VIERZEHN
Ich lande auf dem Hintern. Krache genau vor
der Replik jenes wunderschönen Palasts aus dem 18. Jahrhundert, in
dem französische Könige gewohnt haben, auf den Boden. Aber ich gehe
nicht hinein. Obgleich ich darum gebettelt habe, genau
hierherzukommen, kann ich es nicht ertragen, das Schloss ohne Damen
zu betreten. Es ist unsere Zuflucht. Ein Ort, den wir
gemeinsam haben. Ein Ort, wo einige meiner schönsten Erinnerungen
leben. Und auf keinen Fall gehe ich ohne ihn dorthin.
Ich komme auf die Beine, klopfe mich ab und sehe
mich um, während ich versuche, mich zu orientieren und
festzustellen, wo ich bin. Mir ist klar, dass ich mir einfach einen
Bestimmungsort vorstellen könnte und mich wie durch Zauberei dort
wiederfände, aber ich möchte lieber zu Fuß gehen, möchte gemächlich
dahinschlendern und mir Zeit lassen. Die Tatsache genießen, dass
ich das Ungeheuer los bin - auch wenn es sich wahrscheinlich nur
irgendwo zusammengerollt hat und abwartet, bis ich wieder von hier
fortgehe. Im Augenblick jedoch bin ich fest entschlossen, mir ein
wenig Erleichterung zu gönnen.
Ich hebe die Hände und wedele damit durch den
schimmernden Dunst, jenes unscharfe Leuchten, das von überallher
und von nirgendwoher stammt. Die angenehm kühle Luft, die über
meine Haut wallt, beruhigt mich; ich vertraue darauf, dass ich
letzten Endes zu irgendetwas ganz Tollem
gelangen werde, irgendwohin, wo ich wirklich sein will. Das ist
das Schöne am Sommerland - alle Wege führen zum Guten.
An dem regenbogenbunten Bach, der sich durch die
duftende Wiese zieht, mache ich Halt und manifestiere einen kleinen
Handspiegel, um mich zu betrachten. Erleichtert sehe ich, dass
meine Augen jetzt wieder ihre normale blitzblaue Farbe haben, mein
Haar ist wieder glänzend und leuchtend hellblond, und meine Haut -
meine Haut ist praktisch porenlos und makellos rein. Die dunklen
Ringe, die sich unter meinen Augen häuslich eingerichtet hatten,
sind jetzt verschwunden. Und ich wünschte, Damen könnte mich so
sehen. Ich sehe aus wie mein altes Ich …, das Ich, das ich früher
war. Es macht mich traurig, daran zu denken, dass seine letzte
Erinnerung dieser monströsen Schöpfung gilt - dem Ungeheuer, das
ich selbst geschaffen habe. Hätte er nur eingewilligt mitzukommen,
dann hätte ich alles erklären können.
Ich wandere durch die Wiese mit den zitternden
Bäumen und den pulsierenden Blumen, und der Duft der leuchtend
bunten Blütenblätter folgt mir, bis ich auf die vertraute,
gepflasterte Straße hinausstolpere, die in die Stadt und zu den
Großen Hallen des Wissens führt. Wo ich von Neuem mein Glück
versuchen werde, beschließe ich. Und auch wenn es überhaupt nichts
geholfen hat, als ich das letzte Mal hier war, jetzt ist ein neuer
Tag, ein neues, regeneriertes Ich, und ich habe allen Grund zu
glauben, dass es diesmal anders sein wird.
Ich komme an einer Ansammlung hipper Boutiquen
vorüber, an einem Kino und einem Friseursalon und gehe direkt vor
der Kunstgalerie über die Straße, vorbei an einem Kerl, der Kerzen,
Blumen und kleine hölzerne Spielsachen
feilbietet. Bahne mir einen Weg durch Massen von Menschen, die
alle ihren Geschäften nachgehen, eine interessante Mischung aus
Lebenden und Toten. Dann biege ich in die leere Gasse ein, die zu
dem stillen Boulevard führt, welcher mich zu der steilen Treppe
bringt, die ich rasch erklimme. Mein Blick ist fest auf die
eindrucksvollen Türen geheftet; ich weiß, dass es noch einen
weiteren Schritt zu vollenden gilt.
Ich stehe davor und betrachte die kunstvollen
Verzierungen der Halle, die imposanten Säulen und das prachtvolle
Schrägdach - sehe einen Tempel vor mir, der ganz und gar aus Liebe,
Wissen und allem Guten erbaut worden ist. Und erwarte die übliche
schnelle Abfolge der Bilder, wie das Parthenon sich in den Tadsch
Mahal verwandelt, in den Lotustempel und dann in die Pyramiden von
Gizeh, und so weiter - all die schönsten und heiligsten Orte der
Erde, die nahtlos ineinander übergehen, von einem zum anderen neu
erstehen und neu Gestalt annehmen - doch es geschieht nicht. Ich
sehe nichts. Nichts als das eindrucksvolle Marmorbauwerk, das stolz
vor mir aufragt - die Bilder, die man braucht, um hineinzugelangen,
sind für mich unsichtbar.
Ich stehe auf der Schwarzen Liste.
Habe Hausverbot.
Es ist mir nicht gestattet, den einzigen Ort zu
betreten, der mir helfen kann, diesen Schlamassel in Ordnung zu
bringen, in dem ich stecke.
Selbst als ich versuche, einfach so zu tun, mich
zwinge, die Bilder in der Reihenfolge in meinem Kopf ablaufen zu
lassen, in der ich sie in Erinnerung habe, rührt sich nichts. Die
Großen Hallen des Wissens lassen sich nicht von Kroppzeug wie mir
narren.
Ich sacke auf die Stufen und lege den Kopf in die
Hände;
ich kann es kaum fassen, was aus mir geworden ist, wie tief ich
gesunken bin. Überlege, ob es sich wohl so anfühlt, wenn man ganz
unten ankommt; schlimmer, als vom Sommerland ausgestoßen zu werden,
kann es doch bestimmt nicht mehr werden.
»Darf ich mal?«
Ich rutsche zur Seite, ziehe die Beine ein und
frage mich, wieso Miss Großspurig nicht einfach um mich herumgehen
kann. Ich meine, ganz im Ernst, ich bin vielleicht eins
zweiundsiebzig, aber es ist ja nicht so, als würde ich so
viel Platz einnehmen.
Das Gesicht habe ich noch immer in den Händen
verborgen, weil ich nicht von irgendeiner überheblichen
Sommerlandtouristin gesehen werden will, die Zugang zu all den
gewaltigsten Gebäuden hat, als ich höre:
»Ever?«
Ich erstarre. Diese Stimme kenne ich. Und zwar nur
allzu gut.
»Ever, bist du es wirklich?«
Langsam hebe ich den Kopf; es widerstrebt mir, Ava
in die Augen zu sehen. Schon beim Anblick ihres dichten
kastanienbraunen Haares und ihrer großen braunen Augen regt sich
etwas …, etwas ganz außen an der Peripherie, das ich nicht recht zu
fassen bekommen kann und das ich nicht ganz deuten kann. Doch das
spielt ja auch gar keine Rolle, denn die Wahrheit ist, sie ist so
ziemlich der letzte Mensch, dem ich heute begegnen wollte. Oder an
irgendeinem anderen Tag. Aber trotzdem, wieso ausgerechnet jetzt;
bin ich denn nicht schon genug gestraft?
»Versuchst du, dich hier reinzumogeln?«, frage ich
mit vor Sarkasmus triefender Stimme, während ich sie abweisend
betrachte. Kaum ist es heraus, wird mir klar, dass ich
genau das gerade eben selbst versucht habe. Entsetzt begreife ich,
dass ich so tief gesunken bin, dass ich jetzt auf einer Stufe mit
ihr stehe.
Sie kniet neben mir nieder, legt den Kopf schief
und mustert mich eingehend. »Alles okay?« Ihr Blick wandert
aufmerksam über mich hinweg, eindringlich, als wäre es ihr wirklich
wichtig.
Doch ich weiß es besser. Für Ava ist nur ein
einziger Mensch wichtig, und das ist Ava. Soweit es sie angeht, ist
sonst niemand irgendwelche Mühen wert. Das hat sie bewiesen, als
sie Damen dem Tode nahe zurückgelassen hat, gleich nachdem sie mir
versprochen hatte, ihm zu helfen.
Ich betrachte sie meinerseits und stelle überrascht
fest, dass sie gar nicht so anders aussieht als damals, als sie
sich mit dem Elixier abgesetzt hat. Andererseits hatte sie eine
ziemlich gute Startposition; so viele Veränderungen hatte sie
vielleicht gar nicht nötig.
»Ob alles okay ist?«, äffe ich sie nach und
treffe ihren ach so besorgten Tonfall genau. Feixend füge ich
hinzu: »Na ja, ich denke schon. Ich denke, bei mir ist wirklich und
wahrhaftig alles okay. Jedenfalls wenn man alles so bedenkt.
Aber bestimmt nicht so okay wie bei dir.« Ich zucke die
Achseln. »Aber, bei wem ist das schon so?«
Mein Blick huscht zu ihrem Hals und sucht nach
einem Ouroboros-Tattoo oder nach irgendeinem anderen Zeichen ihres
neuen Status als abtrünnige Unsterbliche. Überrascht stelle ich
fest, dass sie nicht nur nichts dergleichen aufweist, sondern dass
auch ihr übliches Gewirr aus protzigem manifestiertem Schmuck
verschwunden ist, bis auf einen einzigen ungeschliffenen Zitrin,
der an einer schlichten Silberkette hängt. Mit zusammengekniffenen
Augen versuche ich mich zu erinnern, was ich über diesen speziellen
Stein
gelernt habe. Irgendetwas davon, dass er Überschwang und Freude
fördert und …, ach ja, alle sieben Chakren schützt. Na, kein
Wunder, dass sie ihn trägt.
Ich presse die Lippen zusammen, seufze hörbar und
bedenke sie mit einem Blick, der kein Raum für Zweifel lässt, was
ich von ihr halte. »Ich meine, jetzt, da dir die ganze Welt zu
Füßen liegt, da geht es doch niemandem besser als dir,
stimmt’s? Also erzähl mal, Ava, wie fühlt sich das an? Wie
fühlt es sich an, eine ganz neue, verbesserte Version zu
sein? War’s das wert, deine Freunde dafür zu
verraten?«
Sie sieht mich an; Betroffenheit malt sich auf
ihren Zügen. »Da liegst du total falsch«, erwidert sie. »Es ist
überhaupt nicht so, wie du denkst!«
Ich erhebe mich und fühle mich zittrig, unwohl,
doch ich gebe mir alle Mühe, es vor ihr zu verbergen. Fest
entschlossen sie hinter mir zu lassen; ich habe keine Lust, mir
noch mehr Lügen anzuhören.
»Ich habe das Elixier nicht genommen, Ever …, ich
…«
Mit vor Zorn blitzenden Augen fahre ich herum. »Du
bist echt unglaublich! Natürlich hast du das Elixier
genommen! Hal-lo, ich bin zurückgekommen. Siehst du?«
Ich zerre an meinem T-Shirt und schüttele den Kopf. »Wie es sich
herausgestellt hat, Ava, ist nichts so gelaufen, wie wir es
geplant hatten. Nein - korrigiere, vielleicht ist es nicht so
gelaufen, wie ich es vorhatte, aber ganz bestimmt so, wie
du es geplant hattest. Du hast Damen allein gelassen,
schwach und wehrlos, genau wie du es die ganze Zeit vorgehabt
hattest. Du hast ihn einfach liegen lassen, verwundbar, im
Sterben, genau dort, wo Roman an ihn rankommt. Und dann, als ob
das nicht genug wäre, habt ihr euch zusammengetan, an dem Abend
damals mit Haven, und ihr habt ein hübsches Tässchen Belladonnatee
gebraut.« Wieder schüttele ich
den Kopf und frage mich, warum ich mir überhaupt die Mühe mache,
warum ich mich mit ihr abgebe. Sie hat mir schon genug genommen.
Ich sollte ihr nichts mehr geben.
Ich steige die Treppe hinunter, mit bleiernen
Beinen, als widerstrebe es ihnen, sich den Signalen zu fügen, die
mein Gehirn eindeutig sendet.
Während ich mich bemühe, einen Fuß vor den anderen
zu setzen, sagt sie: »Ich wünschte, du würdest das nicht tun. Ich
wünschte, du würdest mir eine Chance geben, alles zu
erklären.«
Doch ich tue ihre Worte nur mit einem Achselzucken
ab und gehe weiter. »Ja, na ja«, rufe ich, »you can’t always get
what you want - den Song kennst du doch bestimmt noch, nicht
wahr?«
Sie steht hinter mir, so still und regungslos, dass
ich unwillkürlich einen Blick über die Schulter werfe, um zu sehen,
was sie im Schilde führt. Meine Muskeln sind sprungbereit gespannt,
nur für den Fall, dass sie vorhat, auf mich loszugehen. Verblüfft
sehe ich, dass sie die Handflächen gegeneinander drückt und sich
vor mir verneigt, während ihre Lippen ein geflüstertes
»Namaste« formen.
So verharrt sie kurz, ehe sie sich dem Gebäude
zuwendet und mich mit offenem Mund und sprachlos zurücklässt,
während die prachtvollen, imposanten Türen sich vor ihr öffnen und
sie willkommen heißen.