NEUN
Sobald wir landen und beide Seite an Seite
aufs Gras kugeln, fühle ich mich besser. Eine Million, hundert
Millionen mal besser. Ich springe auf und hüpfe durch die Wiese,
frei von dieser grauenvollen, unerwünschten Energie, diesem
seltsamen fremden Puls und den Gedanken an Roman, den er mit sich
bringt. All das ist zu nicht mehr als einer vagen Erinnerung
geworden, als das Gras unter meinen Füßen federt und die duftenden
Blumen unter meinen Fingerspitzen erschauern. Rasch werfe ich einen
Blick über die Schulter, winke Damen, sich mir anzuschließen,
während sich zum ersten Mal seit Tagen ein echtes Lächeln auf
meinem Gesicht breitmacht.
Ich bin regeneriert, erneuert, kann ganz neu
anfangen.
Er kommt auf mich zu und bleibt knapp außerhalb
meiner Reichweite stehen, während er die Augen schließt und die
duftenden Wiesen des Sommerlandes augenblicklich in eine exakte
Replik des Schlosses Versailles verwandelt. Und uns mitten in eine
Halle stellt, die so prachtvoll und gewaltig ist, dass es mir den
Atem verschlägt.
Der Fußboden besteht aus blitzblankem Parkett,
während an den cremeweißen Wänden massenhaft Blattgold glänzt. Und
an den Decken - diesen aberwitzig hohen, mit kunstvollen Fresken
verzierten Decken - hängt eine Reihe glitzernder Kronleuchter,
deren fein geschliffenen Kristalle in den Flammen brennender Kerzen
funkeln und leuchten
und den Raum mit einem Kaleidoskop aus weichem Licht erfüllen. Und
gerade als ich denke, dass es unmöglich noch besser werden kann,
sind die majestätischen Anfangsklänge einer Sinfonie zu vernehmen,
und Damen verneigt sich vor mir und reicht mir die Hand.
Ich schlage die Augen nieder und sinke in einen
gekonnten Knicks, dabei nutze ich die Gelegenheit, mein Kleid zu
begutachten. Das Mieder ist eng und tief ausgeschnitten und geht in
weiche, lockere Falten aus glänzend blauer Seide über, die bis zum
Boden reichen. Dann hebe ich den Blick und sehe, wie er eine
schmale Samtschachtel aus seinem Rock zieht. Ich schnappe vor
Freude nach Luft, als er sie öffnet und ich eine erlesene Kette aus
Diamanten und Saphiren erblicke, die er mir um den Hals legt.
Rasch drehe ich mich um und werfe einen Blick in
die lange Spiegelreihe, die jede Seite der Halle bedeckt, betrachte
uns beide, er in seinen Reithosen, dem Gehrock und den Stiefeln,
und ich in meinem üppigen Prunk, das Haar zur kompliziertesten
Hochsteckfrisur der Welt geschlungen und gelockt. Und ich weiß
genau, was er tut - weiß genau, was er vorhat. Er schenkt mir das
Happy End, das Drina mir gestohlen hat.
Ehrfürchtig sehe ich mich in dem Ballsaal um und
kann es kaum fassen, dass ich das hier hätte haben können,
dass ich Teil dieser Welt hätte sein können - seiner Welt.
Wäre mir mein Cinderella-Happy-End nicht entrissen und mir die
Chance genommen worden, den gläsernen Schuh auch nur
anzuprobieren.
Wäre es mir gestattet gewesen, am Leben zu bleiben,
dann hätte er mir das Elixier gegeben und mich binnen eines
Augenblicks von der niederen französischen Dienstmagd Evaline in
dies hier verwandelt - in dieses strahlende
Wesen, das mich aus dem Spiegel anstarrt. Und über hundert Jahre
später hätten wir hier miteinander tanzen, hätten diese
wunderschöne Nacht miteinander teilen können, in unseren schönsten
Kleidern und vor Juwelen schimmernd, an der Seite von
Marie-Antoinette und Louis XVI.
Doch das ist nicht geschehen. Stattdessen hat Drina
mich getötet, hat Damen und mich gezwungen, unsere Suche
nacheinander fortzusetzen, wieder und wieder.
Ich sehe ihn an und dränge blinzelnd die Tränen
zurück, als ich die Hand auf seine Schulter lege und er den Arm
fest um meine Taille schlingt und mich über den Tanzboden wirbelt.
Unsere Füße bewegen sich mit gekonnter Anmut, mein Rock schwingt in
einer Schwindel erregenden blauen Wolke. So überwältigt bin ich von
der Schönheit, die er erschaffen hat, die er nur für mich
repliziert hat, dass ich mich an ihn schmiege. Die Lippen dicht an
seinem Ohr frage ich, ob es noch mehr Räume zu sehen gibt.
Und ehe ich mich’s versehe, werde ich rasch durch
ein verwirrendes Labyrinth von Gängen geführt, zum prächtigsten,
schönsten Schlafzimmer, das ich jemals gesehen habe.
»Also, zugegeben« - er lächelt und bleibt in der
Tür stehen, während ich mir Mühe gebe, nicht mit offenem Mund zu
glotzen -, »das hier ist nicht das königliche Schlafgemach.
So nahe haben Marie-Antoinette und ich uns nie gestanden.
Allerdings ist das hier eine genaue Kopie des Zimmers, in dem ich
bei meinen zahlreichen Besuchen im Schloss übernachtet habe. Also,
sag, wie findest du es?«
Ich gehe über den großen, gewebten Teppich und
betrachte die seidenbezogenen Stühle, die Mengen von Kristall und
Gold, dann nehme ich Anlauf und springe mit einem Satz auf das
große, weiche, reich drapierte Himmelbett.
Dort klopfe ich neben mich auf die Decke, als hätte ich auf dieser
Welt nicht die geringsten Sorgen.
Habe ich nämlich auch nicht.
Ich bin im Sommerland.
Roman kann nicht an mich heran.
»Also, wie findest du es?« Er beugt sich über mich,
und sein Blick wandert über mein Gesicht.
Ich hebe die Hand, und meine Finger ziehen seine
hohen Wangenknochen nach, die ausgeprägte Linie seines Kiefers.
»Wie ich es finde?« Ich schüttele den Kopf und lache; es ist ein
leichtes, freudiges Lachen, so wie früher. »Ich finde, du bist der
umwerfendste Freund auf der ganzen weiten Welt. Nein, ich nehme es
zurück …«
Mit gespielt angstvollem Blick sieht er mich
an.
»Ich finde, du bist der umwerfendste Freund auf dem
ganzen Planeten - im ganzen Universum!« Ich lächele. »Im
Ernst, wer kriegt denn sonst schon so etwas vorgesetzt?«
»Bist du sicher, dass es dir gefällt?«, will er
wissen, und echte Sorge kommt zum Vorschein.
Ich hebe die Arme, lege sie ihm um den Hals und
ziehe ihn zu mir herab. Bin mir des Energieschleiers nur zu
bewusst, der zwischen seinen und meinen Lippen schwebt - und uns
das erlaubt, was ich allmählich als unseren mittlerweile normalen
Beinahe-Kuss betrachte. Doch ich nehme trotzdem gern, was
ich kriegen kann.
»Das waren so berauschende Zeiten«, sagt er, löst
sich von mir und stützt den Kopf in die Hand, damit er mich besser
ansehen kann. »Ich wollte einfach, das du das erlebst, eine
Kostprobe bekommst, wie es war, wie ich war. Es tut mir so
leid, dass du es verpasst hast, Ever, wir hätten so viel Spaß
gehabt. Du wärst die Schönste auf dem Ball gewesen, die
Allerschönste.« Er kneift die Augen zusammen. »Nein,
wenn ich es recht bedenke, das hätte Marie vielleicht nicht
gefallen.«
»Warum?« Meine Finger spielen mit den Rüschen vorn
auf seinem Hemd, schlüpfen zwischen den Knöpfen hindurch auf seine
warme Brust darunter. »Hatte sie es auf dich abgesehen, wie
es so schön heißt? Und war das vor oder nach Graf Fersen?«
Er lacht. »Vor, während und nach ihm. Hier
war definitiv der Nabel der Welt, zumindest eine Zeit lang.« Er
schüttelt den Kopf. »Und, nein, zu deiner Information, wir waren
nur gut befreundet, sie hatte es nicht auf mich abgesehen,
oder zumindest habe ich nichts davon gemerkt. Ich habe mehr daran
gedacht, dass manche schöne Frauen nicht immer besonders erfreut
sind, wenn eine andere auftaucht.«
Ich sehe ihn an, betrachte die eleganten Flächen
seines Gesichts, die glänzende dunkle Haarsträhne, die ihm über ein
Auge fällt. Und ich denke, wie galant er aussieht, wie nobel er
ist, wie sehr diese Aufmachung ihm steht, wirklich aussagt, wer er
ist. Viel mehr, als die verwaschenen Jeans und die Motorradstiefel
es jemals getan haben.
»Und was hat Marie-Antoinette von Drina gehalten?«,
erkundige ich mich. Ich erinnere mich an sie, in ihrer ganzen
blassen, smaragdäugigen, rothaarigen Pracht - eine solche
Schönheit, dass es mir den Atem verschlug. Erst als es heraus ist,
wird mir klar, dass ich hier ein Gespräch über Damens bösartige
Exfrau führe und dabei nicht den kleinsten Anflug der üblichen
Eifersucht verspüre. Und das liegt nicht nur an der Magie des
Sommerlandes, sonder ich habe jetzt wirklich und wahrhaftig Frieden
mit all dem geschlossen.
Obwohl Damen unglücklicherweise von meiner neuen
Sichtweise nichts weiß; das erklärt wahrscheinlich, warum
seine Stirn plötzlich voller Furchen und sein Mund grimmig
verkniffen ist. Er fragt sich, ob ich tatsächlich wieder damit
anfangen werde, nachdem er sich so viel Mühe gemacht hat, das hier
für mich zu erschaffen.
Doch ich lächele nur und lade ihn ein, in meine
Gedanken zu schauen und es selbst zu sehen. Ich habe nur
gefragt, weil ich neugierig war, das ist alles. Kein Hauch von
Eifersucht weit und breit.
»Drina und Marie konnten sich nicht besonders gut
leiden«, sagt er, sichtlich erleichtert über meinen Sinneswandel.
»Meistens bin ich allein hergekommen.«
Ich betrachte ihn, stelle mir all die schönen,
ledigen Frauen vor, die schier in Ohnmacht gesunken sein müssen,
sobald er ohne Begleitung den Raum betreten hat - und wieder fühle
ich nichts, genau wie eben.
Jeder hat eine Vergangenheit. Allem Anschein nach
sogar ich. Das Einzige, was wirklich wichtig ist, ist, dass
er mich liebt. Mich immer geliebt hat. Die letzten vierhundert
Jahre damit zugebracht hat, nach mir zu suchen. Und ich glaube, ich
begreife endlich, was für eine Riesensache das tatsächlich
ist.
»Lass uns für immer hierbleiben«, flüstere ich,
ziehe ihn an mich und bedecke sein Gesicht mit meinem Kuss. »Wir
ziehen einfach hier ein, und wenn wir es leid werden, falls
wir es leid werden, dann manifestieren wir uns eben eine andere
Bleibe.«
»Das können wir auch zuhause machen, das weißt du
doch.« Mit zärtlichem Blick sieht er mich an; seine Hand vergräbt
sich in meinem Haar, streicht die Strähnen glatt. »Wir können
leben, wo wir wollen, alles haben, was wir wollen, gehen, wohin wir
wollen, sobald wir die Highschool fertig haben und uns von Sabine
absetzen.«
Er lacht.
Und obwohl ich mitlache, weiß ich es besser.
Ich kann das hier zuhause nicht haben.
Nicht nach dem Zauber, den ich gewirkt habe.
Und bis ich eine Möglichkeit finde, den Bann zu
brechen, ist dies der einzige Ort, wo ich so sein kann wie jetzt,
so fühlen kann wie jetzt. Die Magie wird in der Sekunde
vergehen, in der ich das Portal durchschreite.
»Aber in der Zwischenzeit gibt es wirklich keinen
Grund, sich mit der Rückreise zu beeilen, oder?« Damen
grinst und hebt mein Kinn an, bis meine Lippen die seinen
berühren.
Er presst sich an mich, sein Körper auf meinem, und
das Beinahe-Gefühl seiner Hände auf meiner Haut erfüllt mich
mit Kribbeln und Hitze. Wir geben uns beide dem Augenblick hin,
geben uns den Grenzen hin, die zu akzeptieren wir gezwungen sind.
Die Lippen dicht an seinem Ohr, murmele ich: »Nein, mir fällt kein
Grund ein. Überhaupt keiner.«