NEUNUNDZWANZIG
Bevor ich anklopfen kann, ist Damen da. Aber er war auch immer schon da. Und das meine ich sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne. Er war die letzten vierhundert Jahre da, genauso, wie er jetzt da ist, barfuß, mit offenem Bademantel und auf wahnsinnig reizvolle Weise zerzausten Haaren. Verschlafen schaut er mich mit schweren Lidern an.
»Hey.« Seine Stimme ist schwer und rau; der Tag ist noch neu für sie.
»Selber hey.« Ich lächele und gehe an ihm vorbei auf die Treppe zu, dabei fasse ich seine Hand und ziehe ihn mit. »Das war wirklich kein Witz, dass du immer spüren kannst, wenn ich in der Nähe bin, nicht wahr?«
Seine Finger schließen sich fester um meine, während er mit denen seiner freien Hand durch sein wirres Haar fährt und versucht, es zu bändigen, doch ich dränge ihn dazu, es so zu lassen. Ich sehe ihn so selten so, benommen und ein bisschen unordentlich, und ich muss sagen, irgendwie gefällt es mir.
»Also, was liegt an?« Er folgt mir in sein ganz besonderes Zimmer und kratzt sich am Kinn, während er zusieht, wie ich angesichts seiner Sammlung sehr alter Dinge ins Schwärmen gerate.
»Also, zuerst mal geht’s mir besser.« Ich kehre einer sehr ernsten Picasso-Version von ihm den Rücken zu zugunsten der sehr viel süßeren, sehr viel knackigeren realen Ausgabe. Mein Blick begegnet dem seinen, als ich hinzufüge: »Ich meine, ich bin vielleicht noch nicht komplett und total angekommen, aber ich bewege mich definitiv in die richtige Richtung. Wenn ich bei der Stange bleibe, sollte es nicht lange dauern.«
»Stange?« Er lehnt sich gegen ein altes Samtsofa, während er mich so eingehend mustert, dass ich unwillkürlich verlegen mit den Händen über mein Kleid fahre und im Stillen denke, dass ich mir wenigstens die Zeit hätte nehmen sollen, etwas zum Anziehen zu manifestieren, das nicht so zerknittert ist, ehe ich losgestürzt bin.
Doch ich war so aufgeputscht von meinem Gespräch mit Ava und der Serie heilender und reinigender Meditationen, die sie mich hat durchführen lassen, na ja, ich konnte einfach nicht warten. Konnte es nicht erwarten, es ihm zu erzählen - wieder bei ihm zu sein.
»Ava hat mir eine Art Heilfasten verordnet.« Ich lache. »Nur eben eins von der mentalen Sorte, nicht das mit dem grünen Tee und all dem. Sie sagt, das macht mich … na ja … Das macht, dass es mir besser geht. Dass ich wieder heil bin, rundumerneuert.«
»Aber ich dachte, es wäre dir gestern schon besser gegangen? Oder zumindest hast du das im Sommerland gesagt.«
Ich nicke, fest entschlossen, mich auf meinen letzten Ausflug mit ihm zu konzentrieren. Und nicht auf den, der auf die grauenvolle Szene mit Roman gefolgt ist, als ich Jude begegnet bin. »Ja, aber - jetzt fühle ich mich sogar noch besser …, stärker …, so wie früher.« Ich sehe ihn an und weiß, dass ich den nächsten Teil gestehen muss, das gehört zu dem reinigenden Ritual - reinen Tisch machen, Wiedergutmachung leisten, gar nicht so anders als bei einem normalen Programm der Zwölf Schritte. Aber ich war auch gar nicht so anders drauf als jeder andere Süchtige, der mit einer schrecklichen Abhängigkeit kämpft.
»Ava sagt, ich war süchtig nach Negativem.« Ich schlucke heftig und sehe ihn an, zwinge mich, seinem Blick standzuhalten. »Es war nicht nur die Magie oder Roman. Ihrer Meinung nach war ich süchtig danach, über meine Ängste nachzugrübeln, über das Schlechte in meinem Leben - du weißt schon, meine falschen Entscheidungen, und dass wir nicht wirklich zusammen sein können, und, na ja, all so was eben. Und dadurch, indem ich mich auf all das konzentriert habe, habe ich letzten Endes, äh, alles Mögliche an Dunkelheit angezogen, und Traurigkeit und, na ja, auch Roman. Und das hat dazu geführt, dass ich mich von den Menschen abgewendet habe, die ich am liebsten habe. Von dir zum Beispiel.«
Wieder schlucke ich und gehe auf ihn zu, während ein Teil meines Gehirns schreit: Sag es ihm! Sag ihm, was dich wirklich zu dieser Schlussfolgerung verleitet hat. Was mit Roman passiert ist - wie finster und verschroben du geworden bist!
Während der andere Teil, der, auf den ich zu hören beschließe, sagt: Du hast schon genug gesagt - es wird Zeit, zum nächsten Punkt zu kommen. Das Letzte, was er hören will, sind die ekligen Details.
Er kommt auf mich zu, greift nach meinen Händen und zieht mich an sich, während er die Frage in meinem Blick beantwortet. »Ich verzeihe dir, Ever. Ich werde dir immer verzeihen. Ich weiß, es war nicht leicht, all das zuzugeben, aber ich finde es wirklich toll, dass du es getan hast.«
Noch einmal schlucke ich krampfhaft und weiß, dass jetzt meine Chance ist, die allerletzte; dass es viel besser ist, wenn er es von mir hört als von Roman. Doch gerade als ich loslegen will, streicht er mit der Hand meinen Rücken hinunter, und der Gedanke zerschmilzt, bis ich nur noch darauf achten kann, wie er sich anfühlt, auf die Wärme seines Atems auf meiner Wange, auf das sanfte Beinahe-Streifen seiner Lippen an meinem Ohr, das verblüffende Gefühl aus Kribbeln und Hitze, das mich vom Kopf bis zu den Zehen durchzieht. Seine Lippen finden die meinen, drängen und pressen, während der stets gegenwärtige Schutzschild zwischen uns schwebt. Aber ich ärgere mich nicht mehr darüber, achte gar nicht mehr darauf. Ich bin entschlossen, die Dinge so zu genießen, wie sie sind.
»Wollen wir ins Sommerland, ein bisschen rumknutschen?«, flüstert er, nur halb im Scherz. »Du kannst die Muse sein, und ich bin der Künstler, und …«
»Und du kannst mich so oft küssen, dass du das Bild nicht fertigkriegst?« Lachend mache ich mich von ihm los, doch er zieht mich abermals an sich.
»Aber ich habe dich doch schon gemalt.« Er lächelt. »Das einzige Bild von mir, das wirklich von Bedeutung ist.« Dann, als er meinen fragenden Blick sieht, fügt er hinzu: »Du weißt schon, das, das jetzt irgendwo im Getty Museum hängt.«
»Ach ja.« Ich lache, als ich an jenen magischen Abend denke, als er eine so wunderschöne, so engelsgleiche Version von mir gemalt hat, dass ich sicher war, das nicht verdient zu haben. Aber so denke ich nicht mehr. Wenn das, was Ava sagt, stimmt, wenn Gleiches sich gern zu Gleichem gesellt und Wasser tatsächlich nach seinem eigenen Pegel strebt und all das, dann möchte ich sehr viel lieber nach Damens Pegel streben als nach Romans, und hier fange ich damit an. »Das hängt wahrscheinlich in irgendeinem unterirdischen Labor, in einem fensterlosen Hochsicherheitskeller, wo sich Hunderte von Kunsthistorikern versammelt haben, nur um es zu studieren und herauszufinden versuchen, wer es gemalt hat und wo es hergekommen sein könnte.«
»Meinst du?« Er schaut in die Ferne und findet ganz offensichtlich Gefallen an dieser Vorstellung.
»Also«, murmele ich und drücke die Lippen auf seinen Unterkiefer, während meine Finger mit dem Kragen seines Bademantels spielen. »Wann feiern wir eigentlich deinen Geburtstag? Und wie soll ich jemals das Geschenk toppen, das du mir gemacht hast?«
Er dreht den Kopf und seufzt. Die Sorte Seufzer, die von irgendwo ganz tief unten kommt, und ich meine damit nicht das körperliche Tief-Unten, sondern das emotionale. Es ist ein Seufzer voller Traurigkeit und Bedauern. Es ist der Klang der Melancholie.
»Ever, wegen meines Geburtstags brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich habe ihn nicht mehr gefeiert, seit …«
Seit er zehn geworden ist. Natürlich! Dieser grauenvolle Tag, der so schön angefangen hatte und damit endete, dass er zusehen musste, wie seine Eltern ermordet wurden. Wie konnte ich das vergessen?
»Damen, es tut mir …«
Ich setze zu einer Entschuldigung an, doch er winkt ab, kehrt mir den Rücken zu und geht zu dem Velázquez-Gemälde hinüber, das ihn auf dem sich aufbäumenden weißen Hengst mit der dichten, lockigen Mähne zeigt. Dort hantiert er an der Ecke des übergroßen, reich verzierten Goldrahmens herum, als müsse der dringend gerade gerückt werden, obwohl das eindeutig nicht der Fall ist.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagt er und will mich noch immer nicht ansehen. »Wirklich. Die Jahre zu zählen kommt einem wohl nicht mehr ganz so wichtig vor, nachdem man so viele hinter sich hat.«
»Wird das bei mir auch so sein?« Ich tue mich schwer damit, einen Geburtstag nicht wichtig zu finden oder, noch schlimmer, zu vergessen, an welchem Tag er ist.
»Das werde ich nicht zulassen.« Er dreht sich um, und sein Gesicht hellt sich auf, als er mich betrachtet. »Jeder Tag wird eine Feier sein - von jetzt an. Das verspreche ich dir.«
Obgleich es ihm ernst ist, obgleich er es genau so meint, schüttele ich den Kopf. Denn die Wahrheit ist, so wild entschlossen ich auch bin, meine Energie zu befreien und mich nur noch auf die positiven Dinge zu konzentrieren, auf die ich aus bin, das Leben ist trotzdem noch das Leben. Es ist noch immer hart, kompliziert und ziemlich durcheinander, mit Lektionen, die gelernt, und Fehlern, die gemacht werden müssen, mit Triumphen und Enttäuschungen. Nicht jeder Tag ist dazu bestimmt, ein Fest zu sein. Und ich glaube, ich begreife endlich, akzeptiere endlich, dass das völlig in Ordnung ist. Ich meine, nach allem, was ich gesehen habe, hat sogar das Sommerland seine dunkle Seite, seine eigene Version eines Schattenselbst, eine kleine finstere Ecke mitten in all dem Licht - oder zumindest ist es mir so vorgekommen.
Ich sehe ihn an und weiß, dass ich ihm das sagen muss, und ich frage mich, warum ich es noch nicht erwähnt habe, als mein Handy klingelt. Wir sehen einander an und rufen: »Raten!« Ein Spiel, das wir manchmal spielen, um zu sehen, wessen hellseherische Fähigkeiten größer und schneller sind; wir haben nur eine Sekunde, um zu antworten.
»Sabine!« Logischerweise nehme ich an, dass sie aufgewacht ist, mein Bett leer vorgefunden hat und sich jetzt ganz ruhig daranmacht herauszufinden, ob ich entführt worden bin oder das Haus aus freien Stücken verlassen habe.
Doch weniger als den Bruchteil einer Sekunde später sagt Damen: »Miles.« Aber seine Stimme klingt nicht im Mindesten spielerisch, und sein Blick verfinstert sich besorgt.
Ich ziehe das Handy aus der Tasche, und tatsächlich, da ist das Foto, das ich von Miles gemacht habe, auf dem er in voller Tracy-Turnblad-Montur posiert und mich anstrahlt.
»Hey, Miles«, melde ich mich und bekomme eine geballte Ladung Rauschen, Summen und statisches Knistern zu hören, der übliche Soundtrack eines Überseetelefonats.
»Habe ich dich geweckt?«, fragt er, und seine Stimme klingt klein und weit weg. »Wenn ja, also, sei froh, dass du nicht in meiner Haut steckst. Meine innere Uhr ist schon seit Tagen völlig durcheinander. Ich schlafe, wenn ich eigentlich essen sollte, und esse, wenn ich … Na ja, streichen wir das, denn hier in Italien ist das Essen klasse. Ich esse so ziemlich andauernd. Ehrlich, ich weiß echt nicht, wie die Leute hier das anstellen und trotzdem so rattenscharf aussehen. Das ist echt nicht fair. Ein paar Tage dolce vita, und ich bin ein pummeliges, aufgedunsenes Etwas - und trotzdem finde ich’s toll. Ich mein’s absolut ernst, hier ist es wirklich super! Na, jedenfalls, wie spät ist es eigentlich bei euch?«
Ich schaue mich im Zimmer um, kann aber keine Uhr entdecken, also zucke ich bloß die Achseln und antworte: »Äh, früh. Und bei dir?«
»Ich habe keine Ahnung, aber wahrscheinlich Nachmittag. Gestern Abend war ich in diesem voll abgefahrenen Club - weißt du eigentlich, dass man nicht einundzwanzig sein muss, um hier in einen Club zu gehen oder was zu trinken? Ich sag’s dir, Ever, das ist das einzig Wahre! Die Italiener verstehen es echt zu leben! Aber, egal, das hebe ich mir alles für später auf, wenn ich zurückkomme. Ich werd’s dir sogar vorspielen und alles, ich verspreche es. Aber jetzt kriegt mein Dad bestimmt sowieso schon’nen Herzinfarkt, weil dieses Gespräch so teuer ist, also komm ich mal einfach zur Sache. Du musst Damen sagen, dass ich in dem Laden war, von dem Roman mir erzählt hat, und … Hallo? Hörst du mich? Bist du noch da?«
»Äh, ja, ich bin noch da. Du bist ein bisschen zerhackt, aber, okay, jetzt geht’s wieder.« Ich wende Damen den Rücken zu und mache ein paar Schritte von ihm weg, hauptsächlich, weil ich nicht will, dass er die schreckliche Maske der Angst sieht, die sich auf meinem Gesicht zeigt.
»Okay, also, jedenfalls war ich in dem Schuppen, von dem Roman die ganze Zeit gequatscht hat, ich bin sogar gerade eben erst da weg und, also ich muss dir sagen, Ever, die haben da ein paar echt abgedrehte Sachen. Und ich meine wirklich voll abgedreht. Also, da hat jemand wirklich’ne Menge zu erklären, wenn ich nach Hause komme.«
»Inwiefern abgedreht?«, frage ich und fühle Damens Gegenwart jetzt direkt hinter mir, wie seine Energie sich von entspannt zu hellwach verschiebt.
»Einfach abgedreht. Mehr sage ich nicht darüber … Mist … Hörst du mich? Du bist schon wieder weg. Hör zu, mach einfach … Jedenfalls, ich habe dir ein paar Fotos gemailt, also, was immer du tust, lösch die ja nicht, ohne sie dir vorher anzuschauen. Okay? Ever? Ever! Dieses dämliche … verdammte Han…«
Ich schlucke heftig und schalte das Handy aus. Dann fühle ich Damens Hand auf meinem Arm. »Was wollte er?«
»Er hat mir Fotos geschickt«, antworte ich mit leiser Stimme und wende den Blick nicht von seinen Augen ab. »Irgendwas, was wir unbedingt sehen sollen.«
Damen nickt und arrangiert seine Gesichtszüge zu einem Ausdruck entschlossenen Einverständnisses, als wäre der Augenblick gekommen, auf den er gewartet hat, und jetzt warte er nur noch auf den Fallout, darauf, wie ich reagiere, wie viel Schaden angerichtet worden ist.
Ich klicke zur Homepage und von dort auf den Maileingang; dann warte ich, während der kleine Verbindungskreisel sich weiter und weiter dreht, bis Miles’ Nachricht angezeigt wird. Und dann, als sie auftaucht, halte ich den Atem an und klicke darauf … und warte … und überlege … und bin mir bewusst, dass meine Knie ganz wackelig werden, sobald ich es sehe.
Das Bild.
Oder vielmehr das Bild von dem Gemälde. Die Fotografie war damals noch lange nicht erfunden, und das würde auch noch etliche hundert Jahre dauern. Aber trotzdem, da ist es, genau vor meiner Nase, und es ist unverkennbar, dass er das ist. Dass sie das sind. Zusammen Modell stehen.
»Wie schlimm ist es?«, fragt Damen, und sein Körper ist vollkommen still, während er mich mustert. »So schlimm, wie ich erwartet habe?«
Ich sehe ihn an, aber nur ganz kurz, ehe ich wieder auf das Display schaue, den Blick nicht davon losreißen will. »Kommt drauf an, was du erwartet hast«, erwidere ich halblaut und denke daran, wie ich mich damals im Sommerland gefühlt habe, als ich heimlich seine Vergangenheit ausgeforscht habe. Wie schlecht mir war, wie total eifersüchtig ich war, als ich zu dem Teil kam, wo er sich mit Drina zusammengetan hat. Aber das hier - das ist überhaupt nicht so. Nicht im Geringsten. Oh, sicher, Drina sieht umwerfend aus - Drina hat immer umwerfend ausgesehen, selbst in ihren hässlichsten und gemeinsten Momenten war sie atemberaubend, jedenfalls zumindest äußerlich. Und bestimmt spielt es überhaupt keine Rolle, in welcher Dekade sie sich gerade befand, ob nun in der Zeit der Turnüre oder in der des Tellerrocks; ich bin sicher, sie hat auch darin toll ausgesehen. Doch Tatsache ist, dass Drina weg ist, so weg, dass der Gedanke an sie, ihr Anblick, mich eigentlich nicht mehr besonders stört. Es macht mir sogar überhaupt nichts mehr aus.
Was mir zu schaffen macht, ist Damen. Wie er dasteht, wie er den Porträtmaler ansieht und wie …, wie arrogant und eitel und, na ja, eingebildet er ist. Und obwohl ein Hauch jener Verruchtheit an ihm ist, die mir gefällt, hier ist sie nicht ganz so verspielt, wie ich es gewohnt bin. Es ist sehr viel weniger Komm, lass uns die Schule schwänzen und auf der Rennbahn wetten und sehr viel mehr Das hier ist meine Welt, und du kannst von Glück sagen, dass ich dich darin leben lasse.
Und je länger ich die beiden ansehe - Drina sitzt ganz brav auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, die Hände sittsam im Schoß gefaltet und das Haar mit so viel Juwelen und Bändern und Glitzerkram geschmückt, dass es an jedem anderen lächerlich aussehen würde, und Damen steht hinter ihr, eine Hand auf der Lehne ihres Stuhls, die andere hängt herunter, das Kinn angehoben und die Brauen auf so eine coole, hochmütige Art und Weise hochgezogen … Also, er hat einfach irgendetwas an sich, irgendetwas ist in seinem Blick, das fast grausam ist, skrupellos sogar. Als wäre er bereit zu tun, was immer notwendig ist, was immer es kostet, um zu bekommen, was er will.
Und obwohl er sein »Vorher-Bild« sehr oft erwähnt hat, das seines früheren, narzisstischen, machtgierigen Ich - davon zu hören, ist eine Sache; es vor sich zu sehen, ist etwas ganz anderes.
Doch obwohl noch drei weitere Porträts an der Mail dranhängen, werfe ich nur einen ganz flüchtigen Blick darauf. Miles interessiert nur die Tatsache, dass Damen und Drina vor Hunderten von Jahren zusammen auf einer Leinwand festgehalten worden sind und dass sie es auf jedem weiteren Porträt, von denen manche laut der Rahmenschildchen im Abstand von mehreren Jahrhunderten gemalt worden sind, irgendwie schaffen, jung, schön und beängstigend unverändert auszusehen. Damens Auftreten ist ihm völlig schnuppe, wie er sich hielt, der Ausdruck in seinen Augen - nein, das war eine Überraschung für mich.
Ich reiche Damen das Handy und sehe, wie seine Finger ganz leicht zittern, als er es nimmt und rasch die Bilder durchsieht, ehe er es mir zurückgibt. Seine Stimme ist leise und gefasst, als er sagt: »Ich habe das schon einmal gelebt, ich brauche es nicht noch mal zu sehen.«
Ich nicke und verstaue das Handy wieder in meiner Tasche, lasse mir zu viel Zeit dabei, weiche ganz offenkundig seinem Blick aus.
»Jetzt hast du ihn also gesehen. Das Ungeheuer, das ich früher einmal war.« Seine Worte treffen mich direkt ins Herz.
Ich schlucke und lasse meine Handtasche auf den dicken Teppich fallen, ein unbezahlbares antikes Stück, das eigentlich in ein Museum gehört und nicht so im Alltag benutzt werden sollte. Seine seltsame Wortwahl erinnert mich an mein Gespräch mit Ava - jeder hat ein Ungeheuer, eine dunkle Seite, keinerlei Ausnahmen. Und obwohl die meisten Menschen ihr Leben lang entschlossen sind, es zu begraben, es ganz tief unten einzusperren, wenn man so lange gelebt hat wie Damen, dann wird man wohl von Zeit zu Zeit mit ihm konfrontiert.
»Es tut mir leid«, sage ich, und plötzlich geht mir auf, dass das tatsächlich stimmt. Es spielt doch kaum eine Rolle, wo wir gewesen sind. Wo wir jetzt sind, das ist es, was zählt. »Ich … Ich habe wohl nicht damit gerechnet und war ein bisschen verdattert. So habe ich dich noch nie wirklich gesehen.«
»Nicht mal im Sommerland?« Er sieht mich an. »Nicht einmal in den Großen Hallen des Wissens?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, das habe ich meistens alles im Schnelldurchlauf vorgespult. Ich konnte es nicht ertragen, dich mit Drina zu sehen.«
»Und jetzt?«
»Und jetzt …« Ich seufze. »Drina macht mir jetzt nichts mehr aus - nur noch du.« Ich versuche zu lachen, die Stimmung etwas aufzulockern, doch es klappt nicht ganz.
»Also, wenn ich mich nicht irre, dann nennt man so etwas Fortschritt, glaube ich.« Er lächelt, zieht mich in seine Arme und drückt mich fest an seine Brust.
»Und Miles?« Mein Blick erforscht sein Gesicht, die Neigung seiner Stirn, den kantigen Unterkiefer, und meine Finger kratzen in den Stoppeln, die dort wachsen. »Was sollen wir ihm sagen? Wie sollen wir das jemals erklären?« Mein Zögern, meine flüchtige Ablehnung seins alten Ichs ist endgültig verschwunden. Unsere Vergangenheit mag uns formen, aber sie bestimmt nicht, zu wem wir werden.
»Wir sagen ihm die Wahrheit.« Er nickt, und seine Stimme ist fest, als ob er das wirklich ernst meint. »Wenn die Zeit gekommen ist, sagen wir ihm die Wahrheit. Und so, wie sich die Dinge entwickeln, wird das nicht mehr lange dauern.«
Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
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