EINUNDZWANZIG
Als ich im Laden ankomme, rechne ich damit, Jude dort vorzufinden, doch stattdessen ist die Tür abgeschlossen. Und nachdem ich vergeblich versucht habe, die Tür mit Gedankenkraft zu öffnen, suche ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel, mit so zittrigen Fingern, dass ich ihn zweimal fallen lasse, bevor ich endlich hineinkomme. Ich sause so schnell an den Regalen und den CD-Ständern vorbei, dass ich das Bord mit den Engelsfiguren rechts von mir ganz vergesse, und so heftig dagegenstoße, dass sie zu Boden krachen, ein Haufen Trümmer und Scherben. Aber ich halte nicht inne, um das wieder in Ordnung zu bringen. Schaue kein zweites Mal hin. Ich eile einfach weiter, ins Hinterzimmer und zum Schreibtisch, wo ich den Stuhl hervorziehe und völlig zusammenbreche.
Die Stirn gegen das Holz gepresst, hänge ich zusammengesunken über der Tischplatte und bemühe mich mit aller Kraft, meinen Puls und meine Atmung zur Ruhe zu bringen. Ich bin entsetzt über mein Handeln, darüber, wie tief ich gesunken bin. Die Szene von eben läuft wieder und wieder in meinem Kopf ab.
So verharre ich eine Weile, bis meine Haut allmählich abkühlt und mein Verstand langsam klarer wird, und als ich endlich den Kopf hebe und mich gründlich umschaue, fällt mir auf, das der Kalender von der Wand gerissen und vor mich hingestellt worden ist. Das heutige Datum ist rot umkringelt, mit einem Fragezeichen, und mein Name steht dick unterstrichen direkt daneben, außerdem die Worte Vielleicht klappt das? in Judes unordentlicher Krakelschrift.
Und sofort geht mir ein Licht auf, einfach so. Die Lösung, auf die ich gewartet habe, ist jetzt dank Jude in Reichweite. Und sie ist so unglaublich offensichtlich, ich kann es gar nicht fassen, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich Judes Kreis an, und den kleineren, gedruckten Kreis darin, der für den Mond und seine Phasen steht. Und die Tatsache, dass dieser hier komplett ausgefüllt ist, zeigt an, dass der Mond heute dunkel sein wird.
Hekate erhebt sich erneut.
Und plötzlich weiß ich genau, was ich tun muss.
Anstatt darauf zu warten, dass der Mond hell wird und die Göttin zu bitten, den Einfluss der Königin aufzuheben, wie die Zwillinge es mich haben tun lassen - und was die Königin wahrscheinlich erst richtig wütend gemacht hat, weshalb ich auch so kläglich gescheitert bin -, hätte ich auf den heutigen Tag warten sollen, darauf, dass der Mond wieder finster wird, damit ich geradewegs zur Quelle zurückkehren kann. Dort weitermachen kann, wo ich angefangen habe … mit Hekate, der Herrscherin der Unterwelt … und ein Bündnis mit ihr eingehen kann.
Ich greife in die Schublade, lasse das Buch der Schatten links liegen und krame nach ein paar der Zutaten, die ich brauchen werde. Innerlich gelobe ich, das hier irgendwann später bei Jude wiedergutzumachen, während ich Kristalle, Kräuter und Kerzen in meine Tasche stopfe, ehe ich sie mir über die Schulter hänge und mich auf den Weg zum Strand mache. Das ist der einzige Ort, der mir einfällt, der nicht nur die Abgeschiedenheit bietet, die ich suche, sondern auch das Wasser für das rituelle Bad, das ich brauche.
Und in null Komma nichts stehe ich am Rand der Klippe, die Zehen um den Fels gekrallt, während ich auf den Ozean hinausstarre. Er ist so dunkel, dass er mit dem Himmel verschmilzt. Eine ganz ähnliche Nacht geht mir durch den Sinn, erst vor einem Monat, als ich mit Damen hierhergekommen bin und mir so sicher war, dass ich nicht tiefer würde sinken können, als meine beste Freundin zu einer Unsterblichen zu machen. Und keine blasse Ahnung hatte, dass ich im Begriff war, sogar noch weiter zu gehen.
Ängstlich bestrebt, endlich zu beginnen, taste ich mich den Pfad hinunter, suche mir vorsichtig einen Weg um vorspringende Steine und scharfe Biegungen herum. Das Herz hämmert hart in meiner Brust, während mein Körper feucht vor Schweiß wird. Ich bin mir dieses Gefühls bewusst, das in mir emporsteigt, und ich weiß, ich muss anfangen, ehe es wieder die Oberhand gewinnt. Meine Füße graben sich tief in den Sand, als ich auf die Höhle zuhalte und mich darauf verlasse, dass sie leer sein wird, so, wie wir sie zurückgelassen haben. Ich weiß, dass es genauso ist, wie Damen gesagt hat: Die Menschen sehen nur selten das, was vor ihnen ist. Und das hier sehen sie ganz sicher nie.
Ich lasse meine Tasche zu Boden fallen und greife nach einer langen Kerze und einer kleinen Streichholzschachtel. Das Ratschen und Zischen, mit dem das Streichholz über die Schachtel fährt, ist die einzige Begleitmusik zum sanften Anrollen der Wellen. Ich stecke die brennende Kerze in den Sand und mache mich daran, meine restlichen Werkzeuge auf einer Decke anzuordnen, lasse mir einen Augenblick Zeit, alles ordentlich zurechtzulegen, ehe ich meine Kleider abwerfe und hinausgehe.
Mit fest um den Körper geschlungenen Armen wappne ich mich gegen den Wind, der gegen meine Haut stachelt. Fest entschlossen, nicht auf die herausragenden Rippen zu achten, die gegen meine Finger drücken, oder darauf, wie meine Hüftknochen vorstehen, sage ich mir, dass das jetzt alles vorbei ist, die Heilung ist nahe. Niemand, nicht einmal das Ungeheuer, kann mich am Genesen hindern.
Ich eile auf die Gischt zu und presse die Zähne gegen ihren eisigen Biss fest aufeinander, während ich unter einer Reihe von Wellen hindurchtauche, die Augen vor dem brennenden Salz geschlossen. Das Brüllen füllt meine Ohren. Sobald der Ansturm der Brandung vorüber ist und das Meer sich beruhigt hat, drehe ich mich auf den Rücken. Mein Haar ist rings um mich herum ausgebreitet, mein Körper ist schwerelos, aller Bürden ledig. Ich ziehe die Knie an die Brust und schaue zu einem Himmel hinauf, der so vollständig dunkel ist, so gewaltig und geheimnisvoll, dass ich es nicht zu erfassen vermag. Unwillkürlich umklammere ich das Amulett, das Damen mir um den Hals gelegt hat, und beschwöre die Ansammlung der Kristalle, zu helfen und zu schützen, das Ungeheuer lange genug fernzuhalten, um zu tun, was getan werden muss. Lege mein Schicksal in Hekates Hände und verlasse mich darauf, dass, genau wie das Yin und das Yang, jedes Dunkel sein Licht hat.
Wieder und wieder tauche ich unter, bis ich gereinigt und erneuert und bereit bin anzufangen. Dann wate ich ans Ufer; mein Körper ist tropfnass und von Gänsehaut bedeckt, die ich kaum zur Kenntnis nehme. Die Kälte ist jetzt von der warmen Gewissheit gemildert worden, von der absoluten Sicherheit, dass ich nur Sekunden davon entfernt bin, das Ungeheuer zur Strecke zu bringen und mich zu retten.
Die Höhlenwände flackern im Kerzenlicht, das eine Abfolge heller und dunkler Schatten erzeugt. Nachdem ich mein Athame gereinigt habe, indem ich es dreimal durch die Flamme führe, knie ich in der Mitte des magischen Kreises nieder, den ich gezogen habe. Weihrauch in der einen und das Athame in der anderen Hand, führe ich ein Ritual durch, das dem davor ganz ähnlich ist, nur füge ich diesmal hinzu:
Ich rufe Hekate an, Königin der Unterwelt, der Magie
und des Mondes finsterster Nacht
Bitte mach zunichte diesen Bann, löse diese Fessel
und lösche der dunklen Flamme Macht
O große Schirmherrin der Hexen
Geliebte Mutter, Maid und Greisin
Dies ist mein Streben, mein Wille, meine Macht!
So sei es denn getan!
Ehrfürchtig schnappe ich nach Luft, als Windgeheul durch den Raum hallt und Donnerapplaus über mir dröhnt. Seine Urgewalt erzeugt eine so mächtige Vibration, dass der Stuhlstapel umstürzt, während die Erde beginnt, sich zu verschieben und zu regen. Ein rhythmisches, seismisches Zittern und Beben, ein Puls, der irgendwo in tiefster Tiefe entspringt …, der stärker wird, heftiger, sein Umfang nimmt zu …, lässt Felsschichten von den Wänden abbrechen und um mich herum zerbröckeln …
Alles bricht zusammen, zerfällt, bis nichts mehr übrig ist außer dem Erdboden, auf dem ich stehe, einem Schuttberg und einem weiteren Nachthimmel.
Noch immer setzt und regt sich die Erde um mich herum, als ich mich erhebe und danke sage. Vorsichtig suche ich mir einen Weg durch Rauch und Zerstörung, während ich mit beiden Hände durch mein dichtes, glänzendes Haar fahre und so schnell einen Satz saubere Kleider manifestiere, dass ich keinen Zweifel habe - mein Wille ist geschehen.
Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
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