SECHSUNDZWANZIG
Ich lande auf der duftenden Wiese. Widerstrebend, mit schlechtem Gewissen; ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen. Hätte nicht so herkommen sollen. Hätte Roman nicht zusehen lassen sollen, wie ich verschwinde. Aber was blieb mir denn anderes übrig?
Meine Entschlossenheit ließ nach, wurde von dem Ungeheuer in meinem Innern immer mehr untergraben, und ein paar Sekunden länger in seiner Gegenwart wären mit Sicherheit das Ende gewesen. Mein Ende. Das Ende von allem, was mir teuer ist.
Denn die Sache ist die - Roman hat Recht. Hat vollkommen und absolut Recht. Der einzige Grund, warum ich verloren habe, der einzige Grund, warum ich nicht bekommen habe, was ich will, ist, dass ich das Ungeheuer bin, es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Es trifft alle Entscheidungen, stellt alle Bedingungen, während ich nur als Beifahrer fungiere und keine Ahnung habe, wie ich die Bremse ziehen oder aussteigen soll. Ich habe keine Optionen mehr. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Alles, was ich weiß, ist:
Der Umkehrzauber hat nicht funktioniert und das Gesuch an Hekate auch nicht.
Und Damen, nun ja, Damen kann mich nicht retten.
Er darf nie erfahren, was für etwas Widerwärtiges ich gerade beinahe getan hätte.
Er kann mich nicht die nächsten hundert Jahre vor mir selbst schützen.
Ich bin so tief gesunken, so weit vom Weg abgekommen, dass es kein Zurück mehr gibt. Dass mein Leben nicht wieder ins rechte Gleis gebracht werden kann. Auf keinen Fall kann ich auf die Erdebene zurückkehren und das alles riskieren.
Also wandere ich los, habe absolut kein Ziel im Kopf und keine blasse Ahnung, was ich tun werde, wenn ich dort ankomme. Ich wandere an dem regenbogenbunten Bach entlang, setze gemächlich einen Fuß vor den anderen, schlendere dahin und achte kaum darauf, dass der Bach endet und der Boden unter meinen Füßen zu einem matschigen, nassen, schlammigen Pfad wird.
Merke es kaum, als die Luft um einige Grad abkühlt und der goldene Dunst dichter wird, dicker, undurchsichtiger. Und vielleicht erklärt das ja meinen Schock, als ich sie erblicke. Als mir klar wird, dass ich, ohne es zu wissen, den Ort erreicht habe, wo der Nebel immer am dichtesten ist, wo es leicht ist, sich endgültig zu verirren. Ich betrachte die vertrauten, leicht abwärtsgeneigten Linien, die ausgefransten, verwitterten Taue, die splitterigen Holzbretter. Ihre Form verschwimmt und wird wieder scharf, dann wird sie wieder vom Nebel verhüllt, doch trotzdem, man kann nicht leugnen, was es ist.
Kann die Brücke nicht verkennen, die zur anderen Seite führt.
Die Brücke der Seelen.
Ich knie daneben nieder. Meine Knie sinken tief in die feuchte, dunstgeschwängerte Erde, und ich frage mich, ob das ein Zeichen ist, ob ich absichtlich hergeführt worden bin, ob ich die Brücke endlich überschreiten soll.
Was ist, wenn mir die Gelegenheit, die ich damals nicht genutzt habe, jetzt von Neuem geboten wird? Ein ganz spezieller Deal für Wiederholungstäter wie mich, und keine Fragen?
Ich greife nach dem Geländer, ein altes, ausgefranstes Tau, das aussieht, als könnte es jeden Augenblick reißen, und sehe, wie der Nebel zur Mitte der Brücke hin immer dichter wird, so dicht, dass das endgültige Ziel ein weiß verschleiertes Mysterium ist. Dabei rufe ich mir ins Gedächtnis, dass dies hier genau die Brücke ist, die zu überqueren ich Riley gedrängt habe. Die, über die meine Eltern und Buttercup zur anderen Seite gelangt sind. Und wenn sie hinübergegangen und gut angekommen sind, also wirklich, wie schwer kann das dann denn sein?
Ich meine, was wäre, wenn ich einfach aufstehen, mich abklopfen, tief Luft holen und hinübergehen würde?
Was, wenn alles, was nötig ist, um meine sämtlichen Probleme zu lösen, das Ungeheuer loszuwerden, die Flamme zu löschen und meine Familie wiederzusehen, nur ein einziger kleiner Schritt ist, gefolgt von einem zweiten?
Eine Hand voll Schritte auf ihre warmen Arme zu, die mich willkommen heißen.
Eine Hand voll Schritte fort von Roman, von Haven, den Zwillingen, von Ava und diesem schrecklichen Durcheinander, das ich angerichtet habe.
Eine Hand voll Schritte auf den Frieden zu, nach dem ich suche.
Ich meine, ganz im Ernst, was kann denn schon passieren? Bestimmt finde ich dort doch meine Familie, die auf mich wartet, genau wie in all diesen Jenseits-Filmen im Fernsehen?
Ich packe das Tau fester und stemme mich hoch; meine Beine sind zittrig und wollen mich nicht recht tragen, als ich mich ein ganz kleines bisschen nach vorn beuge, um besser sehen zu können. Dabei überlege ich, wie weit ich wohl gehen muss, bis ich den Punkt erreiche, an dem es kein Zurück mehr gibt. Mir fällt wieder ein, wie Riley behauptet hat, sie hätte es ungefähr halb hinüber geschafft, ehe sie kehrtgemacht hat und losgezogen ist, um mich zu suchen. Nur um sich dabei so im Nebel zu verfranzen, dass sie die Brücke nicht wiederfinden konnte - oder zumindest eine Zeit lang nicht.
Doch selbst wenn ich beschließe weiterzugehen, ganz bis auf die andere Seite, wäre meine endgültige Bestimmung dieselbe wie ihre? Oder wäre es mehr wie ein Güterzug, der plötzlich auf ein anderes Gleis geleitet wird und mich zum ewigen Abgrund des Schattenlandes bringt statt ins wunderschöne Jenseits?
Ich hole tief Luft und verlagere mein Gewicht, hebe einen Fuß vom durchweichten Boden und will ihn gerade vorsetzen, als mich urplötzlich eine tröstliche Woge der Ruhe überrollt …, ein friedlicher Rausch, der nur eins bedeuten kann, den nur ein einziger Mensch in mir auslösen kann. Eine Ruhe, die so gegensätzlich zu Damens Kribbeln und Hitze ist, dass ich nicht im Mindesten überrascht bin, als ich mich umdrehe und Jude neben mir erblicke.
»Du weißt doch, wo die hinführt, oder?« Er deutet auf die sanft schaukelnde Brücke und gibt sich alle Mühe, mit klarer Stimme zu sprechen, doch das nervöse Zittern darin verrät alles.
»Ich weiß, wo sie für andere Leute hinführt.« Mein Blick wandert zwischen ihm und der Brücke hin und her. »Allerdings habe ich keine Ahnung, wohin sie mich bringen wird.«
Er blinzelt, während er mich bedächtig und sorgfältig mustert. Dann sagt er behutsam: »Sie führt auf die andere Seite. Für jeden. Keine Trennlinien. Keinerlei Segregation. Überlass solche Urteile der Erdebene, hier gibt’s das nicht.«
Ich zucke die Achseln und bin nicht überzeugt. Er weiß nicht, was ich weiß. Hat nicht gesehen, was ich gesehen habe. Wie kann er also irgendetwas darüber wissen, was für mich gilt und was nicht?
»Trotzdem.« Er nickt, fängt meine Gedanken laut und deutlich auf. »Ich weiß nicht recht, ob du das überhaupt schon in Erwägung ziehen solltest. Das Leben ist ohnehin kurz genug, weißt du? Sogar an den Tagen, an denen es einem echt unheimlich lang vorkommt. Wenn alles vorbei ist, war’s in Wirklichkeit nur ein kurzes Aufblitzen in der Ewigkeit, glaub mir.«
»Für dich vielleicht, aber nicht für mich«, erwidere ich und begegne seinem Blick offen und aufrichtig, mache eindeutig klar, dass ich bereit bin, ihm alles zu erzählen. Zu reden, ihm die ganze schäbige Geschichte anzuvertrauen, alles auf den Tisch zu legen, alles und jedes, was ich so lange für mich behalten habe - er braucht nur zu fragen, und er bekommt ein vollständiges Geständnis. »Für mich ist es bestimmt nicht nur ein kurzes Aufblitzen.«
Er reibt sich das Kinn und runzelt die Stirn, versucht ganz offenkundig, einen Sinn in meinen Worten zu finden.
Und mehr ist nicht nötig. Sein Wunsch zu verstehen, und alles bricht hervor. Alles. Ein absoluter Wortschwall, so schnell und so wüst, dass alle durcheinandergeraten. Das Ganze reicht weit zurück, von jenem allerersten Tag am Unfallort, wo Damen mir zum ersten Mal das Elixier verabreicht und mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin, bis zu der Wahrheit über Roman, wer er wirklich ist und wie er dafür gesorgt hat, dass Damen und ich niemals zusammen sein können. Ava und die Zwillinge und die seltsame Vergangenheit, die sie verbindet. Wie ich aus Haven genauso einen Freak gemacht habe, wie ich einer bin, die Chakren und dass die einzige Möglichkeit, uns auszulöschen, darin besteht, auf unsere Schwächen zu zielen. Und natürlich erzähle ich ihm vom Schattenland, dem ewigen Abgrund, wohin alle Unsterblichen gehen - das Einzige, was mich auf dieser Seite der Brücke hält. Die Worte sprudeln so schnell hervor, dass ich ihnen nicht Einhalt gebieten kann. Es nicht einmal versuche. Ich bin so erleichtert, alles loszuwerden, angestachelt von seiner Bemühung, ruhig zu bleiben und nicht völlig auszurasten, mich einfach weiterreden zu lassen.
Und als ich zu der Sache mit Roman komme, von der grauenhaften Anziehung erzähle, die er auf mich ausübt, der dunklen Flamme, die weiter in mir brennt und dem entwürdigenden Moment, dem ich vorhin gerade eben noch entkommen bin, sieht er mich an und sagt: »Ever, bitte, nicht so schnell. Ich kriege das alles kaum auf die Reihe.«
Ich nicke mit hämmerndem Herzen und hochroten Wangen, die Arme fest um den Körper geschlungen. Das Haar klebt mir in langen, strähnigen, nassen Placken an Wangen, Schultern und Rücken, schwer von den dicken, runden Tautropfen, die ohne Unterlass immer weiter fallen. Eine ganze Schar Neuankömmlinge strebt eifrig auf die andere Seite hinüber; die Brücke schwankt und sackt durch, während sie unbeirrbar geradeaus marschieren, und aus jedem Augenpaar strahlt ein wunderbares Licht.
»Hör mal, können wir woandershin gehen?« Mit einem Kopfnicken deutet Jude auf die Menschenschlange; sie ist so lang, dass ich mich frage, ob sich gerade irgendeine Katastrophe ereignet hat. »Ich finde das alles ein bisschen unheimlich.«
»Du hast doch beschlossen herzukommen.« Ich zucke die Achseln und habe das unerklärliche Gefühl, mich verteidigen zu müssen, außerdem quält mich die Reue des Geständigen. Ich meine, da habe ich gerade meine Geschichte zum Besten gegeben, in vollem Umfang, habe gerade alles für ihn zu Tage gefördert, und alles, was ihm einfällt, ist nicht so schnell und lass uns hier abhauen? Ich schüttele den Kopf und verdrehe die Augen. Das ist nicht gerade die Reaktion, auf die ich aus war. »Ich meine, jetzt mal im Ernst. Ich habe dich schließlich nicht gebeten mitzukommen, du bist einfach aufgetaucht.«
Er sieht mich an, lässt sich von meinem Stimmungsumschwung nicht aus der Ruhe bringen, und seine Mundwinkel heben sich. »Na ja, nicht ganz.«
Ich starre ihn an und frage mich, was er meint.
»Ich habe deinen Hilferuf gehört und bin Nachsehen gekommen. Ich habe nach dir gesucht, nicht nach … nach dem hier.«
Ich kneife die Augen zusammen und will das gerade abstreiten, als mir meine erste Begegnung mit den Zwillingen einfällt, ein Zusammentreffen, das fast genauso abgelaufen ist.
»Ich wollte ja gar nicht rübergehen«, beteuere ich, und meine Wangen werden heiß vor Verlegenheit. »Ich meine, vielleicht habe ich darüber nachgedacht, aber nur ganz kurz, und auch nicht im Ernst, na ja, nicht wirklich. Ich war bloß neugierig - das ist alles. Außerdem kenne ich zufällig ein paar Leute, die da drüben sind, und na ja, manchmal vermisse ich sie.«
»Und da hast du gedacht, du gehst sie mal eben kurz besuchen?« Sein Tonfall ist ganz locker, doch die Worte wiegen schwer, schwerer, als er denkt.
Ich schüttele den Kopf und starre auf meine schlammbedeckten Füße.
»Und - was dann? Was hat dich davon abgehalten, Ever? Ich?«
Ich hole tief Luft und dann gleich noch einmal; ich brauche einen Moment, bevor ich den Blick hebe und dem seinen begegne. »Ich … Ich hätt’s nicht getan. Ich meine, ja, ich war ein bisschen in Versuchung und so, aber ich hätte es gelassen, ob du nun aufgetaucht wärst oder nicht. Zum Teil, weil’s nicht richtig ist, so viel unerledigt zu lassen, so viele Patzer, die andere ausbügeln müssen. Und zum Teil, weil bei dem, was ich über die Seele eines Unsterblichen weiß, und wo die am Schluss landet, also, ganz gleich wie sehr ich finde, dass ich gar nichts anderes verdient habe, ich werde nicht Hals über Kopf auf dieses Ende zusteuern. Ich habe die andere Seite gesehen, oder jedenfalls die, die für mich vorgesehen ist. Und so leid es mir tut, aber meine Familie ist dort wohl kaum hingekommen. Ich fürchte, wenn ich sie wiedersehen will, werde ich sehr viel mehr Glück haben, wenn ich es durch dich versuche, als ich jemals haben werde, wenn ich diese Brücke überquere, ganz zu schweigen von …«
Er sieht mich an und wartet.
Ich seufze und scharre mit dem Fuß auf dem Boden, entschlossen, ihm den allerwichtigsten Grund zu gestehen, egal wie mies er sich dabei fühlt, und ich sehe ihm in die Augen und straffe die Schultern, während ich fortfahre: »Ganz zu schweigen davon, dass ich das Damen niemals antun könnte.« Mein Blick begegnet Judes, ehe ich schnell wegschaue. »Ich könnte ihn nie so sitzen lassen …, nicht nach …« Ich stocke und versuche, gegen den Klumpen in meiner Kehle anzuschlucken. »Nicht nach allem, was er für mich getan hat.« Heftig reibe ich meine Arme, um mich zu wärmen, dabei ist mir eigentlich gar nicht kalt. Ich bin nur verlegen. Ich bin verlegen und fühle mich ganz sicher nicht wohl in meiner Haut.
Doch Jude nickt nur und versichert mir, dass alles gut wird. Seine Hand liegt in meinem Kreuz, als er mich schweigend von der Brücke weglotst, von der langen Reihe der Seelen, die fröhlich auf die andere Seite hinüberhüpfen, und zurück auf die Erdebene.
Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
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