ZWEIUNDDREISSIG
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass Havens
Worte mir nichts ausmachten. Dass ich das, was sie gesagt hatte,
nicht nur von mir weisen, sondern auch ein so überzeugendes
Plädoyer für meine Sache halten konnte, dass sie sofort auf meine
Seite wechselte. Doch die Wahrheit ist, ich tat oder sagte gar
nicht besonders viel. Ich zuckte lediglich die Achseln und gab vor,
das Ganze einfach so abzutun, während sie auf voller Lautstärke
eine Reihe Songs von ihrem iPod abspielte, die ich noch nie gehört
hatte, von Bands, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie
existierten. Dabei blätterten wir einen Stapel Zeitschriften durch,
genau wie früher. Wie in den guten alten Zeiten. Doch so erschien
es nur an der Oberfläche. Tief im Innern wussten wir beide, dass
alles vollkommen anders war.
Dann, nachdem ich gegangen war und bei Damen
hockte, liefen Havens Worte wieder und wieder in meinem Kopf ab,
ihre Frage, wer von uns beiden mehr liebte. Und um ehrlich zu sein,
heute hatte ich sie auch so ziemlich die ganze Zeit im Ohr. Während
des ganzen Frühstücks mit Sabine grübelte ich, während ich in der
Buchhandlung Regale einräumte und die Kasse klingen ließ, überlegte
ich, war ich es oder er? Selbst während der drei Weissagungen
hintereinander, die mit »Avalon« vereinbart worden waren,
einschließlich der, die ich gerade abschließe, ging mir die Frage
immer wieder durch den Kopf.
»Wow, das war …« Mit vor Staunen weit aufgerissenen
Augen sieht die Kundin mich an. »Das war wirklich, wirklich
bemerkenswert.« Kopfschüttelnd greift sie nach ihrer Handtasche,
und auf ihrem Gesicht zeigt sich eine Mischung aus Erregung,
Zweifel und der Sehnsucht zu glauben - die übliche Miene nach einer
Weissagung.
Ich nicke und lächele höflich, während ich die
Tarotkarten einsammele, die ich um der Show willen ausgelegt habe,
aber nicht wirklich benutze. Es ist bloß einfacher, irgendeine
Requisite oder ein Werkzeug zu haben - so bleibt das Ganze
distanzierter und unbeteiligter. Die meisten Leute kriegen es
ziemlich mit der Angst zu tun bei dem Gedanken, dass jemand direkt
in ihren Kopf gucken und ihre geheimsten Gedanken und Gefühle
belauschen kann. Gar nicht zu reden davon, dass eine einzige rasche
Berührung eine lange, komplexe Abfolge von Ereignissen enthüllen
kann.
»Es ist nur … Sie sind so viel jünger, als
ich erwartet habe. Wie lange machen Sie das schon?«, erkundigt sie
sich und hängt sich die Tasche über die Schulter, während sie mich
weiterhin mustert.
»Hellsehen ist eine Gabe«, erwidere ich, obwohl
Jude mich ausdrücklich gebeten hat, das nicht zu sagen. Er
denkt, dass das potenzielle Schüler davon abhalten könnte, sich für
seinen Kurs »Entwicklung hellseherischer Fähigkeiten« anzumelden.
Doch da der inzwischen so ziemlich nur noch aus ihm und Honor
besteht, sehe ich wirklich nicht ein, was es schaden könnte. »Diese
Gabe kennt keine Altersgrenze«, füge ich hinzu und dränge sie
innerlich, endlich aufzuhören, mich anzuglotzen. Ich habe noch
etwas vor, ich muss weg. Mein Abend ist minutiös durchgetaktet, und
wenn sie noch lange bleibt, bringt sie mir meine Pläne ernstlich
durcheinander.
Doch als ich sehe, wie sich allmählich der nach einer Deutung
übliche skeptische Blick einstellt, meine ich: »Deswegen sind
Kinder auch solche Naturtalente im Hellsehen. Erst später, wenn
ihnen klar wird, wie sehr die Gesellschaft dergleichen missbilligt,
gewinnt der Wunsch, akzeptiert zu werden, die Oberhand und sie
blocken das alles ab. Was ist mit Ihnen? Hatten Sie als Kind denn
keinen Fantasie-Freund?« Mein Blick gleitet forschend über sie
hinweg; ich weiß, dass es so war, denn ich habe es gesehen, sobald
ich sie berührt habe.
»Tommy!«
Sie schnappt nach Luft und schlägt die Hand vor den
Mund, verblüfft, dass ich es wusste, überrascht, dass ihr das
einfach herausgefahren ist.
Ich lächele. »Für Sie war er Wirklichkeit, nicht
wahr? Hat er Ihnen über ein paar schwere Zeiten
hinweggeholfen?«
Sie sieht mich an, und ihre Augen werden wieder
riesengroß, als sie kopfschüttelnd erwidert: »Ja … Er … Ich hatte
immer Albträume.« Unbehaglich zieht sie die Schultern hoch und
schaut sich um, als wäre es ihr peinlich, das alles zuzugeben.
»Damals, als meine Eltern sich haben scheiden lassen, na ja, alles
war so instabil, finanziell, emotional, und da ist Tommy
aufgetaucht. Und er hat versprochen, mir zu helfen, das
durchzustehen, all die Monster zu vertreiben … und das hat er auch
getan. Ich glaube, ich habe aufgehört, ihn zu sehen, als ich
ungefähr …«
»Zehn war.« Ich erhebe mich von meinem Stuhl, ein
visueller Hinweis, dass diese Sitzung zu Ende ist und sie dasselbe
tun sollte. »Um ehrlich zu sein, das ist ein bisschen später als
bei den meisten anderen, aber trotzdem, Sie brauchten ihn nicht
mehr, also ist er weggegangen.« Mit
einem Nicken öffne ich die Tür und bedeute ihr, auf den Flur
hinauszutreten, von wo aus sie hoffentlich zur Kasse gehen und
bezahlen wird.
Nur geht sie nicht zur Kasse. Stattdessen dreht sie
sich zu mir um und sagt: »Sie müssen unbedingt meine
Freundin kennen lernen. Im Ernst. Die wird ausflippen. Sie
glaubt eigentlich nicht an all so was, sie hat sich sogar über mich
lustig gemacht, weil ich herkommen wollte, aber wir essen nachher
zusammen, sie mit ihrem Freund und ich mit meinem, und, na ja …«
Sie hält inne, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen und
grinst mich an. »Also, eigentlich sollte sie jetzt hier sein, oder
jedenfalls bald.«
»Gern.« Ich lächele, als ob ich das wirklich ernst
meine. »Aber ich muss leider noch weg, und …«
»Oh, das ist sie ja, da drüben! Super!«
Ich seufze, schaue auf meine Füße und wünsche mir,
ich könnte mein Geschick im Manifestieren benutzen, damit die Leute
bezahlen und verschwinden. Oder wenigstens dieses eine Mal.
Und ich ahne bereits, dass meine Pläne drauf und
dran sind, noch weiter aufgeschoben zu werden, allerdings nicht,
wie lange. Bis sie die Hand an den Mund legt und ruft: »Sabine!
Hey, hier drüben, hier ist jemand, den du unbedingt kennen lernen
musst!«
Mein ganzer Körper wird eiskalt. Erstarrt und
gefriert, eine Kälte Marke: Hallo, Eisberg, darf ich vorstellen,
die Titanic.
Und ehe ich es verhindern, ehe ich etwas dagegen
unternehmen kann, kommt Sabine direkt auf mich zu. Zuerst erkennt
sie mich nicht, und das nicht, weil ich die schwarze Perücke trage.
Das tue ich nämlich nicht, die habe ich schon vor langer Zeit
abgeschafft, als ich beschlossen habe, dass
Avalon damit aussieht wie ein Freak. Sondern weil ich so ziemlich
der absolut letzte Mensch bin, den zu sehen sie erwartet hat.
Tatsächlich blinzelt und zwinkert sie immer noch, als sie schon
direkt vor mir steht, mit Mr. Muñoz an der Seite, der übrigens fast
genauso kopflos vor Schreck aussieht, wie mir zu Mute ist.
»Ever?« Sabine starrt mich an, als erwache
sie aus tiefem Schlaf. »Wa…« Sie schüttelt den Kopf, wie um
Spinnweben loszuwerden, und setzt noch einmal an. »Was in aller
Welt geht hier vor? Ich verstehe das nicht.«
»Ever?« Ihre Freundin schaut hastig von ihr zu mir
und zurück; die Augen verkniffen und misstrauisch. »Aber … aber ich
dachte, Sie hätten gesagt, Sie heißen Avalon?«
Ich hole tief Luft und weiß, dass jetzt alles
gelaufen ist. Mein sorgsam aufgebautes Leben der Lügen, des
Versteckens und des Geheimnissehortens hat zu dem hier
geführt. »Ich heiße auch Avalon.« Ich weiche Sabines Blick aus.
»Aber auch Ever - das kommt ganz darauf an.«
»Worauf kommt das an?«, quäkt meine Kundin,
als wäre sie ganz persönlich zutiefst beleidigt und schlecht
behandelt worden. Ihre Aura flammt und wabert plötzlich, als
zweifele sie nicht nur an mir, sondern an allem, was ich ihr im
Verlauf der letzten halben Stunde gesagt habe, ganz gleich wie
zutreffend meine Vorhersagen waren. »Wer zum Teufel sind Sie?«,
faucht sie mich an, als wäre sie im Begriff, mich zu melden, und
zwar bei …, nun ja, sie hat sich noch nicht entschieden, aber bei
irgendjemandem, irgendjemand bekommt eine Meldung, so viel ist
sicher.
Doch Sabine ist wieder im Spiel; ihre Stimme ist
ruhig, gefasst und ein kleines bisschen juristinnenhaft, als sie
verkündet: »Ever ist meine Nichte. Und anscheinend muss sie eine
ganze Menge erklären.«
Und gerade als ich genau das tun will …, na ja,
nicht so richtig erklären, oder zumindest nicht so, wie sie es
möchte, aber trotzdem, gerade, als ich etwas sagen will, das
hoffentlich alle Anwesenden beruhigt, kommt Jude zu uns herüber und
fragt: »Ging alles glatt bei deiner Weissagung?«
Ich werfe einen raschen Blick auf meine Kundin,
Sabines Freundin, und weiß, dass das hier eine der besten Deutungen
war, die ich je abgeliefert habe, nachdem meine Energie jetzt so
viel besser geworden und durch all die reinigenden und heilenden
Meditationen, die Ava mich hat machen lassen, dermaßen aufgeladen
ist. Und doch habe ich das hier nicht vorhergesagt. Doch da ich
sehe, wie sehr es ihr jetzt widerstrebt, dafür zu bezahlen,
nachdem sie weiß, dass ich die minderjährige Nichte ihrer Freundin
bin, die nebenbei heimlich als Avalon Die Zweifelhafte
Hellseherin jobbt, gebe ich ihr gar keine Gelegenheit zu
antworten, sondern sage sofort: Ȁh, keine Sorge, das geht auf
mich.« Jude blinzelt, sein Blick huscht zwischen uns hin und her,
doch ich nicke entschlossen und setze hinzu: »Im Ernst. Kein
Problem. Ich übernehme das.«
Während das zwar die Kundin zu beschwichtigen
scheint, wenn auch nicht Jude, wirkt es bei Sabine nicht besonders,
deren Aura in Aufruhr ist und die mich jetzt mit bedenklich
schmalen Augen anstarrt. »Ever? Hast du mir nichts zu sagen?«
Ich atme tief durch und halte ihrem Blick stand.
Ja, ich habe eine Menge zu sagen, aber nicht hier und nicht
jetzt. Ich muss los!
Und als ich gerade etwas in dieser Richtung sagen
will, nur netter, sanfter, sodass sie nicht noch wütender wird,
springt Mr. Muñoz mir bei und meint: »Das könnt ihr beide bestimmt
morgen Früh besprechen, aber jetzt sollten wir
uns wirklich auf den Weg machen. Wir wollen doch nicht, dass die
unseren Tisch vergeben, nachdem es so schwer war, einen zu
reservieren.«
Sabine seufzt und beugt sich dem Einwand, ist aber
trotzdem nicht gewillt, mich so leicht davonkommen zu lassen. Die
Worte kommen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Morgen
Früh, Ever. Ich erwarte, dich gleich morgen Früh zu sprechen.« Und
als sie meinen Gesichtsausdruck sieht, fügt sie hinzu: »Kein
Aber.«
Ich nicke, obwohl ich nicht vorhabe, diesen
Gesprächstermin einzuhalten. Wenn alles so läuft, wie ich es plane,
bin ich morgen Früh so weit von jenem Küchentisch weg, wie es nur
geht. Stattdessen werde ich mich in einer Suite im Montagne aalen,
Damen neben mir, und wir beide werden endlich unsere vor so langer
Zeit gemachten Pläne wahrmachen …
Doch das werde ich ihr nicht auf die Nase binden,
also nicke ich stattdessen nur und sage: »Äh, okay.« Mir ist sehr
klar, dass sie als Anwältin immer auf einer verbalen Antwort
besteht, so kann die Bedeutung nicht verdreht oder fehlgedeutet
werden. Und gerade als ich denke, dass das Schlimmste vorbei ist,
oder zumindest fürs Erste, besteht sie darauf, dass ich mich bei
ihrer Freundin entschuldige, als hätte ich irgendein Verbrechen
gegen sie begangen. Und obwohl mir klar ist, dass ich später dafür
bezahlen werde, das geht gar nicht.
Stattdessen sehe ich die Frau nur an und sage:
»Nichts von all dem hier ändert irgendetwas an dem, was ich Ihnen
dort drinnen gesagt habe.« Damit deute ich auf die Tür des
Hinterzimmers. »Ihre Vergangenheit, Tommy, Ihre Zukunft -
Sie wissen, dass das, was ich Ihnen gesagt habe, stimmt. Ach ja,
und diese Entscheidung, die demnächst bei
Ihnen ansteht?« Mein Blick wandert zwischen ihr und ihrem
Begleiter hin und her. »Also, so sehr Sie jetzt auch im Augenblick
an mir zweifeln mögen, Sie tun trotzdem gut daran, meinen Rat zu
befolgen.«
Damit werfe ich einen raschen Blick auf Sabine und
sehe, wie ihre Aura in einem jähen Aufwallen des Zorns lodert, der
nur von Mr. Muñoz’ Arm in Schach gehalten wird, der sich fest um
ihre Taille legt. Er zwinkert mir verschwörerisch zu, dreht sie von
mir weg und schiebt sie zur Tür hinaus. Ihre Freunde folgen
ihnen.
Sobald sie weg sind, sieht Jude mich an und sagt:
»Mann, das waren ja echt supermiese Vibes, was hier gerade
abgegangen ist. Ich habe das Gefühl, ich sollte den Laden mal mit
Salbei auswischen, damit das schneller verschwindet.« Er schüttelt
den Kopf. »Was ist denn los? Ich dachte, du hättest es ihr
inzwischen gesagt?«
Ich sehe ihn an. »Spinnst du? Du hast doch gesehen,
was gerade passiert ist. Das ist genau die Art von Szene, die ich
vermeiden wollte.«
Er zuckt die Achseln und zählt das Geld in der
Kasse. »Na ja, vielleicht wär’s ja besser gelaufen, wenn es sie
nicht so kalt erwischt hätte, als sie reingekommen ist und gesehen
hat, dass du hier arbeitest - und dann auch noch die Zukunft
weissagst.«
Ich runzele die Stirn und krame in meiner
Brieftasche nach dem Geld für die Gratisdeutung, die ich gerade
durchgeführt habe, ohne es zu wissen.
»Bist du sicher, dass du das bezahlen willst?«,
fragt er und weigert sich, das Geld anzunehmen, als ich es ihm
hinhalte.
»Bitte.« Ich strecke es ihm entgegen, sehe,
wie sich seine Augenbraue hebt und weiß, dass er gleich ablehnen
wird, als ich hinzufüge: »Und das Wechselgeld auch. Betrachte
es als Entschädigung für all die miesen Vibes, die ich
verursacht habe. Im Ernst, wenn das nicht passiert wäre, wäre die
vielleicht Stammkundin geworden, also betrachte es als Ausgleich
für all die künftigen Einnahmeverluste.«
»Ich bin mir gar nicht so sicher, dass du sie
vergrault hast«, bemerkt er, schiebt das Geld in den Bankbeutel und
knallt die Kasse zu. »Wenn du ihr die Zukunft so gut geweissagt
hast, wie ich glaube, dann kommt sie wieder, oder sie erzählt
zumindest ein paar Freunden davon, die dann vorbeischauen werden,
und sei’s nur aus reiner Neugier. So etwas zu widerstehen, fällt
den meisten Leuten ziemlich schwer. Du weißt schon, aufrechte
Anwältin nimmt betrügerische Nichte bei sich auf, die ohne ihr
Wissen in ihrer Freizeit nebenbei als wahnsinnig akkurate
Hellseherin jobbt. Könnte glatt ein Roman sein, oder wenigstens der
Fernsehfilm der Woche.«
Ich zucke die Achseln und nehme mir einen
Augenblick Zeit, das bisschen, was ich an Make-up trage,
aufzufrischen. Eingehend betrachte ich mich in meinem kleinen
Handspiegel und sage: »Übrigens, was das betrifft …«
Er sieht mich an.
»Ich glaube, meine Zeit als Avalon ist
vorbei.«
Er seufzt, unverkennbar enttäuscht.
»Ich meine, versteh mich nicht falsch, es hat mir
wirklich Spaß gemacht, und heute, na ja, jedenfalls bis zu diesem
Fiasko, da hatte ich das Gefühl, ich werde allmählich richtig gut
darin …, als könnte ich die Leute erreichen, ihnen helfen. Aber
jetzt …, na ja, vielleicht wird es Zeit, Ava wieder an Bord zu
holen. Außerdem fängt demnächst die Schule wieder an, und …«
»Willst du kündigen?« Er legt die Stirn in Falten;
die Vorstellung gefällt ihm offensichtlich nicht.
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich will
nur, na ja, ich muss das alles natürlich zurückfahren, und ich will
dir nicht noch mehr Probleme machen, als ich’s schon getan
habe.«
»Keine Sorge. Ich habe Ava bereits wieder
eingestellt; ich dachte mir schon, dass du nicht mehr so viel
arbeiten kannst. Aber, Ever, du kannst jederzeit wieder loslegen.
Die Kunden stehen auf dich, und ich …, na ja …« Sein Gesicht läuft
rot an. »Ich war auch sehr beeindruckt von dir. Als Mitarbeiterin.«
Mit Daumen und Zeigefinger drückt er heftig seine Nasenwurzel,
schüttelt den Kopf und setzt seufzend hinzu: »Mann, ich bin echt so
unromantisch wie nur was.«
Doch ich zucke nur die Schultern und frage mich,
wer sich wohl unbehaglicher fühlt, er oder ich.
»Also, hast du eine Ahnung, was du ihr morgen sagen
willst?«, erkundigt er sich, verzweifelt bemüht, das Thema zu
wechseln.
»Nö.« Ich lasse das Lipgloss in meine Handtasche
fallen und klappe sie zu. »Keinen blassen Dunst.«
»Na ja, meinst du nicht, du solltest mal darüber
nachdenken. Dir irgendeinen Plan zurechtlegen? Du willst dich doch
nicht erwischen lassen, ehe du deine erste Tasse Kaffee intus hast,
oder?«
»Ich trinke keinen Kaffee.«
»Schön, dann eben Elixier oder was weiß ich.« Er
lacht. »Du weißt schon, was ich meine.«
Ich hänge mir meine Handtasche über die Schulter
und sehe ihn kurz an. »Hör zu, versteh mich nicht falsch, ich habe
Sabine wirklich lieb. Sie hat mich aufgenommen, als ich alles
verloren hatte, und als Gegenleistung habe ich nichts anderes
getan, als ihr andauernd das Leben zur Hölle zu machen. Und ich bin
zwar durchaus bereit, ihr reinen
Wein einzuschenken - und sei es nur, weil sie es nach all dem
verdient hat, die Wahrheit zu erfahren, oder jedenfalls etwas, was
der Wahrheit nahe kommt -, aber das wird nicht morgen Früh
passieren. Ganz bestimmt nicht.« Und obwohl ich mir Mühe gebe,
nicht zu lächeln, als ich das sage, kann ich nicht anders. Wenn ich
an meinen Plan denke, an meinen unfehlbaren, idiotensicheren Plan,
fängt mein ganzes Gesicht an zu strahlen.
Im Augenblick muss all meine Energie, all mein
Leuchten, all meine guten Vibes, wie Jude sagen würde, aufgespart
und ausschließlich auf Roman ausgerichtet werden. Ich muss ihm
Liebe, Frieden und guten Willen entgegenbringen, denn so an ihn
heranzutreten, ist die einzige Möglichkeit, wie ich gewinnen kann.
Die einzige Möglichkeit, jemals zu bekommen, was ich will.
Wenn ich bei all dem eins gelernt habe, dann dass
Widerstand niemals funktioniert. Einen Krieg gegen das zu führen,
was ich nicht will, dient nur dazu, genau das zu manifestieren. Und
deshalb hat auch Romans Macht über mich nachgelassen, als ich mich
an Hekate gewandt habe - weil ich fünf Minuten lang aufgehört habe,
zwanghaft an diese Macht zu denken, und dadurch fing sie an zu
verfallen. Wenn ich mir also all das merke, dann, glaube ich, kann
ich gefahrlos davon ausgehen, dass …, na ja, dass es nur auf einen
Sieg hinauslaufen kann, wenn ich meine Energie in das stecke, was
ich will - Frieden zwischen uns und den Abtrünnigen, und außerdem
das Gegengift für das Gegengift.
Wenn ich also heute Abend zu ihm gehe, dann nicht
als Feindin, als jemand, der vorhat, zu tricksen und zu kämpfen, um
zu bekommen, was er will. Stattdessen werde ich als mein Höheres
Selbst an ihn herantreten - als ich in meiner reinsten,
unverfälschten Form.
Und dann werde ich ihm die Gelegenheit bieten, sich
aus der Tiefe zu erheben und mir auf derselben Ebene zu
begegnen.
Ich bin so in meine Gedanken vertieft, habe mich so
sehr in der Freude über meinen Plan verloren, dass ich es zuerst
gar nicht mitbekomme, als Jude fragt: »Wo willst du denn hin?« Mit
zusammengekniffenen Augen betrachtet er mich, und sein
Hellseher-Radar ist auf höchste Wachsamkeit geschaltet.
Doch ich sehe ihn nur an und kann nicht verhindern,
dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breitmacht. »Ich werde
etwas tun, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen.« Dann
halte ich inne, als ich sehe, wie er den Kopf zur Seite neigt, wie
er die Stirn runzelt, wie seine Aura flammt und wallt, und ich
wünschte, ich hätte Zeit, noch zu bleiben, ihm zu versichern, dass
alles gut wird. Doch die habe ich nicht; ich habe schon genug
getrödelt. Also sage ich nur: »Mach dir keine Sorgen. Diesmal weiß
ich, was ich tue. Diesmal läuft alles anders. Du wirst schon
sehen.«
»Ever …« Er streckt den Arm nach mir aus, seine
Hand greift ins Leere.
»Keine Angst. Ich weiß genau, was ich tun muss.
Jetzt weiß ich, wie ich mit Roman umgehen muss.« Ich nicke und
betrachte das dichte Gewirr aus Dreadlocks, sehe, dass die letzten
paar Sommerwochen sie zu einem sonnengebleichten Blond aufgehellt
haben. »Ich weiß genau, wie ich das alles wieder hinkriege, wie ich
vorgehen muss«, füge ich hinzu und beobachte, wie er sich
nachdenklich das Kinn reibt. Sein Malachitring schimmert vor mir,
fast derselbe Grünton wie der seiner Meeresaugen. Die sind schmal
und mustern mich prüfend; mehr als nur ein bisschen Besorgnis liegt
darin. Doch ich beachte das alles nicht. Zum
ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich endlich mächtig, meiner
selbst sicher, und ich werde niemandem den Raum zugestehen, auch
nur den leisesten Zweifel zu säen. »Ich war in den Großen Hallen
des Wissens …« Ich halte inne, es ist klar, dass mehr nötig ist, um
ihn zu überzeugen als mein nickender Kopf und meine
zuversichtlichen Worte.
»Und … na, sagen wir einfach, ich habe einen guten
Ansatzpunkt gefunden. Einen sehr guten Ansatzpunkt.« Damit presse
ich die Lippen zusammen und hieve meine Tasche höher auf meine
Schulter; mir ist klar, dass ich es wahrscheinlich dabei bewenden
lassen sollte.
Er sieht mich an und reibt mit der Hand über die
Vorderseite seines T-Shirts; seine Finger ziehen die Umrisse des
Yin-Yang-Symbols nach. »Ever, ich weiß nicht recht, ob du das noch
mal durchziehen solltest. Ich meine, falls du dich noch erinnerst,
als du Roman das letzte Mal direkt gegenübergetreten bist, da hat
das wirklich nicht gerade super hingehauen. Und ich glaube nicht,
dass genug Zeit vergangen ist, dass du es noch mal versuchen
solltest. Jedenfalls nicht so bald.«
Seine Worte gleiten über mich hinweg wie Öl, das
auf Wasser trifft, und haben nicht die leiseste Wirkung. Was ihn
seinem Gesichtsausdruck nach nur noch mehr beunruhigt. »Zur
Kenntnis genommen«, antworte ich und schiebe mir das Haar hinters
Ohr. »Aber die Sache ist die, ich tu’s trotzdem. Ich gehe hin. Ein
letztes Mal. Sozusagen.«
»Wann? Jetzt? Ist das dein Ernst?« Mit
zusammengezogenen Brauen sieht er mich unverwandt an; sei Blick
krallt sich auf eine Art und Weise in den meinen, die mir Sorgen
macht.
Ich straffe die Schultern, verschränke die Arme vor
der
Brust und halte diesem Blick stand. »Wieso? Hast du vor, mir zu
folgen, damit du mich daran hindern kannst?«
»Vielleicht.« Er kommt nicht einmal ins Stocken,
als er hinzusetzt: »Ich tue alles, was nötig ist.«
»Was wozu genau nötig ist?« Ich lege den Kopf
schief und fordere ihn mit den Augen heraus.
»Dafür zu sorgen, dass dir nichts passiert. Dich
von ihm fernzuhalten.«
Ich hole tief Luft und sehe ihn an, und ich meine,
ich sehe ihn wirklich an. Angefangen bei den Dreadlocks und dann
abwärts bis zur Taille, von wo aus er wegen des Ladentischs für
mich nicht mehr sichtbar ist. »Und warum willst du das tun?«,
erkundige ich mich schließlich, und mein Blick hebt sich wieder, um
dem seinen zu begegnen. »Wieso solltest du auf die Idee kommen,
meinen Plan zu durchkreuzen? Ich dachte, du willst, dass ich
glücklich bin - auch wenn das heißt, dass ich mit Damen zusammen
bin? Oder wenigstens hast du mir das erzählt.«
Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, so
unbehaglich, so verlegen, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme,
weil ich das gesagt habe. Ich bin zu weit gegangen. Nur weil wir
uns in der Vergangenheit gegenseitig unser Herz gründlicher
ausgeschüttet haben, als wir es wahrscheinlich hätten tun sollen,
heißt das noch lange nicht, dass ich das Recht habe, ihm Fragen zu
stellen oder das, was er zu mir gesagt hat, auszunutzen. Heißt noch
lange nicht, dass ich auf einer Antwort bestehen sollte, wenn ihn
die Frage offenkundig schmerzt. Aber trotzdem, irgendetwas daran,
wie er sich gerade verschoben hat, nicht nur im körperlichen Sinne,
sondern auch seine Energie, macht mich stutzig. Bringt mich ins
Grübeln, ins Überlegen, macht mich ein ganz klein bisschen unsicher
…
Ich drehe mich um und gehe zur Tür, und er folgt
mir zu der Gasse auf der Rückseite des Geschäfts, wo wir beide
unsere Autos geparkt haben.
»Ich treffe mich später mit Honor - magst du
vorbeischauen? Du kannst Damen mitbringen, wenn du willst, das
stört mich nicht.«
Ich bleibe stehen und sehe ihn an.
»Na ja, vielleicht stört es mich schon, aber ich
werde’ne gute Show abziehen - Pfadfinderehrenwort.« Er hebt die
rechte Hand.
»Dann ziehst du also mit Honor rum?«, erkundige ich
mich und sehe zu, wie er die Fahrertür seines alten schwarzen Jeeps
öffnet und einsteigt.
»Ja, du weißt doch, deine Schulfreundin, die auch
auf deiner Geburtstagsparty war?«
Ich setze dazu an, ihm zu sagen, dass sie nicht
meine Freundin ist, dass sie wahrscheinlich alles andere ist als
das, nach dem zu urteilen, was ich neulich am Strand mitbekommen
habe, die Energie, die sie ausgestrahlt hat. Doch als ich seine
Miene sehe, die belustigten Falten auf seiner Stirn, beschließe
ich, das für mich zu behalten.
»Sie ist gar nicht so übel, weißt du?« Er steckt
den Schlüssel ins Zündschloss und lässt den Motor unter Husten und
Stottern anspringen. »Vielleicht solltest du ihr ja mal’ne Chance
geben.«
Ich sehe ihn an und muss daran denken, was ich ihm
gleich am allerersten Tag gesagt habe, noch ehe ich ihn richtig
kannte, lange bevor ich das von uns beiden wusste. Irgendetwas in
der Art, dass er dazu neigt, sich in die falschen Mädchen zu
verlieben, und ich frage mich, ob er sich wieder einmal verknallt
hat. Doch als ich sehe, wie sein Blick davonirrt, wie seine Aura
wabert und Funken sprüht,
da weiß ich, das falsche Mädchen bin immer noch ich. Honor ist
überhaupt nicht im Spiel. Und ich weiß nicht genau, was mir mehr
zusetzt - diese Erkenntnis oder das jähe Aufwallen der
Erleichterung, das sie mit sich bringt.
»Ever …«
Er sieht mich auf eine Art und Weise an, bei der
mir der Atem stockt. Ein solcher Widerstreit der Gefühle malt sich
auf seinen Zügen, es ist eindeutig, dass er sich mit dem, was als
Nächstes kommt, sehr schwer tut. Doch am Ende blinzelt er nur und
atmet tief durch, ehe er fragt: »Kommst du klar? Bist du sicher,
dass du weißt, was du tust?«
Ich nicke, steige in meinen Wagen und fühle mich
zuversichtlicher und kraftvoller als jemals zu vor. Die Finsternis
ist verschwunden, ist vom Licht besiegt worden, und das hier kann
auf gar keinen Fall fehlschlagen.
Ich schließe die Augen und lasse den Motor zum
Leben erwachen, dann sehe ich Jude an und sage: »Keine Angst.
Dieses Mal weiß ich, was ich tue. Dieses Mal läuft es anders. Du
wirst schon sehen.«