SIEBEN
Ich habe die ganze Zeit gewusst,
dass irgendwas mit euch nicht stimmt. Besonders mit dir.« Sie zeigt
auf Damen. »Entschuldige, aber niemand ist so
vollkommen.«
Damen lächelt, öffnet die Tür weit und winkt uns
herein. Sein tiefer Blick hält den meinen fest wie die Umarmung
eines Geliebten, und er überschüttet mich mit einer Flut aus
telepathischen roten Tulpen, die mir den Mut und die Kraft geben
sollen, die ich offenkundig brauchen werde.
»Und nur damit du’s weißt, das habe ich gesehen«,
verkündet Haven und krallt die beringten Finger in ihre
lederbedeckten Hüften. Ihre Augen huschen zwischen uns hin und her,
ehe sie den Kopf schüttelt und in die Eingangshalle stürmt.
Mit hochgezogenen Brauen sieht Damen mich an, doch
ich zucke nur die Achseln. Havens Gaben fangen gerade erst an, zu
Tage zu treten. Gedankenlesen ist nur der Anfang.
»Wow, ich fasse es nicht, dass du so wohnst!« Sie
wirbelt wieder und wieder im Kreis herum, während sie alles
betrachtet - den prächtigen Kronleuchter, der von der hohen,
gewölbten Decke herabhängt, den dicken Perserteppich unter ihren
Füßen - zwei unbezahlbare Antiquitäten, die etliche Jahrhunderte
alt sind und beinahe verloren gegangen wären, als Damen das
ausgemistet hat, was ich jetzt als seine »Mönchszelle« bezeichne.
Damals, als er sicher war, dass seine extravagante, narzisstische
Vergangenheit
unmittelbar an all den Problemen schuld sei, mit denen wir uns
herumschlagen. Entschlossen, sich von allen weltlichen
Habseligkeiten loszusagen, bis die Zwillinge bei ihm einzogen und
das Schild ZU VERKAUFEN verschwand, weil er ihnen so viel Platz und
Komfort bieten wollte, wie er nur konnte.
»Hier könnte man echt die megatollsten Partys
schmeißen, gleich hier im Eingang!« Haven lacht. »Gehört das zum
Unsterblichsein dazu? In solch genialen Schuppen zu wohnen? Wenn
ja, dann bin ich dabei!«
»Damen macht das schon eine Weile«, sage ich und
bin mir nicht sicher, wie ich seine Multi-Millionen-Dollar-Villa
erklären soll, weil ich auf die uralte Kunst der augenblicklichen
Manifestation erst noch zu sprechen kommen muss. Zusätzlich zu der
Fähigkeit, auf der Rennbahn immer auf die richtigen Pferde zu
setzen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das tun werde.
»Und wie lange zieht Roman das schon durch, denn
seine Wohnung ist nett und so, aber nicht so was wie das
hier.«
Damen und ich sehen einander an; wir können nicht
wie üblich per Telepathie kommunizieren, nachdem wir jetzt wissen,
dass sie uns hören kann, doch wir beschließen einhellig, diese
Frage zu ignorieren. Beschließen, die Details vage zu halten, so
lange wir können. Damit schieben wir das Unvermeidliche auf, wenn
sie nämlich die Wahrheit hinter all dem hier herausfindet. Gar
nicht zu reden davon, was wirklich mit ihrer guten Freundin Drina
passiert ist.
Wir folgen ihr durch die Küche und ins Wohnzimmer,
wo wir die Zwillinge vorfinden, die jeder auf einem Ende des Sofas
hocken. Jede liest ihre eigene Ausgabe desselben Buches, und Rayne
knabbert an einem Schokoriegel, während
Romy eine große Schüssel Popcorn vor sich stehen hat.
»Also, seid ihr beide auch unsterblich?«, erkundigt
sie sich, woraufhin Romy und Rayne aufblicken. Rayne mit ihrer
üblichen finsteren Miene, Romy nur kopfschüttelnd.
»Nein, sie sind … äh …« Hastig werfe ich Damen
einen Blick zu und flehe mit den Augen um Hilfe. Ich habe keinen
blassen Schimmer, wie ich die Tatsache erklären soll, dass sie zwar
so gesehen nicht unsterblich sind, sich aber die letzten
dreihundert Jahre in einer anderen Dimension herumgetrieben haben
und jetzt meinetwegen nicht zurückkönnen.
»Sie gehören zur Familie.« Damen bedenkt mich mit
einem verstohlenen Blick, der besagt, dass ich einfach mitmachen
und mich an seine Stichworte halten soll.
Haven steht mitten im Zimmer, die Augenbrauen
hochgezogen, das Gesicht verkniffen; ganz offensichtlich glaubt sie
uns kein Wort. »Du willst mir also erzählen, dass du mit deinen
Verwandten in Kontakt bist, seit …« Sie kneift die Augen zusammen,
mustert ihn, versucht zu schätzen, wie alt er ist. Dann zuckt sie
besiegt die Achseln. »Jedenfalls, das müssen ja sehr
interessante Familientreffen sein, gelinde gesagt.«
Wieder schaue ich Damen an und sehe, dass er drauf
und dran ist, es dabei bewenden zu lassen, doch ich hoffe immer
noch, die Situation zu retten, deshalb füge ich hinzu: »Was er
meint ist, sie sind so etwas wie Verwandte. Sie …«
»O bitte!« Rayne schmeißt ihr Buch auf den Tisch
und funkelt mich an, funkelt Haven an, aber natürlich nicht Damen.
»Wir sind keine Verwandte, und wir sind nicht unsterblich. Wir sind
Hexen. Flüchtlinge der Hexenprozesse von Salem. Und stell keine
Fragen mehr, weil wir sie
nämlich nicht beantworten werden. Das ist sowieso mehr, als du zu
wissen brauchst.«
Haven sieht uns an. Ihre Augen sind weiter
aufgerissen, als ich es für möglich gehalten hätte, während sie uns
vier Freaks anstarrt und hervorstößt: »Mein Gott! Ich meine,
geht’s überhaupt noch abgefahrener?«
Ich wechsele einen Blick mit Rayne, mache ihr klar,
dass sie das hätte für sich behalten sollen. Dann lässt Haven sich
in einem Sessel nieder und schaut eifrig von einem zum anderen, als
erwarte sie, dass wir eine Art vertrauliches Passwort preisgeben,
irgendein geheimes Initiationsritual. Und sie versucht gar nicht,
ihr Enttäuschung zu verbergen, als Damen in die Küche geht, um
gleich darauf mit einem kleinen Kasten voller Elixierflaschen
zurückzukommen, den er ihr reicht.
Sie schielt in den Kasten und tippt mit der Spitze
eines schwarz lackierten Fingernagels auf den Deckel jeder
einzelnen Flasche. Dann sieht sie uns verwirrt an. »Das ist alles?
Sieben? Nur für eine Woche? Ich meine, das ist doch nicht
euer Ernst, oder? Wie soll ich denn davon überleben? Wollt ihr mich
umbringen, bevor ich eine Chance habe, überhaupt anzufangen?«
»Mann, du bist unsterblich. Sie
können dich nicht umbringen.« Rayne verdreht die
Augen.
»Doch, können sie. Deshalb zwingt Ever mich
ja auch, das hier zu tragen.« Haven angelt ihr Amulett unter ihrem
schwarzen Spitzentop hervor und wedelt damit vor Raynes Nase
herum.
Doch Rayne stöhnt lediglich auf und verschränkt die
blassen, dürren Arme vor der flachen Brust. »Bitte, darüber weiß
ich Bescheid. Nimm das Teil ab, krieg eins aufs falsche Chakra
verpasst, und du bist erledigt. Behalte es an, und
du lebst glücklich bis in alle Ewigkeit, Amen. Das ist keine
Atomphysik, weißt du?«
»Junge, ist die immer so mies drauf?«, will Haven
wissen und schüttelt lachend den Kopf.
Und gerade als ich »Ja« sagen will und mich freue,
wenigstens zur Abwechslung mal eine Verbündete zu haben, sehe ich,
wie sie aus ihrem Sessel aufsteht und sich neben Rayne aufs Sofa
plumpsen lässt. Ihr das Haar zaust und sie so an den Füßen kitzelt,
dass sie augenblicklich allerbeste Freundinnen sind. Und schon bin
ich wieder der Außenseiter.
»Du brauchst es nicht jeden Tag zu trinken«,
erklärt Damen, der entschlossen ist, wieder zur Sache zu kommen.
»Tatsächlich könntest du die nächsten hundertfünfzig Jahre ohne den
kleinsten Schluck durchhalten, vielleicht sogar noch länger, wer
weiß.«
»Also, wenn das so ist, warum nuckelst du dann an
dem Zeug, als würde dein Leben davon abhängen?«, fragt Haven und
schiebt Raynes Füße von ihrem Schoß, während sie uns beide
betrachtet.
Damen zuckt die Schulter. »Na ja, wahrscheinlich,
weil das mittlerweile wohl auch der Fall ist. Weißt du, ich bin
schon lange dabei. Sehr lange.«
»Wie lange?«
»Sehr lange. Jedenfalls, worauf ich
hinauswill …«
»Moment, du machst Witze, nicht wahr? Ich meine, du
willst mir nicht sagen, wie alt du in Wirklichkeit bist? Ich meine,
tut mir leid, Damen, aber wie eitel bist du eigentlich?«
Wieder schüttelt sie den Kopf und lacht. »Glaub mir, wenn ich mal
alt bin, dann habe ich vor, das von allen Dächern zu brüllen. Ich
kann’s kaum erwarten, bis ich hundertachtzig bin, mit
Porzellanhaut.«
»Das ist keine Eitelkeit, das ist …
Pragmatismus«, erwidert
Damen, und als ich ihn anschaue, merke ich, dass sie ihn aus der
Fassung gebracht hat. Aber wahrscheinlich nur, weil wirklich
ein bisschen Eitelkeit dahintersteckt, er will es nur nicht
zugeben. Sosehr er sich auch bemüht hat, all die Nobelklamotten
aufzugeben, die Stylingprodukte und die handgenähten italienischen
Lederstiefel, ein Hauch von Eitelkeit bleibt.
»Außerdem kannst du nicht damit angeben, du
darfst es niemandem erzählen. Ich dachte, du und Ever, ihr
hättet darüber gesprochen?«
»Haben wir ja auch«, erwidern Haven und ich im
Chor.
»Also, dann sollte das ja keine Frage sein. Iss
einfach weiter deine Törtchen, benimm dich so normal wie möglich,
pass auf dass du keine unnötige …«
»Aufmerksamkeit erregst.« Haven verdreht die Augen.
»Glaub mir, Ever hat mir sämtliche Infos gegeben. Sie hat mich vor
der dunklen Seite gewarnt. Und ich sage dir das ja echt ungern,
aber das interessiert mich alles eigentlich nicht besonders. Ich
war mein ganzes Leben lang gewöhnlich. Bin ignoriert worden,
übersehen, bin praktisch mit der Tapete verschmolzen und behandelt
worden, als wäre ich unsichtbar, ganz egal wie abgefahren ich mich
anzuziehen und zu benehmen versucht habe. Und diese Art von
Anonymität wird echt überschätzt. Wenn ich also jetzt meine Chance
bekomme, zur Abwechslung mal wirklich aufzufallen und
wahrgenommen zu werden - also, ich habe nicht vor, mich
zurückzuhalten. Ganz im Gegenteil. Wenn du das also bedenkst, dann
kriegst du ja wohl ein bisschen mehr hin als das hier.« Sie klopft
gegen die Seite des Kastens mit den Elixierflaschen. »Komm schon,
tu mir den Gefallen, gib mir den Saft, damit ich allen den Schock
ihres Lebens verpassen kann, wenn das letzte Schuljahr
anfängt.«
Damen sieht mich an, erschrocken, sprachlos, mit
einem Blick, der besagt: Sie ist deine Schöpfung - dein
Frankenstein-Monster. Tu doch was!
Also räuspere ich mich und wende mich ihr zu, die
Hände gefaltet, die Beine übereinandergeschlagen. Dabei setze ich
eine heitere Miene auf, obwohl ich in Wirklichkeit genauso viel
Fracksausen habe wie er. »Haven, bitte«, sage ich und achte
darauf, mit ruhiger, leiser Stimme zu sprechen. »Wir haben doch
darüber geredet. Wir …«
Weiter komme ich nicht, da sie mir ins Wort fällt.
»Du trinkst das Zeug doch auch andauernd, warum darf ich
dann nicht?«
Ich weiß nicht recht, wie ich ihr erklären soll,
dass der Saft meine Kräfte verstärkt, Kräfte, von denen es mir
lieber wäre, dass sie sie nicht hat. Unsicher suche ich nach den
richtigen Worten. »Auch wenn es vielleicht so aussieht, die Sache
ist die … Ich brauche es eigentlich nicht, jedenfalls nicht so wie
Damen. Ich trink’s nur irgendwie, weil …, na ja …, weil ich’s
gewohnt bin. Und obwohl es eigentlich gar nicht so toll schmeckt,
ich mag es irgendwie. Aber glaub mir, es ist wirklich nicht nötig,
jeden Tag davon zu trinken - nicht mal jede Woche oder sogar jedes
Jahr. Wie Damen gesagt hat, du kannst hundert Jahre ohne einen
einzigen Schluck auskommen, vielleicht auch zweihundert.« Ich nicke
bekräftigend und hoffe, dass sie mir glaubt; ich möchte nicht, dass
sie etwas von der enormen Steigerung der Macht, der Geschwindigkeit
und der magischen Fähigkeiten weiß, die regelmäßiger Saftkonsum
bewirken kann. Dann wäre sie nur noch wilder darauf.
»Na schön.« Haven nickt. »Dann muss ich mir das
Zeug wohl von Roman besorgen. Der gibt mir bestimmt gern
welchen.«
Ich schlucke heftig und sage kein Wort; mir ist
klar, dass sie mich herausfordern will. Luna springt auf ihren
Schoß, und Haven fängt an, sie zu streicheln.
»Hey, Kätzchen, solltest du nicht eigentlich mir
gehören? Bist du deswegen jetzt hier? Weil du deine wahre
Besitzerin spürst?« Sie hebt das Tierchen hoch und reibt die Nase
an seinem Kinn. Dann lacht sie, als Romy von ihrem Sofaende
aufspringt und ihr die Katze entreißt.
»Entspann dich. Ich habe nicht vor, sie zu klauen
oder so.«
»Du kannst sie nicht klauen.« Wütend funkelt
Romy sie an und hebt das Kätzchen auf ihre Schulter, Lunas
Lieblingsplatz. »Und besitzen kannst du sie auch nicht.
Tiere sind keine Besitztümer, das sind keine Accessoires, die man
wegwirft, wenn man beschließt, dass man sie nicht mehr will. Das
sind lebende Wesen, die unser Leben mit uns teilen.« Sie
sieht ihre Schwester an und gibt ihr ein Zeichen, ihr zu folgen,
als sie aus dem Zimmer stürmt.
»Ganz schön empfindlich!« Haven schaut den beiden
über die Schulter nach.
Doch ich bin nicht bereit, sie einfach so darüber
hinweggehen zu lassen; sie ist diejenige, die das Thema
angesprochen hat, jetzt vertiefe ich es nur. »Da wir gerade davon
reden - wie geht es Roman?«, erkundige ich mich und
versuche, ganz beiläufig zu klingen, höchstens vage interessiert.
Und hoffe, dass es niemand gemerkt hat, wie meine Stimme gerade
gezittert hat, als sein Name über meine Lippen kam.
Sie zuckt die Schultern und ahnt, was ich damit
bezwecke, als sie erwidert: »Prima. Ihm geht’s gut, danke der
Nachfrage. Aber ich habe nichts zu berichten. Oder zumindest
nichts, was euch interessieren würde.« Ihr Blick
wandert zwischen mir und Damen hin und her, und ihre Lippen
kräuseln sich an den Mundwinkeln, als wäre das alles ein
Riesenwitz, ein Spiel. Dann richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf
ihre Fingernägel. »Wachsen deine Nägel auch so schnell? Ich meine,
ich habe sie heute Morgen erst geschnitten, und schau dir das an,
die Dinger sind schon wieder lang!« Sie hält die Hände hoch, damit
wir sie sehen können. »Und meine Haare. Ich schwör’s, mein Pony ist
in ein paar Tagen zwei Zentimeter gewachsen.«
Damen und ich wechseln einen raschen Blick; wir
denken beide dasselbe. All das von nur einem Glas Elixier?
Und ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als es ihr zu
sagen, und hoffe, ich kann sie überzeugen. »Hör zu, wegen Roman
…«
Sie lässt die Hände in den Schoß fallen und legt
die Finger um den Kasten, während sie mich ansieht.
»Ich habe nachgedacht …« Ich halte inne, bin mir
Damens prüfenden Blicks bewusst. Er fragt sich, worauf ich
hinauswill, denn ich habe das Thema ganz bestimmt nicht mit ihm
abgesprochen. Aber die Wahrheit ist, es ist ein Schluss, zu dem ich
selbst gerade eben erst gekommen bin - ein Resultat all der
unheimlichen Dinge, die in den letzten vierundzwanzig Stunden
passiert sind. »Ich denke, du musst ihm um jeden Preis aus dem Weg
gehen«, verkünde ich und betrachte sie aufmerksam. »Ganz im Ernst.
Wenn du Geld brauchst, kann ich dir aushelfen, bis du einen anderen
Job findest, aber ich glaube, du solltest nicht dort arbeiten. Das
ist nicht … sicher. Und ich weiß, du glaubst mir nicht, du
denkst, ich liege total falsch, aber die Sache ist die, das stimmt
nicht. Ich liege nicht falsch. Damen war auch dabei, er kann es dir
erzählen.« Ich werfe Damen einen Blick zu und sehe, wie er
zustimmend nickt, doch Haven bleibt
völlig ungerührt. Ihre Miene ist so gelassen, als hätte sie mich
gar nicht gehört. »Ich kann das gar nicht ausdrücklich genug
sagen«, dränge ich. »Wirklich. Er ist gefährlich. Eine absolute
Bedrohung. Ganz zu schweigen davon, dass er …« Böse und
grauenhaft und geradezu verheerend verlockend unwiderstehlich ist …
Seine Stimme in meinem Kopf, sein Gesicht in meinen Träumen … Immer
da, allgegenwärtig. Und ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe,
anscheinend kann ich ihn nicht loswerden …, kann nicht aufhören, an
ihn zu denken …, kann nicht aufhören, ihn zu begehren …, kann nicht
aufhören, von ihm zu träumen … »Und … äh … Jedenfalls, ich will
auf keinen Fall, dass dir was passiert.« Ich schlucke krampfhaft;
mein Körper ist allein von dem Gedanken an ihn so aufgewühlt, von
jenem merkwürdigen, fremden Puls, der sich in mir regt, dass ich
so nahe dran bin, mich zu verraten.
Doch als sie mich ansieht, mit hochgezogenen
Brauen, als hätte sie die Worte in meinem Kopf gehört, als sähe
sie, was ich wirklich vorhabe, da gerate ich in Panik. Heimlich und
ganz im Stillen. Bis mir wieder einfällt, dass mein Schutzschild
hochgefahren ist. Und egal wie mächtig sie sein mag, wenn Damen
mich nicht hören konnte, konnte sie es auch nicht.
»Hör zu, Ever, das ist alles schon abgehandelt
worden, und jetzt ist es einfach nur überflüssig. Ich habe dich
schon beim ersten Mal verstanden, genau wie ich dich diesmal
verstanden habe. Und falls du dich erinnerst, wir waren uns einig,
dass wir uns nicht einig sind. Außerdem, wie willst du denn das
kriegen, was du haben willst, wenn ich mich nicht an ihn
ranschmeiße?« Mit katzengleichen Augen schaut sie von mir zu Damen,
von Damen zu mir. »Glaub mir, Roman ist keine Bedrohung, zumindest
nicht für mich. Er ist so unglaublich nett und freundlich und
liebevoll. Er ist überhaupt
nicht so, wie du denkst. Also, wenn ihr zusammen sein wollt, dann
solltet ihr euch wahrscheinlich mit mir gut stellen. Soweit ich es
sagen kann, bin ich im Moment ja so ziemlich alles, was ihr habt,
oder?«
Zornig tritt Damen vor. Seine Stimme ist leise und
drohend, als er sagt: »Das ist ein gefährliches Spiel, das du da
treibst. Und auch wenn mir klar ist, dass du dich über deine
Aussichten freust, dass du ganz hin und weg bist von dieser neuen
Macht, die in dir wütet, es ist nur allzu leicht, dich in eine
Situation zu bringen, der du nicht gewachsen bist. Ich weiß das,
weil ich früher einmal so war wie du. Tatsächlich war ich der
Erste. Und obwohl das sehr lange her ist, erinnere ich mich noch
daran, als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich auch an die
lange Liste der Fehler, die ich gemacht habe, die vielen Dinge, die
ich zu bereuen hatte, als ich zugelassen habe, dass meine Gier nach
Macht die Oberhand über Vernunft und menschlichen Anstand gewann.
Sei nicht so wie ich, Haven. Mach diesen Fehler nicht. Und komm
niemals auf die Idee, Ever oder mir in irgendeiner Weise zu drohen.
Wir haben jede Menge Möglichkeiten, jede Menge Mittel, und wir
brauchen dich nicht, um …«
»Jetzt reicht’s mir aber!« Haven schüttelt den
Kopf, und ihr Blickt zuckt zwischen uns hin und her. »Ich hab’s
satt, dass ihr beide ständig so von oben herab mit mir redet. Seid
ihr je auf den Gedanken gekommen, dass ich euch vielleicht das eine
oder andere darüber beibringen könnte, wie man all diese Macht
anwendet?« Mit finsterer Miene verdreht sie die Augen und
beantwortet ihre eigene Frage. »Natürlich nicht! Es heißt bloß:
›Haven, tu dies, Haven, tu das. Wir rationieren dein Elixier,
weil wir dir nicht trauen, Haven.‹ Ich meine, jetzt
kommt schon. Wenn ihr mir nicht traut, wieso sollte ich dann
euch vertrauen?«
»Du bist nicht diejenige, der wir nicht trauen«,
wende ich ein, eifrig bemüht, das Ganze zu entschärfen, die
Situation zu beruhigen, bevor die Stimmung noch hitziger wird.
»Sondern Roman. Ich weiß, du willst das nicht sehen, aber er
benutzt dich. Du bist bloß eine Schachfigur in dem miesen
kleinen Spiel, das er abzieht. Er sieht all deine Schwächen, und er
benutzt sie, um dich zu manipulieren wie eine Marionette.«
»Und was für Schwächen sind das?« Wieder trommelt
sie mit den Fingern gegen den Kasten und presst die Lippen zu einem
schmalen, grimmigen Strich zusammen.
Doch ehe das Ganze weiter eskalieren, in etwas
ausarten kann, das wir alle mit Sicherheit bereuen werden, hebt
Damen die Hand. »Wir versuchen hier nicht, Streit mit dir
anzufangen, Haven. Wir versuchen, dich zu schützen. Es ist zu
deinem eigenen Besten.«
»Weil ich beschützt werden muss? Weil ich zu blöd
bin, die Dinge allein auf die Reihe zu kriegen?« Wild zuckt ihr
Blick zwischen uns hin und her, und als Damen frustriert seufzt,
werden ihre Augen kalt. Dann nickt sie, umfasst den Kasten fester
und steht auf. »Ich wollte, ich könnte euch glauben, aber die Sache
ist die, das kann ich einfach nicht. Weil nämlich du diejenige
bist, die mir irgendetwas verschweigt, Ever. Ich kann es
fühlen. Und auch wenn ich keine Ahnung habe, was es ist,
eins ist geradezu jämmerlich klar, du bist neidisch.« Ihre Lippen
verziehen sich abfällig, als sie hinzufügt: »Jawohl, glaub’s oder
glaub’s nicht, die perfekte Ever Bloom ist neidisch auf mich - auf
die kleine Haven Turner.« Sie schüttelt den Kopf. »Wie wär’s
damit als neuem Handlungsstrang?«
Ich versteife mich, stehe aber weiterhin wortlos
da.
»Du bist es gewohnt, hier die große Nummer zu sein.
Die
Klügste, die Hübscheste, die, die alles am besten kann, die mit
dem tollsten, klügsten, heißesten Freund.« Sie lächelt Damen an,
dann zuckt sie die Schultern und lacht, als er das Lächeln nicht
erwidert. »Und jetzt, da ich auch unsterblich bin, genau wie du, da
ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich dich einhole - bis ich auch
perfekt bin. Und Tatsache ist, das kannst du nicht ertragen. Den
Gedanken kannst du nicht ertragen. Aber das Komische, das
Ironische daran ist, du bist letzten Endes selbst schuld
daran, schließlich warst du diejenige, die mich so gemacht hat. Und
auch wenn du behauptest, du würdest wieder so entscheiden, denke
ich doch irgendwie, vorher mochtest du mich lieber. Vorher, als ich
noch eine erbärmliche Versagerin war, ganz ausgehungert nach
Aufmerksamkeit. Die Versagerin, die zu viele Törtchen gegessen und
sich in anonymen Gruppentreffen irgendwas aus den Fingern gesogen
hat.« Sie zuckt die Achseln, und ihre Schultern heben und senken
sich mit einem solchen Selbstvertrauen, einer solchen Arroganz - es
ist eindeutig klar, dass sie nicht länger dieses Mädchen ist.
»Versuch gar nicht erst, es abzustreiten, ich weiß, dass das die
Schwächen sind, auf die du anspielst. Es ist ziemlich
offensichtlich, wie überlegen du dich Miles und mir gegenüber immer
gefühlt hast. Als würdest du dich dazu herablassen, mit uns
abzuhängen, bis dir was Besseres unterkommt …«
»Das ist nicht wahr. Ihr seid meine besten Freunde
…, meine …«
»Bitte.« Wieder verdreht sie die Augen und schnalzt
mit der Zunge gegen die Wange, genau wie Roman es immer macht.
»Erspar mir die aufrichtigen Erklärungen. Sobald der heiße Typ da
aufgetaucht ist«, mit einem Kopfnicken deutet sie auf Damen, »haben
wir dich nur noch in der Mittagspause zu sehen gekriegt, und
manchmal nicht mal dann,
weil das perfekte Pärchen zu sehr mit seinem perfekten Leben
beschäftigt war und mit seiner perfekten Liebe, um sich mit so
unperfekten Pfeifen rumzutreiben wie uns. Wir waren bloß die
Trottel, die du dir warmgehalten hast - nur für den Fall, dass du
uns eines Tages brauchen könntest. Aber jetzt sieht es so aus, als
hättest du einen langen, einsamen Sommer vor dir, denn Miles fährt
nach Florenz und ich habe neue Freunde gefunden, die sich von
diesem neuen Ich nicht im Geringsten bedroht fühlen.«
»Haven, das ist doch verrückt! Wie kannst du
so was sagen?«, frage ich, während meine Augen sie von Kopf bis Fuß
mustern. Obwohl sie genauso klein ist wie früher, obwohl sie nicht
ein bisschen gewachsen ist, ist es, als wäre ihre zierliche Gestalt
irgendwie ausgeprägter, straffer, sehniger. Sie ist wie ein
winziger schwarzer Panther in schwarzen Lederhosen, schwarzem
Spitzenhemd und spitzen schwarzen Stiefeln. Und obgleich sie auch
schon früher manchmal sauer auf mich war, diesmal ist es anders -
sie ist anders. Jetzt ist sie gefährlich und weiß es, und es
gefällt ihr so.
»Wie ich das sagen kann?«, spottet sie. Ihre
Augen sind schmale Schlitze. »Weil es wahr ist.« Sie wirft Damen
den Kasten in die Arme und geht einfach davon aus, dass er ihn
auffängt, während sie auf die Tür zumarschiert und noch einen Blick
über die Schulter wirft. »Ihr könnt euer Elixier behalten. Ich habe
meine eigene Quelle. Und verlasst euch darauf, er wird mir sehr
gern all das beibringen, was ihr mir nicht zeigen wollt.«