da es aber offenbar noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt war, nahm sie an, dass die Polizei beschlossen hatte, diese Information in der Hinterhand zu behalten. Sie würden ein paar Tage abwarten, um zu sehen, was über Byrne sonst noch ans Tageslicht kam, bevor sie zu richtig schmutzigen Tricks griffen. In diesem Fall könnte ihre Titelseite bis Sonntag Bestand haben. Wenn das klappte, würden sie damit alle anderen Zeitungen in den Sack stecken. Die Leute würden ihnen den Herald aus der Hand reißen.

Es war spät geworden, als Mulcahy zum Harcourt Square zurückkam, aber eine fixe Idee hatte sich in ihm festgesetzt, und er wusste genau, dass er sich erst wieder entspannen konnte, wenn er noch ein paar Informationen über Rinn überprüft hatte. Tief im Innersten vermutete er, dass es nur eine Ersatzhandlung dafür war, nach oben zu gehen und Brendan Healy grün und blau zu prügeln. Da das aber nicht in Frage kam, musste er sich auf das stürzen, was er hatte: Rinn. Zuerst versuchte er, den Garda anzurufen, der nach dem Überfall auf Caroline Coyle die Aussage aufgenommen hatte. Der Sergeant im Rathmines teilte ihm jedoch mit, dass der verlangte Kollege seinen Dienst für diese Woche beendet und dann ein paar Tage freihatte. »Geben Sie mir Ihre Nummer, ich sag ihm Bescheid, dass er Sie zurückrufen soll, wenn er wieder da ist«, lautete sein Vorschlag. Die nächsten zwei Stunden verbrachte Mulcahy dann am Computer in Brogans Büro und durchsuchte die Dateien mit den Sexualverbrechern, das Drogenarchiv und sämtliche anderen Datenbanken, die ihm im Netzwerk der Garda Síochána zur Verfügung standen. Bis auf ein kleines Verkehrsdelikt fand er nichts: Vor anderthalb Jahren war Rinn von einer Streife angehalten worden, die ihm eine Geldstrafe wegen eines defekten Scheinwerfers abgenommen hatte.

Mulcahy wusste, dass er mit seiner Suche nicht alles erfassen konnte. Das war ausgeschlossen. Für Dublin und die anderen größeren Städte war das System zwar recht zuverlässig, man konnte allerdings nicht davon ausgehen, dass die entlegenen ländlichen Garda-Reviere ihre Akten mehr als fünf oder sechs Jahre rückwirkend digitalisiert hatten. Er zweifelte stark, dass sie oben in Donegal die Leute oder die Motivation für diese Arbeit hatten. In manchen Revieren gab es wahrscheinlich nicht einmal die entsprechenden Computer. Gweedore war so ein Fall. Bei einem kurzen Anruf im zuständigen Revier in Bunbeg teilte ihm ein Anrufbeantworter mit, dass das Revier nur an Wochentagen jeweils drei Stunden vormittags besetzt war. Um von denen etwas zu erfahren, musste er bis Montag warten. Ihn beschlich jedoch immer mehr das Gefühl, dass er sich das nicht leisten konnte. Sosehr er sich auch bemühte, er bekam das Bild von Paula Halpin nicht mehr aus dem Kopf, die arglos in Dartry den Hügel hinauf in ihren Tod schlenderte. Es war, als hätte sich ein übersinnliches Wesen in seinem Kopf eingenistet – es drängte oder verhöhnte ihn nicht, sondern hatte sich einfach mit seinen teuflisch lodernden Augen in seinem Gehirn festgekrallt.

Da fiel ihm der defekte Scheinwerfer wieder ein. Er öffnete die Verkehrsdeliktsakte noch einmal und sah sie sich genauer an. Dann sah er es: »Dem Fahrer, Mr Sean Rinn aus Palmerston Park, Dublin, wurde eine vor Ort fällige Geldbuße von 80 Euro auferlegt, da er in einem Fahrzeug ohne angemessene Beleuchtung auf einer öffentlichen Straße unterwegs war. Und zwar war der Scheinwerfer auf der Fahrerseite des Taxis defekt.« Scheiße! Mulcahy prüfte es noch einmal. Eindeutig Taxi. Beim ersten Mal musste er es überlesen haben. Er suchte die Akte nach weiteren Hinweisen dafür ab, dass er nicht vollkommen übergeschnappt war, und ein paar Sekunden später hatte er sie. Da, unten in der Akte unter dem Autokennzeichen eines grauen Toyota Corolla Baujahr 2003, 03-D-35982, stand auch die Nummer der Taxilizenz: 19374. Das konnte kein Zufall sein.

Kurz darauf rief er in der Taxizentrale an, die hatten Rinn jedoch nicht in ihrer Datei. Dann nannte er die Nummer der Taxilizenz, unter der jedoch ein Mr Eric Dawson aus Clondalkin verzeichnet war, dessen Lizenz derzeit nicht aktiv war. Also gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Rinn das Opfer eines weiteren bizarren Garda-Tippfehlers, oder er fuhr mit einem gefälschten Taxischild auf dem Wagendach herum und gab sich als Taxifahrer aus.

Inzwischen hatte Mulcahy jedoch Kopfschmerzen von der Bildschirmarbeit, und seine Lunge platzte fast vor Sehnsucht nach einer Zigarette. Er schnappte sich seine Jacke und ging zum Fahrstuhl. Vielleicht half ihm das Rauchen, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Er war gerade draußen und hatte sich eine angesteckt, als sein Handy klingelte.

»Buenas tardes, Mike. Cómo estás?«

Es war Javier Martinez. Herrje, wie schaffte er es nur, immer so verdammt glücklich zu klingen?

»Mir ging’s schon mal besser, Jav. Wie sieht’s bei dir aus?«

»Gut. Tut mir leid, dass ich so spät anrufe, aber du hast das von der armen Jesica Salazar gehört, oder? Du kommst doch morgen?«

»Ja, natürlich. Gleich mit der ersten Maschine. Ich freu mich schon, dich zu sehen. Noch mehr freut es mich allerdings, dass sich das Mädchen schon wieder so weit erholt hat.«

Es war kaum zu glauben – vom Gefühl her war es nicht lange her, dass er am Krankenhausbett des armen Kinds gestanden und ihr blutunterlaufenes und geschwollenes Gesicht angesehen hatte. Die Jugend war ziemlich unverwüstlich. Plötzlich hatte er ihre Worte wieder im Kopf. Er sah vor sich, wie sie mit den Fingern über die rote Strieme an ihrem Hals fuhr, wo die Kette abgerissen worden war, und ihm etwas zuflüsterte.

»Hizo la señal de la cruz«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Hizo la señal de la cruz.«

Als Siobhan die Notizen zu einer ersten Textversion in den Computer getippt hatte, war sie ziemlich müde, die Begeisterung für die ganze Sache trieb sie aber immer noch weiter. Nach drei Stunden Arbeit hatte sie jetzt zwei weitere Storys, zumindest in Grundzügen, für Sonntag parat. Keine schlechte Ausbeute, und sie hatte sogar noch einen Tag Zeit. Vielleicht sollte sie nach Hause fahren und ein paar Klamotten bügeln. Oder fernsehen. Oder beides. Bei dieser Perspektive änderte sie ihre Meinung, öffnete eine neue Datei und begann einen Artikel, in dem sie die Frage aufwarf, ob Byrne tatsächlich der richtige Mann war. Wahrscheinlich tat sie das nur, weil sie sich Pater Touhy verpflichtet fühlte. Ihre Gedanken kreisten, und ihre Finger bewegten sich flugs über die Tastatur, als sie versuchte, nichts außer Acht zu lassen, alle losen Fäden zusammenzuführen, jedes noch so kleine Informationshäppchen irgendwie zu verarbeiten. Der Artikel war nicht für diesen Sonntag, sondern vielleicht für nächste Woche – Nachrichten lebten vom Neuigkeitswert, und diese Woche interessierten sich die Leute für Byrnes Festnahme und seine undurchsichtige Vergangenheit. Die Vorbehalte, die sie gegen die Festnahme hatte, konnte sie sich noch etwas aufsparen. Schließlich war er noch nicht einmal angeklagt worden. In ein paar Tagen würde ihr Artikel noch größeres Aufsehen erregen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Jungs in Blau Byrne wirklich etwas anhängen wollten. Ein Ping! meldete eine eingehende E-Mail. Siobhan klickte darauf und las die Antwort auf ihre Anfrage an eine befreundete Psychologin. Sie war so sehr ins Lesen vertieft, dass sie nur kurz grunzte, als jemand hereinkam und etwas neben ihr auf den Schreibtisch legte. Erst gut zehn Minuten später, kurz nach acht Uhr abends, nachdem sie die Antwort gelesen und daraufhin einen weiteren Fragenkatalog zurückgeschickt hatte, riss sie den Blick vom Bildschirm los und sah den gefütterten Umschlag neben ihrem Ellbogen, auf dem nur ihr Name stand. Sie riss ihn auf und wollte hineingreifen, merkte aber, dass irgendetwas daran nicht stimmte. Dann schlug ihr der Geruch entgegen, und sie jaulte auf wie ein getretener Hund und ließ alles auf den Schreibtisch fallen. Zitternd sah sie etwas, das sie erst für ein zusammengefaltetes Stück Papier hielt, das ein paar Zentimeter aus dem Umschlag herausgerutscht war. Es fühlte sich aber nicht an wie Papier. Es war kalt, hart und etwas schmierig – und stank furchtbar. Wie verbrannte Haut oder so etwas … oh, um Himmels willen!

Sie nahm einen Bleistift, steckte ihn in den Umschlag und schaute, ob noch mehr darin war. Etwas Gefährliches. Sie sah aber nur das zusammengefaltete Papier. Sie holte tief Luft, zog es weiter heraus, und dann fiel ein dickes Blatt Pergament heraus, gelblich und etwas durchscheinend. Es war rau und biegsam, ein bisschen hautartig. Ein eiskalter Schauder lief ihr dann über den Rücken, als sie sah, dass es mit jeder Menge Kreuze in verschiedenen Größen versengt war, manche tiefschwarz, einige ganz durchgebrannt, so dass nur noch schwarze x-förmige Löcher mit verkohlten Rändern zu sehen waren.

Sie griff zum Telefon, rief die Rezeption an und fragte, wer den Brief gebracht hatte. Die Frau unten sagte, sie glaube, er sei vor etwa einer Stunde unten abgegeben worden, allerdings hatte niemand gesehen, von wem. Er hatte plötzlich da gelegen – wahrscheinlich war einfach jemand von der Straße hereingekommen und hatte ihn auf den Empfangstresen gelegt. Siobhan rief den Wachdienst an, wo man ihr allerdings mitteilte, dass die Überwachungskamera über der Rezeption seit gut einer Woche defekt wäre und sie seitdem auf den Reparaturservice warteten. Sie fluchte, war allerdings nicht besonders überrascht – die technische Ausrüstung beim Sunday Herald war einfach schäbig. Sie setzte sich, drückte mit dem Bleistift weiter auf dem Pergament herum, sah es sich dabei genauer an und versuchte herauszubekommen, von wem es sein könnte. Sollte es eine Art Witz sein? Es gab beim Herald ein paar Scherzbolde, denen sie so etwas durchaus zutraute.

Dann sah sie noch etwas anderes zwischen den Rillen und Löchern: Ein paar Worte schienen in das Gewebe eintätowiert worden zu sein – oder eingebrannt mit einer viel feineren … einer feineren was? Aber darüber dachte sie nicht weiter nach, als sie die Worte gelesen hatte. Plötzlich war ihr kalt, und ihre Hände zitterten. Sie sah über die Bildschirme und suchte nach Griffin, Heffernan oder einem der anderen Kollegen. Dabei wusste sie genau, dass keiner mehr da war. Es war zu spät. Selbst die Jungs in der Sportredaktion hatten für heute Schluss gemacht. Sie war ganz allein, und schlagartig wurde ihr bewusst, wie bedrohlich, dunkel und leer die Nachrichtenredaktion – die ganze Etage – war. Genau in diesem Moment klingelte ihr Telefon, und sie griff hastig danach, froh darüber, eine andere Stimme zu hören.

»Hallo«, sagte sie. Dann wiederholte sie es. Sie bekam jedoch keine Antwort, nur ein schwaches Zischen am anderen Ende der Leitung. »Ist da jemand?«

»Gott lässt sich nicht verspotten«, sagte eine Männerstimme zornig, laut und schwer atmend. »Sie werden es sehen. Sie werden Zeugin davon sein.«

Dann war die Leitung wieder tot, und Siobhan legte fluchend den Hörer auf. Es war derselbe Wichser, der sie vor ein paar Tagen angerufen hatte, aber dieses Mal war es sehr viel angsteinflößender. Er musste den Brief gebracht haben. Was zum Teufel meinte er damit, dass sie Zeugin sein würde? Zeugin wovon?

Sie zog sich die Jacke fester um die Schultern und sah sich noch einmal um. Ihr ganzer Körper zitterte. Was war, wenn er nicht nur den Umschlag hinterlassen hatte? Niemand hatte ihn gesehen. Was, wenn er auch durch die Sicherheitssperren gekommen war? Hätte sie es gemerkt, wenn er reingekommen wäre? Niemals – sie hatte nicht einmal mitgekriegt, dass der Bote den Umschlag gebracht hatte. Wenn es der Bote denn überhaupt gewesen war. Ach, verdammte Scheiße noch mal.

Nein, dachte sie und zwang sich, sich zu beruhigen. Sei vernünftig. Sie zog sich kompliziert im Sitzen die Jacke an und begann, die Dateien in ihrem Computer so schnell wie möglich abzuspeichern und zu schließen, dann loggte sie sich aus. »Ich muss hier raus, bevor ich durchdrehe«, sagte sie zu sich selbst, steckte den Umschlag und seinen Inhalt in ihre Tasche und eilte zur Tür. Ungeduldig drückte sie auf den Fahrstuhlknopf, als ihr Handy klingelte. Sie sah sich argwöhnisch um, rechnete immer noch damit, dass sich irgendwo jemand versteckt hatte und sie anstarrte, ihr folgte und sie nicht aus den Augen ließ.

Wieder zirpte ihr Handy, und sie ging ran, hörte erst nichts, dann ein Knistern und Zischen in der Leitung. Vollkommen verschreckt wollte sie schon wieder auflegen, doch da ertönte die raue, tonlose Stimme wieder: »Gott lässt sich nicht verspotten.«

Als sich die Fahrstuhltür öffnete, wäre sie vor Angst fast gestorben.