DREIUNDDREISSIG
Als ich bei Roman ankomme, ist es still. Genau wie ich es gehofft hatte.
Genau wie ich es geplant hatte.
Als Haven mir erzählt hat, dass sie mit Misa, Marco und Rafe zu einem Konzert geht, wusste ich, dass das die ideale Gelegenheit ist, Roman allein und ungestört zu fassen zu bekommen. Damit ich auf friedliche, vernünftige Weise an ihn herantreten und ganz ruhig mein Anliegen vortragen kann.
Ich stehe vor seiner Haustür und nehme mir einen Augenblick Zeit, um die Augen zu schließen und still zu sein. Richte meine Aufmerksamkeit ganz tief in mein Innerstes und kann dort keine Spur des Ungeheuers entdecken. Es ist, als hätte ich, indem ich all meinen Zorn und all meinen Hass auf Roman losgelassen habe, der dunklen Flamme den Sauerstoff geraubt, den sie zum Überleben braucht - und ich bin das, was an ihrer Stelle übrig ist.
Und ich trete erst ein, nachdem ich ein paar Mal geklopft habe und er nicht aufmacht. Ich weiß, dass er da ist. Und zwar nicht nur, weil sein dunkelroter Aston Martin in der Einfahrt parkt, sondern weil ich ihn fühlen, seine Gegenwart spüren kann. Aber seltsamerweise scheint er die meine nicht fühlen oder spüren zu können, sonst wäre er schon hier.
Ich werfe einen Blick ins Wohnzimmer, in die Küche, schaue durchs Fenster zur Garage hinüber. Und als ich sehe, dass es dort dunkel ist, keine Spur von ihm, halte ich auf sein Schlafzimmer zu, rufe seinen Namen und trete viel geräuschvoller auf als nötig. Ich ziehe es vor, ihn nicht zu überrumpeln oder ihn bei irgendetwas Peinlichem zu ertappen.
Er liegt in der Mitte eines riesigen, reich verzierten Himmelbettes, eins mit so vielen Vorhängen und Troddeln, dass es mich an die erinnert, die Damen und ich uns bei unseren Sommerland-Ausflügen in unserer Version von Versailles gern zu Gemüte führen. Gekleidet ist er in ein offenes weißes Leinenhemd und verwaschene Jeans; er hat die Augen fest geschlossen, einen Kopfhörer aufgesetzt und drückt ein Bild von Drina gegen die Brust.
Und unwillkürlich bleibe ich stehen und überlege gerade, ob ich vielleicht einfach kehrtmachen und mich verdrücken, ihn mir ein anderes Mal vornehmen soll, da sagt er: »Ach, Herrgott noch mal, Ever, sag bloß nicht, du hast schon wieder die verdammte Tür plattgemacht?« Damit setzt er sich auf, wirft den Kopfhörer zur Seite und legt das Foto von Drina behutsam wieder in die Nachttischschublade. Es scheint ihm nicht im Mindesten peinlich zu sein, in einem so privaten, sentimentalen Moment überrascht worden zu sein. »Deine ganze Nummer hier kommt langsam ein bisschen überzogen rüber, findest du nicht?« Er schüttelt den Kopf und fährt sich mit den Fingern durch die goldenen Wellen, streicht sie wieder zurecht. »Ehrlich, Darling, kann man hier als Mann denn nicht mal ein bisschen seine Ruhe haben? Mit dir und Haven …« Er seufzt und setzt die bloßen Füße auf den Boden, als wolle er aufstehen, doch er tut es nicht, er bleibt einfach so sitzen. »Na ja, ich fühle mich ein bisschen ausgelaugt. Du verstehst, was ich meine?«
Ich sehe ihn an und weiß, dass ich das wahrscheinlich nicht fragen sollte, doch ich bin viel zu neugierig. »Hast du … hast du meditiert?« Ich blinzele verblüfft, ich habe ihn nie als den Typen gesehen, der tief in sein Inneres vordringt und versucht, mit jener universellen Macht Verbindung aufzunehmen.
»Und wenn?« Er fährt sich mit den Händen über die Stirn und dreht sich zu mir herum. »Wenn du’s unbedingt wissen musst, ich habe versucht, Drina zu finden. Weißt du, du bist nicht die Einzige hier, die gewisse Fähigkeiten hat.«
Ich schlucke heftig, dessen bin ich mir bereits sehr wohl bewusst. Und ich kann mir auch schon denken, wie die Antwort auf meine nächste Frage lauten wird, als ich mich erkundige: »Und, hast du sie gesehen?« Ich wäre gewillt zu wetten, dass es nicht so ist, besonders nach allem, was ich über das Schattenland weiß.
Er sieht mich an, und ein flüchtiger Ausdruck des Schmerzes liegt auf seinen Zügen. »Nein. Habe ich nicht. Okay? Zufrieden? Aber irgendwann schaffe ich es. Du kannst uns nicht für alle Zeit trennen, weißt du? Egal was du getan hast - ich habe die feste Absicht, sie zu finden.«
Ich hole tief Luft und denke im Stillen: Oh, das will ich nicht hoffen. Es wird dir dort nicht gefallen. Und habe ein schrecklich schlechtes Gewissen wegen den Malen, bei denen ich ihm vorgegaukelt habe, ich wäre sie - auch wenn ich nicht selbst am Steuer gesessen habe, als das passiert ist.
Doch das sage ich nicht laut. Tatsächlich sage ich überhaupt nichts. Ich bleibe einfach dort stehen und beschwöre von irgendwo ganz tief unten meine Kraft herauf. Dann sehe ich ihn an und sage: »Das hier ist nicht das, was du denkst. Ich bin nicht hier, um dich zu verführen oder irgendwelche Spielchen mit dir zu treiben und um dich zu verspotten oder um dir irgendetwas abzuluchsen. Oder jedenfalls nicht so, wie du denkst. Ich bin hier, um …«
»Um das Gegengift zu kriegen.« Er hebt die Füße vom Boden und lässt sich wieder auf sein zerwühltes Bett fallen. Die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt, lehnt er sich gegen das seidenbezogene Kopfteil und kneift die Augen zusammen. »Eins will ich sagen, Ever, hartnäckig bist du ja. Wie oft hast du eigentlich vor, das hier abzuziehen? Jedes Mal, wenn du hier aufkreuzt, hast du einen neuen Angriffsplan, und trotzdem schaffst du’s jedes Mal nicht zu punkten, obwohl ich dir reichlich Gelegenheit dazu gegeben habe. Da fragt man sich doch, ob du das Zeug wirklich willst. Vielleicht glaubst du ja nur, dass du es willst, aber dein Unterbewusstsein lässt es nicht zu, denn es kennt die Wahrheit. Deine tiefe … finstere … Wahrheit
Glitzernd bohren sich seine Augen in meine, wollen mich wissen lassen, dass er von dem Ungeheuer weiß und wie erheiternd er das findet. »Und, tut mir leid, Schätzchen, aber ich muss dich das fragen; wie steht eigentlich Damen zu all diesen kleinen Besuchen bei mir? Das kann ihn doch nicht besonders freuen, würde ich sagen, oder die Tatsache, dass Miles im Begriff ist, noch eins seiner Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. Davon hat er viele, weißt du? Geheimnisse, die du noch nicht einmal ansatzweise entdeckt hast. Sachen, die du dir nicht mal vorstellen kannst …«
Ich nicke, ganz ruhig und aufrichtig, und weigere mich, mich von seinen Worten treffen zu lassen. Dieses Mädchen bin ich einfach nicht mehr.
»Also, sag mal, weiß er, dass du jetzt hier bist?«
»Nein.« Ich zucke die Schultern. »Aber wenn ich die SMS bedenke, die ich ihm geschickt habe, gleich nachdem ich aus dem Auto gestiegen bin, dann wird’s bestimmt nicht mehr lange dauern, bis er es weiß. Sobald er mit Ava und den Zwillingen aus dem Kino kommt, wird er seine Nachrichtenbox checken, wird meinen Plan sehen, mich mit ihm im Montagne zu treffen, und dann weiß er Bescheid. Aber im Augenblick, nein, er hat keinen Schimmer.«
»Ich verstehe.« Er nickt, und sein Blick wandert an mir auf und ab. »Na, wenigstens hast du dir die Zeit genommen, dich anständig zurechtzumachen. Eigentlich siehst du besser aus als je zuvor, richtig strahlend. Du leuchtest sogar irgendwie. Sag schon, Ever, was ist dein Geheimnis?«
»Meditation.« Ich lächele. »Du weißt schon, sich läutern, seine Mitte finden, den Blick auf das Positive richten - so was eben.« Wieder zucke ich die Achseln und bleibe weiter unbeirrt stehen, als er in dröhnendes Gelächter ausbricht.
Er lässt den Lachanfall vorübergehen. »Der alte Damen lässt dich wohl auch durchs Himalaja trecken, wie?« Mit schiefgelegtem Kopf betrachtet er mich. »Der alte Sack, der lernt’s echt nie. Und was bringt ihm das? Nichts.«
»Also, entschuldige, dass ich das sage, aber hast du nicht eben gerade meditiert?«
»Aber nicht so, Schätzchen. Nein, nicht so, ganz bestimmt nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Verstehst du, meine Methode ist anders. Ich habe versucht, mit einer ganz bestimmten Person Kontakt aufzunehmen - und nicht mit irgendeinem erfundenen, universellen Alles-ist-eins-Schwachsinn. Kapierst du das, Ever? Das hier ist alles. Genau hier, genau jetzt.« Er klopft neben sich auf die zerknitterte Bettwäsche. »Das hier ist unser Paradies, unser Himmelreich, unser Nirwana, unser Shangri-la - egal wie du es nennen willst.« Seine Brauen schnellen empor, während er mit der Zunge seine Lippen befeuchtet. »Das ist alles. Und das meine ich wortwörtlich und im metaphorischen Sinne. Es ist alles, was wir haben, und du verschwendest deine Zeit damit, nach mehr zu suchen. Na schön, zugegeben, du hast jede Menge Zeit, um sie zu verschwenden, aber trotzdem, es ist so eine Schande zuzusehen, wie du sie zu verbringen beschließt. Ich sage dir, Damen hat einen ganz schlechten Einfluss auf dich.« Er hält inne, wie um einen Moment lang nachzudenken. »Also, was meinst du? Sollen wir’s noch mal versuchen? Ich meine, du kommst her und siehst so aus, und, na ja, da bei mir ja alles schnell verheilt, bin ich geneigt, dir wegen letztem Mal zu verzeihen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und all so was. Versuch nur keine krummen Dinger, oder mach mir nicht wieder vor, dass du Drina bist, dann kann’s losgehen. Du hast da die letzten Male ein paar echt kaltherzige Nummern abgezogen, aber, komisch, irgendwie glaube ich, deswegen stehe ich nur noch mehr auf dich. Also, was sagst du?« Er lächelt und wirft ein Kissen zur Seite, um Platz für mich zu schaffen, während er sein Tattoo sehen lässt und mich auf diese hypnotisierende Art und Weise mustert.
Aber diesmal funktioniert es nicht. Obwohl ich auf ihn zutrete, auf das erwartungsvolle Glimmen in seinen Augen, geschieht dies nicht aus dem Grund, den er vermutet.
»Deswegen bin ich nicht hier«, verkünde ich und sehe, wie er die Achseln zuckt, als wäre es ihm völlig egal.
Den Kopf nach vorn geneigt, inspiziert er seine perfekt manikürten und polierten Fingernägel, während er fragt: »Und weshalb bist du dann hier? Komm schon, raus damit. Haven kommt nachher noch vorbei, wenn das Konzert zu Ende ist, und ich glaube, keiner von uns ist scharf auf noch so eine Szene.«
»Ich habe nicht vor, Haven wehzutun.« Ich zucke meinerseits die Schultern. »Ich bin bloß hier, um an dein Höheres Selbst zu appellieren, das ist alles.«
Roman starrt mich mit offenem Mund an, forscht in meinem Gesicht nach dem Scherz, von dem er sicher ist, dass ich ihn verberge.
»Ich weiß, dass du eins hast. Ein Höheres Selbst. Ich weiß sogar alles über dich. Ich weiß Bescheid über deine Vergangenheit, dass deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist, dass dein Vater dich geschlagen und dich dann allein zurückgelassen hat - das weiß ich alles. Ich …«
»Verdammt!«, stößt er hervor, und seine blauen Augen sind riesengroß. Seine Stimme ist so leise, so erschüttert, dass ich es fast nicht gehört hätte. »Davon weiß niemand. Wie hast du …?«
Doch ich zucke nur abermals die Achseln, das Wie spielt keine Rolle. »Nachdem ich all das weiß, merke ich, dass ich dich nicht mehr hassen kann. Ich hasse dich einfach nicht mehr. Das ist nicht in mir drin.«
Er starrt mich an, die Augen jetzt schmal und voller Skepsis. Dann verlegt er sich wieder auf seine übliche Angeberei. »Natürlich hasst du mich, Schätzchen, du fährst total darauf ab, mich zu hassen, genau das tust du. Du fährst sogar so sehr darauf ab, mich zu hassen, dass ich alles bin, woran du denkst.« Er lächelt und nickt, als hätte er mich durchschaut, als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst.
Doch ich schüttele nur den Kopf und hocke mich auf die Bettkante. »Das hat zwar mal gestimmt, aber jetzt nicht mehr. Und der einzige Grund, warum ich hergekommen bin, ist, dir zu sagen, wie leid mir das tut, was dir passiert ist. Es tut mir wirklich, ehrlich leid.«
Er wendet den Blick ab, spannt den Unterkiefer an und tritt nach der Bettdecke, während er knurrt: »Sollte es aber verdammt noch mal nicht! Es gibt nur eins, was dir leidtun muss, Schätzchen, und zwar das, was du mit Drina gemacht hast. Den ganzen Rest - damit kannst du mich verschonen. Ich habe nicht das leiseste Interesse an deinen Almosen für die Armen, die Elenden und die Unterdrückten. Ich brauche dein Mitgefühl nicht, Süße. Falls du’s nicht gemerkt haben solltest, ich bin nicht mehr das Balg von damals. Das kannst du doch bestimmt sehen, Ever, schau mich einfach an.« Er lächelt und breitet die Arme weit aus, lädt mich ein, einen eingehenden Blick auf seine unbestreitbar prachtvolle Person zu werfen. »Ich bin ganz obenauf. Bin ich jetzt schon seit Jahrhunderten.«
»Und genau das ist es ja.« Ich beuge mich zu ihm vor. »Du siehst das alles als ein großes Spiel - als wäre das Leben ein Schachbrett und du müsstest den anderen immer drei Züge voraus sein. Du lässt nie nach in deiner Wachsamkeit, erlaubst dir niemals, jemand anderem nahezukommen - und du hast keine Ahnung, wie man liebt oder geliebt wird, weil dir das nie zuteilgeworden ist. Ich meine, sicher, du hättest andere Entscheidungen treffen können, und zweifellos hättest du das auch tun sollen, aber es ist trotzdem ziemlich schwer, etwas zu bieten, was man selbst nie gehabt hat, was man selbst nie am eigenen Leibe erfahren hat, und dafür vergebe ich dir.«
»Was ist denn das hier?« Wütend funkelt er mich an. »Amateurtherapie? Stellst du mir nachher eine Rechnung für dein lächerliches Psychogeschwafel?«
»Nein.« Meine Stimme ist leise, mein Blick hält den seinen fest. »Ich versuche nur, dir zu sagen, dass es vorbei ist. Ich weigere mich, weiter gegen dich zu kämpfen. Stattdessen beschließe ich, dich zu lieben und dich zu akzeptieren. Ob es dir nun passt oder nicht.«
»Zeig’s mir«, erwidert er und klopft abermals aufs Bett. »Warum kriechst du nicht hier rüber und zeigst mir diese Liebe, Ever?«
»Es ist nicht diese Art von Liebe. Es ist die echte. Die bedingungslose. Die, die nicht urteilt. Nicht die körperliche Art. Ich liebe dich als eine Seele, die mit mir diese Erde bewohnt. Ich liebe dich als jemanden, der unsterblich ist wie ich. Ich liebe dich, weil ich es satthabe, dich zu hassen, und einfach nicht länger bereit bin, das zu tun. Ich liebe dich, weil ich endlich verstehe, was dich so gemacht hat. Und wenn ich das ändern könnte, würde ich es tun. Aber das kann ich nicht, also entscheide ich mich stattdessen dafür, dich zu lieben. Und meine Hoffnung ist, dass es dich dazu bringen wird, ebenfalls etwas Gutes zu tun, wenn ich dich akzeptiere, aber wenn nicht …« Ich zucke die Achseln. »Dann kann ich wenigstens sagen, ich hab’s versucht.«
»Verdammt noch mal«, brummt er und verdreht die Augen, als ob meine Worte nichts anderes bewirken als ihn zu schmerzen. »Da hat sich aber jemand die Hippie-Dröhnung verpasst!« Er schüttelt den Kopf und lacht, macht es sich auf dem Bett bequem und sieht mich an. »Okay, Ever, du liebst mich und du verzeihst mir. Bravo. Gut gemacht. Aber hier das Neueste vom Tage - das Gegengift kriegst du trotzdem nicht, okay? Liebst du mich immer noch? Oder hasst du mich wieder? How deep is your love, Ever - um einen Song aus den Siebzigern zu zitieren, von dem du bestimmt noch nie gehört hast.« Er lässt die Hände in den Schoß sinken, die Finger offen, entspannt. »Eure Generation tut mir leid. Diese ätzende Musik, die ihr euch anhört. Du solltest mal die Band hören, zu deren Konzert Haven gegangen ist - The Mighty Hooligans. Was für ein beschissener Name ist das denn?«
Ich zucke nur die Schultern; ich bin durchaus fähig, eine Vermeidungstaktik zu erkennen, doch ganz gleich, wie sehr er sich bemüht, ich weigere mich, mich vom Kurs abbringen zu lassen, wie er es bezweckt. »Es ist deine Entscheidung«, sage ich. »Ich bin nicht hier, um dich um irgendetwas zu bitten.«
»Und warum bist du dann hier? Was soll dieser kleine Besuch? Du behauptest, du bist nicht auf das Gegengift aus, du bist nicht darauf aus, richtig gebumst zu werden, obwohl es ganz klar ist, dass du es dringend nötig hast. Du kommst einfach hier reinmarschiert und brichst in meine Privatsphäre ein, damit du mir erzählen kannst, dass du mich liebst? Wirklich, Ever? Denn ich sag’s ja nicht gern, aber ich finde das alles ein bisschen schwer zu schlucken.«
»Natürlich«, erwidere ich völlig gelassen. Das hier ist alles so ziemlich genau das, was ich erwartet habe, alles verläuft genauso, wie ich es geplant habe. »Aber nur, weil du das noch nie erlebt hast. Sechshundert Jahre, und du hast nie einen Augenblick echter, wahrer Liebe erlebt. Das ist traurig. Tragisch sogar. Aber es ist nicht deine Schuld. Also, ganz offiziell, so fühlt sich das an, Roman. So sieht das aus. Ich will einfach nur, dass du weißt, dass ich dir verzeihe, trotz allem, was du getan hast. Und weil ich dir verzeihe, weil ich dich befreie, kannst du mir nichts mehr anhaben oder mich verletzen. Wenn du mir das Gegengift nie gibst - na ja, Damen und ich werden damit umzugehen wissen, denn so machen Seelengefährten das eben. Genau das ist wahre Liebe. Sie kann nicht zerschlagen, kann nicht langsam abgetragen werden, sie ist ewig, alles überdauernd, und sie kann jeden Sturm abwettern. Wenn du also entschlossen bist, so weiterzumachen, dann sollst du einfach wissen, dass ich keinen Widerstand leisten werde. Damit bin ich durch. Ich habe ein Leben zu leben - was ist mit dir?«
Er sieht mich an, und einen kurzen Moment lang weiß ich, dass ich ihn erwischt habe. Ich sehe das Aufblitzen in seinen Augen, den Lichtpunkt des Begreifens, dass das Spiel jetzt vorbei ist. Dass dazu zwei Spieler nötig sind und dass einer davon gerade ausgestiegen ist. Doch dann ist es ebenso schnell wieder verschwunden, und der alte Roman ist zurück und sagt: »Ach komm schon, Darling, meinst du das alles wirklich ernst? Du willst mir erzählen, dass du vorhast, dich für den Rest deines unsterblichen Daseins mit ein bisschen keuschem Händchenhalten abzufinden? Verdammt, ihr dürft ja nicht mal das - trotz dieses Energie-Kondoms, das ihr da fabriziert habt. Und das ist einfach nicht das Wahre, nicht wahr, Schätzchen? Nicht im Mindesten wie das hier.«
Und ehe ich es mich versehe, ist er neben mir. Seine Hand packt mein Bein, und sein Blick ist tief und eindringlich. »Vielleicht habe ich ja diese Art von Liebe nie gekannt, von der du hier rumlaberst, aber von der anderen Sorte hatte ich reichlich - von dieser Sorte.« Seine Finger schieben sich langsam aufwärts. »Und ich sage dir, Darling, wenn’s hart auf hart kommt, ist die genauso gut, wenn nicht sogar besser. Und ich ertrage die Vorstellung nicht, dass dir das entgeht.«
»Dann gib mir das Gegengift, dann muss mir nichts entgehen«, entgegne ich, lächele freundlich und mache keinen Versuch, seine Finger von meinem Bein zu lösen. Genau das will er ja. Er will, dass ich ausraste und mich wehre. Ihn gegen die Wand schleudere. Zu einer Bedrohung werde. Das übliche Verfahren. Aber diesmal nicht. O nein. Diesmal habe ich zu viel zu beweisen. Zu viel zu verlieren. Außerdem bin ich im Begriff, ihm zu zeigen, wie langweilig dieses Spiel sein kann, wenn nur einer spielen will.
»Das würde dir gefallen, nicht wahr? Hier zu gewinnen.«
»Dabei würde jeder gewinnen. Du tust etwas Nettes - dann passiert dir auch etwas Nettes. Das ist Karma. Ein Welleneffekt. Kann nicht schiefgehen.«
»Ach, sind wir jetzt wieder bei der Nummer, ja?« Er verdreht die Augen. »Also ehrlich, Damen hat dich echt eingenordet.«
»Vielleicht.« Wieder lächele ich und weigere mich, nach seinem Köder zu schnappen. »Oder vielleicht auch nicht. Man weiß nie, solange man’s nicht versucht, stimmt’s?«
»Was? Glaubst du, ich habe noch nie etwas Nettes getan?«
»Ich glaube, das ist schon eine ganze Weile her. Wahrscheinlich bist du inzwischen ein bisschen eingerostet.«
Er lacht, wirft den Kopf zurück und lacht, doch seine Hand nimmt er nicht weg, nein, die bleibt, wo sie ist und streichelt meinen Schenkel.
»Okay, Ever, sagen wir mal rein theoretisch, ich tue dir diesen kleinen Gefallen. Sagen wir, ich gebe dir das Gegengift, das dafür sorgen würde, dass Damen und du euch dumm und dämlich vögeln könnt. Und was dann? Wie lange muss ich darauf warten, dass dieses angeblich gute Karma zurückkommt? Kannst du mir das sagen?«
Ich zucke die Achseln. »Nach allem, was ich gesehen habe, kann man Karma nicht erzwingen, das funktioniert nach seinen eigenen Bedingungen. Ich weiß nur, dass es funktioniert.«
»Also soll ich dir einfach etwas aushändigen, etwas, worauf du unheimlich scharf bist, und es riskieren, nichts dafür zu bekommen? Das scheint mir nicht gerade fair zu sein, Darling, also solltest du dir das Ganze vielleicht noch mal überlegen, vielleicht gibt’s ja doch etwas, was du mir geben kannst.« Er lächelt und lässt seine Hand viel höher gleiten, zu hoch. Und als er mir tief in die Augen sieht, versucht, mich zu überwältigen, mich in seinen Kopf zu locken so wie früher - da klappt das nicht. Ich bleibe fest verwurzelt dort, wo ich bin.
Und doch hat allein dieser simple Akt eine Idee gezeugt, eine, mit der das Ganze vielleicht sehr viel schneller über die Bühne geht, als ich gehofft hatte und ich ins Montagne komme, wo ich mich mit Damen verabredet habe.
»Na ja«, meine ich und gebe mir alle Mühe, nicht darauf zu achten, wie sich seine Finger auf meinem Oberschenkel anfühlen. »Wenn du dem Karma nicht vertrauen kannst, würdest du dann wenigstens mir vertrauen?«
Er sieht mich mit zur Seite geneigtem Kopf an, und sein Ouroboros-Tattoo blitzt auf und verschwindet wieder.
»Wenn ich’s recht bedenke, habe ich wirklich etwas, was ich dir geben kann. Etwas, von dem ich genau weiß, dass du ganz wild darauf bist. Etwas, das nur ich dir geben kann.«
»Na, wenn das nichts ist!« Er lächelt. »Jetzt kommen wir ins Geschäft. Ich wusste ja, dass du es dir schließlich noch mal überlegst; ich wusste, dass du kapierst, was Sache ist.« Er rückt noch näher, fasst mein Bein fester.
Doch ich sitze einfach weiter da, atme ruhig und gleichmäßig und bin mir des Lichts bewusst, das noch immer in mir strahlt. »Das meine ich nicht«, sage ich. »Es ist … Es ist etwas viel Besseres.«
Er kneift die Augen zusammen. »Ach, nun sei doch nicht so streng mit dir, Schätzchen. Das erste Mal läuft’s nie besonders. Ich verspreche dir, wir machen’s oft genug, dass du ordentlich üben kannst und besser wirst.«
Und obgleich er lacht, als er das sagt und offensichtlich will, dass ich mitlache, tue ich es nicht. Ich denke noch immer über das nach, was ich gerade gesagt habe, über diesen neuen Plan, der in meinem Kopf Gestalt annimmt. Mir ist klar, dass es nicht gerade das sein wird, was er erwartet, und vielleicht wird er mich danach sogar noch mehr hassen, aber trotzdem, es ist die einzige Möglichkeit, die mir einfällt, wie ich ihn dazu bringen kann, eine Verbindung mit mir einzugehen. Nun ja, das heißt, wenn man überhaupt mit einer verlorenen Seele Verbindung aufnehmen kann …
»Lass mein Bein los.« Meine Augen blicken fest in seine.
»Ach verdammt!« Er schüttelt den Kopf. »Siehst du, ich wusste ja, dass du nur Mist erzählst. Du machst einfach gern Typen an und lässt sie dann abblitzen, Ever, genau so bist du drauf, weißt du das? Du bist nichts anderes als …«
»Lass mein Bein los, und nimm stattdessen meine Hände«, sage ich mit ruhiger, entschlossener Stimme. »Glaub mir, du hast nichts zu verlieren, das verspreche ich dir.«
Er zögert, allerdings nur einen Augenblick lang, ehe er tut, was ich gesagt habe. Wir sitzen beide im Schneidersitz auf dem Bett; meine bloßen Knie sind gegen seine gedrückt. Seine Hände umklammern die meinen, und die ganze Szene erinnert mich vage an den Bindezauber, der diese ganze Misere ausgelöst hat.
Nur ist das hier nicht so wie damals.
Ganz und gar nicht.
Ich bin im Begriff, einen gewaltigen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Ich bin im Begriff, etwas mit Roman zu teilen, was definitiv dazu führen wird, dass er mir das Gegengift gibt. Also sehe ich ihm unverwandt in die Augen und sage: »In deiner Argumentation ist ein Fehler.«
Er blinzelt.
»Dein Argument. Dass es nichts gibt außer dem Hier und Jetzt. Wenn du das wirklich glauben würdest, wieso hast du dann versucht, mit Drina in Verbindung zu treten? Wenn du wirklich glauben würdest, dass es nichts gibt außer dem hier, der Erdebene, wo wir jetzt sitzen, womit genau willst du dann Verbindung aufnehmen?«
Roman sieht mich an und ist ganz offenkundig perplex. »Mit ihrem Wesen …, mit ihrem …« Er schüttelt den Kopf und versucht, meine Hände loszulassen, doch ich fasse seine nur noch fester. »Was zum Teufel soll das?«, verlangt er zu wissen und ist eindeutig sauer auf mich.
»Es endet hier nicht, Roman. Es gibt mehr, viel mehr. Mehr, als du dir jemals vorstellen könntest. Das hier, was du hier siehst - das ist alles nur ein winzig kleiner Ausschnitt auf einem viel größeren Schirm. Aber ich habe das Gefühl, das ahnst du schon, ganz gleich was du sagst. Und weil du das schon ahnst, bist du offen dafür. Also überlege ich mir, ob wir nicht vielleicht einen Deal aushandeln können.«
»Ich wusste es ja!« Lachend schüttelt er den Kopf. »Ich wusste, dass du nicht aufgegeben hast. Nur nicht unterkriegen lassen, was, Ever?«
Doch ich achte nicht auf seine Worte und mache einfach weiter. »Wenn ich dich zu Drina führe, wenn ich dir zeige, wo sie ruht, gibst du mir dann das Gegengift?«
Er lässt meine Hände fallen, und sein Gesicht ist vor Schreck kalkweiß; ganz offensichtlich hat er Mühe, sich zu fangen. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Bestimmt nicht. Ich schwör’s.«
»Warum machst du das dann?«
»Weil ich es bloß fair finde. Du gibst mir, was ich mir am meisten wünsche, und ich gebe dir, was du dir am meisten wünschst. Vielleicht gefällt dir nicht, was du siehst, wahrscheinlich hasst du mich am Ende - aber darauf lasse ich es ankommen. Und ich verspreche dir, ich sorge dafür, dass du alles siehst. Ich werde nichts zurückhalten.«
»Und was ist, wenn du mir gibst, was ich mir wünsche, und ich das Gegengift trotzdem nicht rausrücke? Was dann?«
»Dann habe ich dich falsch eingeschätzt.« Ich zucke die Achseln. »Dann habe ich gar nichts. Aber ich werde dich nicht hassen, und ich werde dich nicht noch einmal behelligen. Doch ich glaube, wenn du erst einmal die Wirkung eines solchen Handelns erlebt hast, wirst du definitiv an Karma glauben.Also - bist du bereit?«
Er sieht mich an, sieht mich lange an, abwägend, überlegend, bis er schließlich nickt. Sein Blick hält dem meinen stand, während er fragt: »Willst du wissen, wo ich es aufbewahre?«
Ich schlucke. Mein Atem geht schneller.
»Genau hier.« Er streckt die Hand nach seinem Nachttisch aus, öffnet eine Schublade und holt ein kleines, juwelenbesetztes Kästchen hervor, dem er ein schmales Glasfläschchen mit einer undurchsichtigen Flüssigkeit entnimmt, die ganz so aussieht wie das Elixier - nur dass sie grün ist.
Und ich sehe zu, wie er damit vor mir herumwedelt, sehe die Flüssigkeit leuchten und funkeln und kann kaum glauben, dass die Antwort auf all meine Nöte so klein und geballt ist.
»Ich dachte, du hast gesagt, du bewahrst es nicht hier auf«, erwidere ich, und mein Mund ist plötzlich ganz trocken, während ich as Fläschchen betrachte. Die Antwort auf alles schimmert direkt vor mir.
»Habe ich auch nicht. Erst seit gestern Nacht. Davor hatte ich es im Geschäft. Aber hier ist es, Süße - eine einzige Portion, und das Rezept ist nicht in den Akten. Die Liste der Zutaten existiert ausschließlich hier.« Er tippt sich gegen die Schläfe und betrachtete mich aufmerksam. »Also, wir haben einen Deal, stimmt’s? Du zeigst mir deins - und ich gebe dir meins.« Er lächelt und lässt das Gegengift in die Hemdtasche gleiten; dann sieht er mich an und fügt hinzu: »Aber du zuerst. Erfüll zuerst deinen Teil. Bring mich zu ihr - und das Happy End gehört dir.«
Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
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