ZEHN
Ever! Ever, wach auf! Wir müssen
bald zurück.« Ich rolle mich auf den Rücken und recke mich, strecke
die Arme hoch über den Kopf, während ich den Rücken durchbiege und
die Zehen krümme. Langsam, gemächlich, von einer solch trägen Wärme
erfüllt, dass ich versucht bin, mich einfach wieder
umzudrehen.
»Wirklich.« Damen lacht, die Lippen an meinem Ohr,
und zwickt mich auf jene ganz bestimmte Art und Weise ins
Ohrläppchen, bei der ich immer kichern muss. »Wir haben das
besprochen, wir waren uns doch einig, dass wir irgendwann
zurückgehen würden.«
Ich klappe erst ein schweres Augenlid hoch und dann
das andere, und erblicke eine gewaltige Ladung Seide, Blattgold und
die Rüschen von Damens Hemd, die mich an der Nasenspitze kitzeln.
Ich bin immer noch in Versailles?
»Wie lange habe ich geschlafen?« Ich unterdrücke
nicht sehr erfolgreich ein Gähnen und sehe Damen mit belustigter
Miene über mir hocken.
»Im Sommerland gibt es keine Zeit.« Er lächelt.
»Und verlass dich drauf, ich werde versuchen, es nicht persönlich
zu nehmen, dass du eingenickt bist.«
Ich versteife mich und starre ihn an, mittlerweile
hellwach. »Moment, du meinst, ich bin eingeschlafen, während du …,
während wir …« Heftig schüttele ich den Kopf, und meine Wangen
heizen sich auf tausend Grad auf. Ich kann
es kaum fassen, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin, während
wir uns geküsst haben!
Er nickt und sieht zum Glück mehr erheitert als
verärgert aus. Trotzdem bedecke ich mein Gesicht mit den Händen;
allein der Gedanke ist schrecklich.
»Das ist ja so was von peinlich. Wirklich,
es tut mir leid.« Ich brauche keine weiteren Belege dafür, wie
erschöpft ich nach all dem war, was in der letzten Woche geschehen
ist.
Er erhebt sich vom Bett und hilft mir auf. »Nicht
doch. dir braucht nichts peinlich zu sein oder leidzutun. Weißt du,
in gewisser Weise war’s irgendwie schön. Ich erinnere mich nicht,
dass das schon mal passiert wäre, und nach den ersten hundert
Jahren erlebt man eigentlich nicht oft ein erstes Mal.« Er lacht,
zieht mich an sich und legt die Arme fest um meine Taille. »Geht’s
dir jetzt besser?«
Ich nicke. Das war das erste Mal, dass ich gut
geschlafen habe, seit … nun ja, seit ihr wisst schon wer
angefangen hat, sich in meine Träume zu drängen. Und obwohl ich
keine Ahnung habe, wie lange ich geschlafen habe, fühle ich mich
jetzt so viel besser, als wäre ich bereit, auf die Erdebene
zurückzukehren und mich all meinen Dämonen zu stellen - oder
zumindest einem ganz bestimmten Dämon.
»Wollen wir?« Er zieht die Brauen hoch.
Gerade will er die Augen schließen und den Schleier
heraufbeschwören, als ich frage: »Aber das hier, das Schloss? Was
wird daraus, wenn wir fortgehen?«
Er zuckt die Achseln. »Nun ja, ich wollte es
loslassen, schließlich können wir es ja immer wieder manifestieren.
Das weißt du doch, oder?« Er sieht mich seltsam an.
Und obgleich ich weiß, dass es ganz leicht für ihn
ist, das alles wieder zu erschaffen, möchte ich irgendwie, dass es
erhalten bleibt. Ein Ort, an den ich nach Lust und Laune
zurückkehren kann, und nicht ein verschwommenes
Erinnerungsgespinst eines wirklich tollen Tages.
Er lächelt und verneigt sich tief, während er auf
meine Gedanken antwortet. »So sei es.« Er nimmt meine Hand.
»Versailles bleibt.«
»Und das hier?« Grinsend zupfe ich an den Rüschen
seines cremefarbenen Hemdes, woraufhin er auf eine Art und Weise
lacht, die ich in letzter Zeit nicht einmal annährend oft genug zu
hören bekomme.
»Na ja, ich dachte, ich ziehe mich für die
Rückreise um, wenn du nichts dagegen hast?«
Ich lege den Kopf schief, verziehe die Lippen und
mustere ihn eingehend, während ich überlege. »Aber du gefällst mir
so. Du siehst so toll aus, so galant, richtig königlich. So habe
ich das Gefühl, ich sehe dein wahres Ich vor mir, in den Sachen aus
der Zeit, die dir anscheinend am besten gefallen hat.«
Er zuckt die Achseln. »Gefallen haben sie mir alle.
Manche mehr als andere, aber rückblickend hatten sie alle etwas zu
bieten. Und du siehst übrigens auch ziemlich bezaubernd aus.« Er
streicht mit den Fingern über meine Juwelen und dann am engen
Mieder meines Kleides hinab. »Aber trotzdem, wenn wir zuhause nicht
auffallen wollen, ist ein Kostümwechsel angesagt.«
Ich seufze; es macht mich traurig, zu sehen, wie
der Prunk aus dem 18. Jahrhundert unserem üblichen
Laguna-Beach-Outfit Platz macht.
»Und jetzt«, sagt er und versteckt mein Amulett im
Ausschnitt meines Kleides, »was meinst du? Zu mir oder zu
dir?«
»Weder noch.« Ich presse die Lippen zusammen und
weiß genau, dass ihm nicht gefallen wird, was als Nächstes
kommt, aber ich habe mir fest vorgenommen, die wenigen Male, in
denen es mir möglich ist, vollkommen ehrlich zu ihm zu sein. »Ich
muss bei Jude vorbeischauen.«
Er zuckt zusammen. Nur ganz wenig, für das ungeübte
Auge kaum zu erkennen, aber ich sehe es trotzdem. Und er muss
unbedingt wissen, was Jude längst klar ist: dass es gar keinen
Konkurrenzkampf gibt. Eigentlich nie einen gegeben hat. Damen hat
mein Herz vor Jahrhunderten gewonnen. Und seitdem gehört es
ihm.
»Er hatte einen Unfall.« Ich bin fest entschlossen,
mit ruhiger, fester Stimme zu sprechen und mich an die Fakten zu
halten, ganz gleich, wie schauerlich sie sind. Und obwohl ich die
Szene einfach von meinem Kopf in seinen strömen lassen könnte - ich
tue es nicht. Es gibt zu viele Bestandteile davon, die er nicht
sehen soll, Dinge, die er falsch auffassen könnte, also sage ich
stattdessen: »Ich … Ich bin irgendwie auf ihn losgegangen.«
»Ever!« Damen fährt zurück. Seine Miene ist
so schockiert, dass es mir nur mit Mühe gelingt, nicht
wegzuschauen.
»Ich weiß.« Ich atme tief durch. »Ich weiß,
wie sich das anhört, aber es ist nicht so, wie du denkst. Ich … Ich
habe versucht, nachzuweisen, dass er ein abtrünniger Unsterblicher
ist, aber … Na ja, als ich gemerkt habe, dass es nicht so ist, da
habe ich ihn schnell in die Notaufnahme gebracht.«
»Und das hast du mir nicht erzählt, weil …?«
Offensichtlich gekränkt durch diese Unterlassung, sieht er mich
an.
Ich seufze und blicke ihm unverwandt ins Gesicht,
als ich antworte: »Weil es mir peinlich war. Weil ich
andauernd Mist baue und ich nicht wollte, dass du die Geduld
mit mir verlierst. Ich meine, nicht dass ich dir die Schuld gebe,
aber trotzdem.« Ich zucke die Achseln und kratze mich am Arm,
obwohl der gar nicht juckt. Noch so eine nervöse Angewohnheit von
mir.
Er legt mir die Hände auf die Schultern und sieht
mir fest in die Augen. »Meine Gefühle für dich sind nicht von
irgendetwas abhängig. Ich urteile nicht über dich. Ich verliere
nicht die Geduld mit dir. Ich bestrafe dich nicht. Ich liebe dich
einfach. Das ist alles. Schlicht und einfach.« Seine Augen forschen
in meinem Gesicht, und sein Blick ist so warm, so liebevoll,
erfüllt so eindeutig das Versprechen seiner Worte. »Du hast keinen
Grund, jemals etwas vor mir zu verbergen. Verstanden? Ich
gehe nicht weg. Ich werde immer für dich da sein. Und wenn du
irgendetwas brauchst, wenn du in der Klemme steckst oder dich
übernommen hast, dann brauchst du nur zu fragen, und ich bin da, um
dich rauszuholen.«
Ich nicke und bringe kein Wort hervor; ich fühle
mich so gedemütigt von meinem verblüffend glücklichen Geschick,
habe so unglaubliches Glück, von jemandem wie ihm geliebt zu werden
- auch wenn ich nicht immer sicher bin, dass ich es verdiene.
»Also geh und kümmere dich um deinen Freund, ich
kümmere mich um die Zwillinge, und wir treffen uns morgen,
okay?«
Ich beuge mich vor und küsse ihn rasch, dabei achte
ich darauf, seine Hand loszulassen, denn wir streben in
verschiedene Richtungen. Ich schließe die Augen lange genug, um mir
das Portal vorzustellen, den schimmernden goldenen Schleier, der
mich nach Hause bringen wird.
Ich lande vor Judes Tür, nehme mir einen Moment, um
ein paar Mal anzuklopfen und lasse ihm dann reichlich Zeit, zu
öffnen, ehe ich beschließe, das Warten aufzugeben und ungebeten
einzutreten. Ich suche in jedem Zimmer seines
kleinen Strandhauses, einschließlich der Garage und des Gartens,
bevor ich die Tür abschließe und mich zum Laden aufmache.
Doch auf dem Weg dorthin komme ich an Romans
Geschäft vorbei. Und nur ein einziger Blick ins Schaufenster ist
notwendig, ein Blick auf das Schild über dem Fenster, auf dem
RENAISSANCE! steht, ein Blick auf die offene Ladentür, die
geradewegs zu ihm führt - und die Magie des Sommerlandes ist
auf einen Schlag verschwunden und dieser seltsame Puls, dieser
grauenhafte Eindringling, hat wieder die Oberhand gewonnen.
Ich versuche, mich mit reiner Willenskraft
vorwärtszuzwingen, raffe jedes letzte bisschen Kraft zusammen, um
an dem Geschäft vorbeizukommen. Doch meine Beine sind zu schwer,
wollen nicht mitmachen, und mein Atem geht zu flach und zu
schnell.
Ich bin wie festgewurzelt. Unfähig zu fliehen.
Überwältigt von diesem grauenhaften Bedürfnis, ihn zu
finden, ihn zu sehen, bei ihm zu sein. Dieser grässliche
Eindringling übernimmt die Regie, als wäre mein Zauberabend nie
gewesen. Als hätte ich niemals Frieden gehabt.
Jetzt ist die Bestie erwacht und verlangt,
gesättigt zu werden. Und trotz all meiner Mühen, von hier zu
verschwinden, ehe es zu spät ist - es ist zu spät. Er hat
mich gefunden.
»Na, sieh mal einer an, du hier.«
Roman lehnt in der Tür, goldenes Haar und leuchtend
weiße Zähne, die Augen unverwandt auf mich geheftet. »Du siehst
ziemlich … fertig aus. Alles in Ordnung?« Sein
aufgesetzter britischer Akzent lässt seine Stimme auf eine Art und
Weise ansteigen, die mir normalerweise unglaublich auf die Nerven
geht, jetzt jedoch - jetzt finde ich das so reizvoll, dass ich nur
mit größter Mühe auf der Stelle
verharre. Und weiter diese titanische Schlacht schlage, die in
meinem Innern tobt - ich gegen diesen seltsamen, fremden
Puls.
Er lacht, den Kopf so zurückgeworfen, dass man das
Ouroboros-Tattoo auf seinem Hals deutlich sehen kann. Die Schlange
ringelt und windet sich, ihre Knopfaugen suchen die meinen, während
ihre lange, dünne Zunge mich näher heranwinkt.
Und trotz allem, was ich über Gut und Böse weiß,
über Richtig und Falsch, Unsterbliche und Abtrünnige, trete ich
vor. Mache einen kleinen Schritt auf die Niederlage zu, dem schnell
ein weiterer folgt. Und dann noch einer. Mein Blick ist fest auf
Roman gerichtet - auf den wunderschönen, prachtvollen Roman. Er ist
alles, was ich sehen kann. Alles, was ich brauche. Nur ganz
entfernt bin ich mir jenes schwachen Glimmens meines Selbst
bewusst, das irgendwo in meinem Innern noch vorhanden ist, das sich
wehrt und schreit und Gehör fordert. Doch es kommt einfach nicht
dagegen an. Und es dauert nicht lange, bis es von dem
unerbittlichen Puls zum Schweigen gebracht wird, der jetzt in mir
wohnt - und nur eins im Sinn hat.
Sein Name schwillt auf meinen Lippen, als ich
direkt vor ihm stehe, so dicht, dass ich jeden einzelnen violetten
Flecken in seinen Augen erkennen und die scharfe Kühle spüren kann,
die von seiner Haut ausgeht. Dieselbe Kühle, die ich einst so
abstoßend gefunden habe, so widerwärtig, aber jetzt nicht mehr.
Jetzt ist es eine willkommene Sirene, die mich heimruft.
»Ich habe immer gewusst, dass du es dir noch mal
überlegst.« Er grinst, und sein Blick ergreift gemächlich Besitz
von mir, während er die Finger in mein wirres Haar gräbt.
»Willkommen auf der dunklen Seite, Ever, ich glaube, du
wirst hier recht glücklich sein.« Er lacht, und der Klang seines
Gelächters umschließt mich in einer köstlichen, frostigen Umarmung.
»Wundert mich ja nicht, dass du diesen alten Wichser Damen
abgehängt hast. Hab mir gedacht, dass du ihn irgendwann über
kriegst. All dieses Warten …, diese Ängste …, diese
fürchterliche Seelenschau … Gar nicht zu reden von all den
guten Taten.« Er schüttelt den Kopf und verzieht das
Gesicht, als täte ihm allein der Gedanke weh. »Ich weiß nicht, wie
du das so lange ausgehalten hast. Und darf ich fragen, wozu? Denn
ich sage dir das ja echt ungern, Schätzchen, aber es gibt keine
künftigen Belohnungen da oben, wenn deine Zukunft direkt
hier liegt.« Er stampft mit dem Fuß auf. »Verdammte
Zeitverschwendung, genau das ist es. Es bringt nichts, Erfüllung
aufzuschieben, wenn sie sofort genossen am besten ist. Es gibt
Freuden zu genießen, Ever. Genüsse von einem Ausmaß, das du nicht
einmal ansatzweise zu begreifen vermagst. Aber zu deinem Glück bin
ich ein Mensch, der verzeiht. Ich bin mehr als gern bereit, als
dein Führer zu fungieren. Also, sag mir, wo sollen wir anfangen,
Schätzchen, bei dir oder bei mir?«
Seine Finger streichen über meine Wange, meine
Schulter, arbeiten sich zum lockeren Ausschnitt meines Kleides
hinab. Und obwohl es sich eisig kalt anfühlt, anregend im wahrsten
Sinne des Wortes, kann ich nicht anders, ich lehne mich seiner
Berührung entgegen, kann nicht anders, als die Augen zu schließen
und in dieses Gefühl einzutauchen, ihn stumm zu drängen, tiefer zu
tasten, weiter zu erforschen, bereit, überallhin zu gehen, wohin er
mich führt.
»Ever? Bist du das? Willst du mich
verarschen?«
Ich öffne die Augen und sehe Haven neben uns
stehen. Ihre zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen
flammen vor Zorn, als ihr Blick zwischen Roman und mir
hin und her zuckt. Und werden auch nicht sanfter, als er lacht und
mich wegstößt, sich meiner schnell und leicht entledigt, als
bedeute es ihm gar nichts.
»Hab’s dir doch gesagt, sie kommt wieder,
Schätzchen.« Sein Blick gleitet über meinen zitternden,
schweißbedeckten Körper, der so von unerwiderter Sehnsucht
überwältigt ist, dass es mich schmerzt zu sehen, wie er die Arme um
sie legt. Die beiden kehren mir den Rücken zu und gehen
wieder in den Laden. »Du kennst doch Ever«, sagt er. »Die kann
einfach nicht wegbleiben.«