FÜNFUNDZWANZIG
Als ich bei Roman ankomme, bleiben mir nur
noch wenige Minuten. Zwei, um genau zu sein, und ich hoffe, seine
Uhr zeigt dasselbe an. Diesmal jedoch klopfe ich mit den
Fingerknöcheln gegen die Tür und warte, anstatt sie einfach
einzurennen, wie ich es sonst tue. Denn wenn wir wirklich einen
Waffenstillstand ausrufen, kann es nicht schaden, ein paar Manieren
an den Tag zu legen.
Ich warte und addiere die Sekunden, während ich auf
meine Uhr schaue, und das leise Geräusch seiner näher kommenden
Füße signalisiert, dass mein Augenblick gekommen ist - das Resultat
richtig gewirkter Magie.
Die Tür schwingt auf, und er steht vor mir,
funkelnde blaue Augen, glänzend weiße Zähne und sonnengebräunte
Haut. Eine Art Morgenmantel aus schwarzem, seidigem Stoff, so ein
Ding, das man früher als Hausrock bezeichnet hat, hängt ihm lose
von den Schultern und lässt eine Menge nackte Brust sehen,
bemerkenswert gute Bauchmuskeln und alte, ausgeblichene Jeans, die
ihm tief auf den Hüften sitzen. Und mehr ist nicht nötig. Ein
flüchtiger Blick auf die Pracht vor mir, und mein Körper beginnt zu
zittern, meine Knie geben nach, und mein Puls geht auf so
grauenvolle, so vertraute Art und Weise schneller, dass mir ganz
langsam eine neue Erkenntnis dämmert:
Das Ungeheuer ist nicht zur Strecke gebracht
worden! Es ist gar nicht verbannt! Es hat sich bloß zurückgezogen,
hat irgendwo
ganz tief unten gelauert und abgewartet, hat neue Kraft gesammelt,
bis es sich wieder erheben konnte …
Ich schlucke krampfhaft und zwinge mich zu nicken,
als wäre alles in bester Ordnung. Dabei bin ich mir seines Blickes
bewusst, dem nichts entgeht. Und ich weiß, ich muss das hier
durchstehen, ganz egal wie, ich darf auf keinen Fall scheitern,
wenn alles, was ich brauche, so greifbar nahe ist.
Mit geneigtem Kopf winkt er mich herein. »Freut
mich zu sehen, dass du pünktlich bist«, bemerkt er.
Ich drehe mich um, bin noch nicht einmal halb den
Flur entlanggegangen, als ich anhalte und es mir anders überlege.
Und ich sehe den Ausdruck der Belustigung, der über sein Gesicht
huscht, während die Farbe aus meinem weicht. »Pünktlich wofür? Um
was geht’s hier eigentlich?« Ich kneife die Augen zusammen und
drücke mich gegen die Wand, als er an mir vorbeischlüpft und mich
drängt, ihm zu folgen.
»Na, es geht natürlich um deinen Geburtstag!« Er
lacht, schaut über die Schulter und schüttelt den Kopf. »Dieser
Damen ist so eine sentimentale Flasche. Bestimmt hat er sein Bestes
getan, deinen Ehrentag zu etwas ganz Besonderem zu machen.
Obwohl ich ja zu sagen wage, nicht annähernd so besonders,
wie ich ihn gleich machen werde.«
Ich bleibe stehen, wo ich bin, weigere mich, mich
von der Stelle zu rühren. Doch obwohl meine Hände und Beine so
zittrig sind, dass es sich anfühlt, als gingen die Gelenke aus den
Fugen, bleibt meine Stimme beherrscht und verrät nichts. »Dein
Versprechen zu erfüllen und mir zu geben, was ich will, wird ihn
besonders genug machen. Es ist nicht nötig, mich zum Hinsetzen
aufzufordern, was ich nicht tun
werde, oder mir etwas zu trinken anzubieten, das ich nicht
annehmen werde. Warum kommen wir nicht einfach zur Sache,
okay?«
Er sieht mich an, und um seine Augen bilden sich
Lachfältchen, während ein Lächeln seine Lippen verzieht. »Wow,
Damen ist vielleicht ein Glückspilz.« Er fährt sich mit den Fingern
durch den blonden Lockenschopf. »Du stehst nicht auf zeitraubendes
Vorspiel. Anscheinend würde unserer kleine Ever hier am liebsten
die Vorspeise weglassen und gleich mit dem Hauptgang loslegen -
und, Schätzchen, dafür kann ich dir gar nicht laut genug
applaudieren.« Ich zwinge mein Gesicht, völlig ausdruckslos zu
bleiben, völlig ungerührt, ganz gleich wie sehr seine Worte mich
aufwühlen mögen. Dabei bin ich mir schmerzhaft der dunklen Flamme
bewusst, die heißer in mir brennt und jetzt von seiner Gegenwart
angefacht wird.
»Und auch wenn du nicht Platz nehmen und nichts
trinken willst, ich zufällig schon. Und da ich der Gastgeber dieser
kleinen Soiree bin, fürchte ich, wirst du mir den Gefallen schon
tun müssen.«
In einem Wirbel aus schwarzer Seide rauscht er auf
das Wohnzimmer zu, schlüpft hinter die Bar und füllt einen schweren
Kristallkelch mit einem großzügigen Schuss Rot. Dann schwenkt er
das Glas vor mir und lässt die undurchsichtige Flüssigkeit leuchten
und funkeln, und ich erinnere mich daran, dass Haven gesagt hat,
sein Elixier wäre stärker als Damens. Ich frage mich, ob das
stimmt. Ob ihm das irgendeinen Vorteil verschafft, ob das bei mir
auch so wirken würde, oder ob es mich genauso wahnsinnig und
gefährlich machen würde wie ihn und die Seinen.
Ich presse die Lippen aufeinander und gebe mir
verzweifelt Mühe, mich zu fangen. Meine Finger werden unruhig,
hibbelig, und ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis
ich völlig durchdrehe.
»Dein kleines Problem mit Haven tut mir ja so was
von leid.« Roman nickt, hebt das Glas und nimmt einen langen
Schluck. »Aber die Menschen verändern sich eben, weißt du? Nicht
alle Freundschaften sind so angelegt, dass sie auch halten.«
»Ich habe noch nicht aufgegeben.« Ich zucke die
Achseln, in meinen Worten liegt viel mehr Überzeugung, als ich
wirklich verspüre. »Das kriegen wir bestimmt wieder hin«, füge ich
hinzu, und dieser merkwürdige fremde Puls pocht in meinem Innern,
als er den Kopf hebt und sein Ouroboros-Tattoo aufblitzen und
wieder verschwinden lässt.
»Bist du sicher, Schätzchen?« Er sieht mich an;
seine Finger legen sich träge um den Stil seines Glases, während
sein Blick an mir hinabgleitet, in seiner typischen langsamen,
gemächlichen, intimen Art. Dabei beschließt er, im tiefen
V-Ausschnitt meines Kleides zu verweilen, während er sagt: »Ich
meine, nichts für ungut, Süße, aber ich bin da anderer Meinung. Ich
habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn zwei entschlossene
Mädchen dasselbe wollen - na ja, dann kriegt irgendjemand
bestimmt ordentlich was ab. Oder noch schlimmer, wie du ja
sehr gut weißt.«
Ich trete auf ihn zu - nicht das Ungeheuer, sondern
ich, obwohl das Ungeheuer ganz bestimmt nichts dagegen hat, und
blicke ihm fest in die Augen. »Aber Haven und ich wollen nicht
dasselbe. Sie will dich, ich will etwas ganz anderes.«
Über den Rand seins Glases hinweg schaut er mich
durchdringend an; der Kelch verbirgt alles außer seinen
stählern-blauen Augen. »Ach ja, und was ist das, Schätzchen?«
»Das weißt du doch.« Ich zucke die Achseln,
verschränke die Hände hinter dem Rücken, damit er nicht sehen kann,
wie sie zittern. »Hast du mich nicht deswegen hergerufen?«
Er nickt und stellt sein Glas auf einem mit
Goldperlen verzierten Untersetzer ab. »Trotzdem, ich würde zu gern
hören, wie du es sagst. Würde die Worte zu gern laut ausgesprochen
hören - von deinen Lippen in meine Ohren.«
Ich hole tief Luft, betrachte seine Augen mit den
schweren Lidern, den breiten, einladenden Mund und die ausladende
Brust. Mein Blick wird abwärtsgelockt, zu seinen Bauchmuskeln, und
noch tiefer, als ich sage: »Das Gegengift.« Mit Gewalt dränge ich
die Worte über meine Lippen und frage mich, ob er auch nur ahnt,
was für ein Kampf in meinem Innern tobt. »Ich will das
Gegengift«, wiederhole ich, fester diesmal. Und füge hinzu:
»Wie du sehr gut weißt.«
Und ehe ich etwas dagegen unternehmen kann, steht
er neben mir. Seine Miene ist ruhig und gefasst, seine Hände hängen
locker neben dem Körper. Die Kälte seiner Haut überschwemmt mich in
einer Woge kühler, süßer Erleichterung. »Du sollst wissen, dass ich
dich mit absolut lauteren Absichten hierherbestellt habe. Nachdem
ich gesehen habe, wie du die letzten paar Monate gelitten hast, bin
ich durchaus bereit, es gut sein zu lassen und dir zu geben, was du
willst. Auch wenn’s wirklich Spaß gemacht hat, oder zumindest mir.«
Er zuckt die Schultern. »Genau wie du, Ever, bin ich im Begriff
weiterzuziehen. Das heißt zurück nach London. Diese Stadt ist zu
entspannt für meinen Geschmack, ich brauche ein bisschen mehr
Action.«
»Du gehst weg?«, entfährt es mir; die Worte kommen
so überstürzt heraus, dass ich mir nicht sicher bin, wer sie
ausgesprochen hat.
»Macht dich das traurig?« Er lächelt, und sein
Blick forscht in meinem Gesicht.
»Wohl kaum.« Ich setze eine finstere Miene auf,
verdrehe die Augen und schaue weg, hoffe, ihn damit von dem Zittern
in meiner Stimme abzulenken.
»Ich werde versuchen, das nicht persönlich zu
nehmen.« Wieder lächelt er, und sein Ouroboros-Tattoo taucht auf
und verschwindet wieder; die glänzenden Augen der züngelnden
Schlange suchen die meinen. »Aber ehe ich abhaue, dachte ich,
erledige ich noch ein paar Dinge, und da heute doch dein Geburtstag
ist, dachte ich, ich fange mit dir an. Gebe dir das Geschenk, das
du dir am allermeisten wünschst. Das Eine, wonach du mehr
verlangst als nach irgendetwas anderem auf der Welt, das niemand
anders, lebendig oder tot, dir jemals geben könnte.« Er streicht
mit den Fingern an meinem Arm hinab, leicht und rasch, und die
Erinnerung an seine Berührung hält sich noch lange, nachdem er sich
abgewandt hat.
Ich starre seinen Rücken an, der sich von mir
entfernt; mir ist klar, dass ich mir das nicht leisten kann. Ich
kann es mir nicht leisen, Mist zu bauen. Also rufe ich mir ins
Gedächtnis, wie magisch sich Damens Lippen auf den meinen angefühlt
haben, erst vor ein paar Stunden, und wie nahe ich daran bin, das
wiederzubekommen - aber nur, wenn ich mich beherrschen kann.
Roman dreht sich um, winkt mir mit dem Finger, ihm
zu folgen, und schnalzt angesichts meines Widerstrebens
missbilligend mit der Zunge. »Glaub mir, Schätzchen, ich habe nicht
vor, dich übers Ohr zu hauen oder dich in meine Gemächer zu
zerren.« Er lacht. »Dafür ist später noch reichlich Zeit, falls du
dich dafür entscheidest. Aber fürs Erste habe ich etwas
Fachspezifischeres geplant. Und da
wir gerade davon reden, hast du schon mal einen Lügendetektortest
gemacht?«
Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen; ich
habe keine Ahnung, worauf er hinauswill, bin mir aber sicher, dass
es eine Falle ist. Mein Blick bleibt fest auf seinen Rücken
geheftet, während ich ihm durch Flur, Küche und zur Hintertür
hinaus folge, vorbei an dem Jacuzzi, der ein Stück seitlich auf der
Terrasse steht, bis zu einem Raum, der einer ausgebauten Garage
ähnelt. Er sieht aus wie eine Kreuzung aus einem Antiquitätenlager
und dem Labor eines durchgeknallten Wissenschaftlers.
»Ich sag’s ja nicht gern, Schätzchen, und glaub
mir, ich meine es wirklich absolut nicht böse, aber du hast
bekanntermaßen gelegentlich gelogen - meistens wenn es dir
in den Kram gepasst hat. Und da ich ein integerer Mensch bin und
dir versprochen habe, dir genau das zu geben, was du dir
aufrichtig mehr wünschst als alles andere auf der Welt,
finde ich es nur richtig, wenn wir uns beide vollkommen einig
darüber sind, was genau das ist. Zwischen dir und mir läuft
eindeutig irgendetwas Seltsames ab. Muss ich dich wirklich daran
erinnern, wie du dich mir an den Hals geworfen hast, als du das
letzte Mal hier warst?«
»Es ist nicht …«, setze ich an und komme nicht sehr
weit, bevor er abwehrend die Hand hebt.
»Bitte.« Er feixt. »Erspar mir die Ausreden,
Schätzchen. Ich habe eine sehr viel direktere Methode, mir die
Antworten zu holen, die ich suche.«
Finster presse ich die Lippen zusammen; ich habe
genug Krimis im Fernsehen gesehen, um das Gebilde zu erkennen, auf
das er mich zulotst. Er erwartet tatsächlich, dass ich mich daran
anschließen lasse und einem Polygrafentest zustimme, den er
zweifellos manipuliert hat.
»Vergiss es.« Ich mache auf dem Absatz kehrt und
schicke mich an zu gehen. »Du wirst dich einfach mit meinem Wort
begnügen müssen, sonst läuft das hier nicht.«
Gerade habe ich die Tür erreicht, als er sagt: »Na
ja, es gibt da noch etwas anderes, das wir versuchen können.«
Ich bleibe stehen.
»Und glaub mir, das kann man nicht
manipulieren, schon gar nicht bei Menschen wie uns. Und
zufällig passt das auch genau zu diesem ganzen metaphysischem Müll
von wegen alles ist Energie und eins miteinander, auf den du
so abfährst.«
Ich seufze hörbar und stampfe mit dem Fuß auf dem
Boden auf; damit hoffe ich sowohl ein wenig von der Energie
freizusetzen, die sich in meinem Inneren aufbaut, als auch ihm zu
zeigen, wie ungeduldig ich allmählich werde.
Doch Roman ist nicht bereit, sich hetzen oder
drängen zu lassen oder sich nach irgendeinem anderen Zeitplan zu
richten als nach seinem eigenen. Gedankenverloren zupfen seine
Finger an einem losen Faden an seinem Hausrock, während er mich
betrachtet. »Verstehst du, Ever, es ist wissenschaftlich bewiesen,
dass die Wahrheit immer stärker ist als eine Lüge, immer.
Dass die Wahrheit, würde man die beiden Seite an Seite messen - sie
sozusagen gegeneinander antreten lassen - immer Sieger sein würde.
Was meinst du dazu?«
Ich verdrehe die Augen; das allein zeigt, was ich
davon halte und von so ziemlich allem anderen, was bisher passiert
ist.
Doch Roman bleibt ungerührt, er ist entschlossen,
nach seinen Regeln zu spielen. »Und zufällig gibt es eine ganz
einfache Methode, das zu überprüfen - eine, die man nicht
manipulieren kann und für die nicht mehr notwendig ist als deine
eigene Physiologie. Willst du’s mal versuchen?«
Äh, nicht wirklich!, will ich erwidern,
versuche ich zu erwidern, doch das Ungeheuer erhebt sich und
lässt mich nicht sprechen. Was Roman nur dazu ermutigt
fortzufahren.
»Also, würdest du sagen, dass wir gleich stark sind
oder nicht? Dass es bei unseresgleichen zwischen Männern und Frauen
keinen wirklichen physischen Unterschied in Sachen Kraft und
Schnelligkeit gibt?« Ich zucke die Achseln, darüber habe ich nie
wirklich nachgedacht, so oder so, und ich habe auch eigentlich
wenig Lust, jetzt damit anzufangen.
»Also, eingedenk dessen würde ich dir gern etwas
demonstrieren, das du bestimmt sehr interessant findest. Und ich
versichere dir, ich versuche nicht, dich auszutricksen, das hier
ist kein Spiel und niemandem passiert etwas. Ich meine es ganz
ernst damit, dir das zu geben, was du dir am allermeisten
wünschst, und das hier ist die beste Methode, die mir einfällt,
festzustellen, was das ist. Ich werd’s sogar als Erster versuchen,
damit du siehst, dass ich nichts Gezinktes im Ärmel habe -
sozusagen.«
Er steht vor mir, den Arm seitlich parallel zu dem
Betonboden ausgestreckt. »Also los, leg zwei Finger auf meinen Arm
und drück ihn ein bisschen nach unten, während ich Widerstand
leiste und nach oben drücke. Da ist nichts Komisches dabei, ich
verspreche es. Du wirst schon sehen.«
Mein Blick begegnet dem seinen, und ich sehe die
Herausforderung in seinen Augen. Mir ist klar, dass mir gar nichts
anderes übrig bleibt, als darauf einzugehen, denn er allein hält
den Schlüssel in der Hand. Ich muss mitspielen, nach seinen Regeln,
auf seine Weise.
Wie gebannt starre ich seinen Arm an, der vor mir
in der Luft schwebt, gebräunt, stark, er bettelt darum, berührt zu
werden. Und obwohl ich weiß, dass ich das nicht kann,
dass ich es nicht beherrschen kann, beiße ich trotzdem die Zähne
zusammen und versuche es. Drücke die Finger dagegen, und die Kälte
seiner Haut dringt durch den seidigen Stoff seines Ärmels und lässt
die dunkle Flamme in meinem Innern Funken sprühend auflodern.
Romans Stimme ist ein schweres Wispern in meinem
Ohr. »Fühlst du das?«
Ich sehe ihn an, und mir ist nichts anderes mehr
bewusst als der unablässige Puls, der jetzt in mir vibriert,
während sich mein Körper mit Hitze füllt. Hitze, die nach nichts
mehr verlangt als nach seiner kühlen, süßen Erlösung.
»Okay, und jetzt möchte ich, dass du mir eine Frage
stellst, eine einfache Ja-oder-Nein-Frage, eine, deren Antwort du
schon kennst. Und dann lass mir einen Moment Zeit, mich auf die
Antwort zu konzentrieren und sie sowohl geistig als auch verbal
auszudrücken, während du meinen Arm mit zwei Fingern nach unten
drückst.«
Ich schaue rasch zwischen meiner Uhr und ihm hin
und her, während mein Knie wie wild auf und ab zuckt. Mir ist klar,
dass ich nicht mehr viel Zeit habe.
Doch er nickt nur mit erhobenem Arm und sieht mich
aufmunternd an. »Die Wahrheit stärkt, Lügen schwächen - jetzt hast
du die Chance, diese Theorie an mir zu testen, damit wir sie dann
an dir testen können. Das ist die einzige Möglichkeit nachzuweisen,
was du wirklich willst, Ever. Also los, stell mir eine Frage,
alles, was du willst. Ich fahre sogar meinen Schutzschild runter,
damit du meine Gedanken lesen kannst und siehst, dass ich nicht
mogele.«
Er sieht mich an, und die Last seins Blickes lässt
meinen Puls schneller gehen und mein Herz wie rasend hämmern, bis
ich nicht mehr … Ich kann nicht …
»Stell mir eine Frage, Ever.« Eindringlich sieht er
mich
an. »Frag mich alles, was du willst. Je schneller wir mit mir
fertig sind, desto eher können wir mit dir anfangen und
feststellen, wonach du dich am meisten sehnst.«
Ich stehe neben ihm und gebe mir verzweifelt Mühe,
mich zu fangen, meine Mitte zu finden, doch es nützt nichts; ich
kann das nicht, ich kann dieses Spiel nicht länger spielen.
»Wär’s dir lieber, wenn wir einfach weitermachen?«,
fragt er, und sein Blick wandert gemächlich über mich hinweg.
»Hättest du es lieber, wenn wir stattdessen dich testen
würden?«
Er wartet, lässt mir einen Moment Zeit, mich zu
sammeln, tief durchzuatmen und ein stummes Gebet an Hekate zu
sprechen, sie um die Kraft zu bitten, das hier durchzustehen, das
zu bekommen, weshalb ich hier bin. Doch als ich abermals Roman
ansehe, wird mir klar, dass Hekate mich verlassen hat. Ich bin ganz
allein.
»Das Gegengift ist doch das, was du dir am
allermeisten wünschst, oder?«, will er wissen und wendet sich mir
zu, steht so dicht vor mir, dass ich seinen Atem auf meiner Wange
fühlen kann; seine Lippen sind nur Zentimeter von meinen entfernt.
»Das ist doch das, wonach du dich mehr sehnst als nach allem
anderen?«
Ja!, schreie ich auf, und das Wort kommt von
irgendwo ganz tief unten, während mein Verstand es mit solcher
Macht wiederholt, dass ich sicher bin, er kann es hören.
Nur kann er es nicht hören.
Weil es nie ausgesprochen wurde.
Es ist bloß ein leerer Laut, der in meinem Kopf
herumzuckt, bis er schließlich erstirbt.
Und in der Sekunde, wo sein Blick dem meinen
begegnet - ist es um mich geschehen.
Die Flamme fährt brüllend durch mich hindurch,
lässt meinen ganzen Körper auflodern, während meine Finger, hungrig
nach seiner Haut, nach dieser glatten, goldbraunen Brust
greifen.
»Vorsicht, Schätzchen.« Er packt meine Handgelenke
und zieht mich dicht an sich. Seine Augen sind schmal, seine Lippen
feucht. »Ich habe noch nie auf Kratzer gestanden, ganz gleich wie
schnell sie wieder verschwinden.« Er hält mich von sich weg, und
sein Blick wandert an meinem Körper hinunter - hungrig,
raubtierartig, und ich bin das Festmahl, das vor ihm liegt.
»Außerdem lassen wir diesen Unsinn mal sein.« Er lacht, löst das
Amulett von meinem Hals und wirft es quer durch den Raum, wo es
klirrend und hüpfend und kullernd zu Boden fällt.
Doch das ist mir egal, mir ist alles egal, außer
wie sich seine Finger anfühlen, die meinen Rücken hinabgleiten, wie
er das Gesicht in meinem Haar vergräbt und die Nase gegen meinen
Hals drückt, tief und kräftig einatmet, sich mit meinem Geruch
füllt. Sein Blick brennt sich in meine Augen, als er mich auf die
Arme hebt und mich auf ein Sofa legt. Dann wirft er seinen
Hausmantel ab und knöpft seine Jeans auf, während ich mit den
Händen über seine Haut streiche und ihn zu mir herabziehe, gierig
nach seiner Berührung, nach seinen Lippen auf den meinen.
Ich keuche auf, als er mich wegschiebt, meine Hände
von seinem Hals löst und sagt: »Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Du
bist doch diejenige, die nicht auf Vorspiel steht, schon vergessen?
Dafür ist später noch jede Menge Zeit, aber zuerst lass uns das
hier über die Bühne bringen. Schließlich wartest du ja schon - wie
lange? Vierhundert Jahre, nicht wahr?«
Ich ziehe ihn wieder an mich, verlange hungrig nach
mehr …, mehr von seiner Haut …, mehr von seinem Geschmack … Mein
Körper drängt, wölbt sich seinem verzweifelt entgegen, meine Lippen
sind geschwollen, gieren nach allem, was er geben kann. Ich will,
dass er mich genauso begehrt wie ich ihn, und bin bereit, alles zu
tun, was nötig ist, damit er mich küsst - und erinnere mich dann
plötzlich daran, was das ist …
Er drängt ein Knie zwischen meine Beine, zieht
seine Jeans herunter und bringt sich in Position. »Das tut jetzt
einmal ganz kurz weh, Schätzchen, und dann …«
Und dann sieht er mich an, und alles hält inne:
Seine Augen sind glasig vor Sehnsucht, die Lippen vor Staunen
geöffnet, während dieser Gesichtsaudruck …, der
Gesichtsausdruck, den ich mir gewünscht, nach dem ich mich gesehnt
habe, sich plötzlich über seine Züge legt.
Der Gesichtsausdruck, der mir verrät, dass er mich
ebenso sehr begehrt - mich ebenso sehr braucht -, wie ich
ihn brauche und begehre.
Ich will ihn zu mir herunterziehen, verlange
verzweifelt nach dem Druck seiner Lippen, als er sich zu mir
herabbeugt und voller Ehrfurcht flüstert: »Drina.«
Ich zucke zurück, blinzelnd und verwirrt, blicke in
seine Augen und sehe, was er sieht - flammend rotes Haar,
Porzellanhaut und smaragdgrüne Augen. Ein Spiegelbild, das nicht zu
mir gehört.
Und obgleich mein Körper noch immer reagiert, seine
Berührung ermuntert, sein sanftes Streicheln auf meiner Haut,
weicht mein Herz entsetzt zurück, weigert sich, mitzuspielen. Etwas
ist verkehrt … Irgendetwas ist sehr …, sehr …
falschgelaufen, etwas, das sich an den äußersten Rand meines
Bewusstseins klammert und gerade anfängt, Gestalt anzunehmen und
Form zu gewinnen, während er
an meinem Kleid zerrt und es mir einfach vom Körper gleitet.
Und als ich ihn anschaue und diesen entrückten
Blick in seinen Augen sehe, weiß ich, dass es fast da ist. Mein
Geburtstagsgeschenk - das was ich mir am meisten gewünscht habe,
wird gleich mir gehören.
Vage ist mir bewusst, dass von diesem Moment an
nichts mehr dasselbe sein wird.
Nichts.
Nie wieder. Niemals wieder.
Er drängt meine Beine auseinander, während ich mich
auf jenen kurzen Schmerzblitz gefasst mache. Dabei drehe ich den
Kopf so, dass ich den Spiegel an der Wand sehen kann, in dem mir
das Bild eines Mädchens begegnet, mit feuerrotem Haar, leuchtend
heller Haut, grünen Augen und einem so wilden Lächeln, dass ich sie
augenblicklich wiedererkenne.
Dasselbe Bild, das er sieht, wenn er mich
anschaut.
Nur bin ich das in Wirklichkeit nicht. Das bin
überhaupt nicht ich!
»Bist du so weit, Schätzchen?« Roman blickt auf
mich herab; Vorfreude malt sich auf seinen Zügen.
Und obgleich mein Kopf zustimmend nickt und mein
Körper sich ihm entgegenhebt, bin das nicht wirklich ich, die da
antwortet. Das Ungeheuer mag meinen Körper beherrschen, mit meinem
Herzen oder meiner Seele jedoch hat es nichts zu tun.
Wie Roman vorhin gesagt hat: Am Ende bleibt die
Wahrheit immer Sieger.
Und zu meinem Glück weiß meine Seele, wie es
steht.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf
mein Herzchakra, sehe jenes wirbelnde grüne Energierad
mitten
aus meiner Brust hervorsteigen, dränge es, nach außen zu wachsen
und sich auszubreiten, größer und größer zu werden, bis …
Roman murmelt meinen Namen, nur ist es nicht mein
Name, es ist ihr Name; seine Stimme ist schwer vor freudiger
Ungeduld, er will loslegen und hat keine Ahnung, was ich im Schilde
führe, dass ich, wenigstens für einen Augenblick, gewonnen
habe.
Ich ziehe das Knie an und ramme es ihm in den
Unterleib. Sein Schmerzensschrei hallt in meinen Ohren, als er die
Hände zwischen die Beine presst und die Augen nach oben verdreht.
Eilig schlüpfe ich unter ihm hervor, so schnell ich kann; ich weiß,
dass es nur eine Frage von Sekunden ist, bis er sich erholt und
seine volle Stärke wiedererlangt hat.
»Wo hast du es versteckst?«, frage ich, ziehe mich
hastig an und hänge mir das Amulett um. Ohne hinzusehen weiß ich,
dass er mich wieder als blauäugige, blonde Ever vor sich sieht. »Wo
ist es?«, verlange ich zu wissen und sehe mich in dem kleinen, wohl
geordneten Labor um.
Er neigt den Kopf und begutachtet sich eingehend.
»Verdammt noch mal, Ever«, brummt er.
Doch dafür habe ich keine Zeit. »Sag mir, wo es
ist!«, brülle ich ihn an und gebe mir alle Mühe, mich auf mein
Herzchakra zu konzentrieren, während ich das Amulett fest gegen die
Brust drücke.
»Spinnst du?« Er zieht seine Jeans hoch und sieht
mich finster an. »Du ziehst hier so einen Scheiß ab und erwartest,
dass ich dir helfe?« Er schüttelt den Kopf. »Vergiss es. Du hättest
das Gegengift bekommen können, du hättest vor zehn Minuten damit
abschwirren können, aber du hast deine Wahl getroffen, Ever. Fair
und aus freien Stücken, wie wir beide wissen. Ich war durchaus
bereit, es dir auszuhändigen,
und nein, es ist nicht hier, also mach dir gar nicht
erst die Mühe, hier alles auseinanderzunehmen. Im Ernst, für
wie blöd hältst du mich eigentlich?« Er zieht seinen
Hausmantel an und zerrt ihn über der Brust zusammen, als wolle er
mich nicht abermals in Versuchung führen. Doch obwohl das Ungeheuer
noch immer in mir tobt, bin ich nicht mehr interessiert. Das
Monster mag wohlauf sein, doch jetzt haben mein Herz und meine
Seele die Führung übernommen. »Ich war absolut bereit, dich zu dem
Gegengift zu führen, aber du hast dich für etwas anderes
entschieden. Und nur weil du dir in letzter Sekunde ein Herz
gefasst und es dir anders überlegt hast …« Er zieht die Brauen auf
eine Weise hoch, die mir verrät, dass er um die Quelle meiner
Stärke weiß. »Das ändert gar nichts. Du hast dich für mich
entschieden, Ever. Ich bin das, wonach es dich am meisten
verlangt. Aber jetzt, nach der Nummer, die du eben abgezogen hast,
kriegst du weder das eine noch das andere. Nach so einem Scheiß
gibt’s keine zweite Chance.«
Ich stehe vor ihm, und die Flamme wütet in meinem
Inneren, drängt mich auf diese ozeanblauen Augen zu, auf den
zerzausten goldenen Haarschopf, diese feuchten, wartenden Lippen,
die schmalen, geschmeidigen Hüften …
»Nein«, stoße ich undeutlich hervor und trete einen
Schritt zurück. »Ich will dich gar nicht. Ich habe
dich nie gewollt. Das bin nicht ich, das ist …, das ist …
etwas anderes. Es ist nicht meine Schuld, ich habe keine
Kontrolle darüber.«
Ich presse die Lippen zusammen und weiß, dass nur
ein Weg hier herausführt, doch ich sollte das nicht vor ihm tun,
sollte nicht auf diese Weise seinen Verdacht erregen. Trotzdem, ich
kann meinen Beinen nicht trauen, mich irgendwo anders hin zu tragen
als in sein Bett.
Also drücke ich das Amulett gegen die Brust,
während ich
mich auf den golden schimmernden Schleier konzentriere. Stelle mir
das Portal zum Sommerland vor und sehe, wie es vor mir aufspringt.
Gerade will ich hindurchhuschen, als er sagt: »Dumme Ever,
begreifst du denn nicht, dass es zwischen dir und deinem
Ungeheuer keinen Unterschied mehr gibt? Du bist das
Ungeheuer. Es ist deine dunkle Seite, dein Schattenselbst, und
jetzt seid ihr eins miteinander geworden.«