EINS
Was?« Haven lässt ihr Törtchen
fallen, das mit dem rosa Zuckerguss, den roten Streuseln und der
silbernen Papiermanschette. Ihre stark geschminkten Augen forschen
in meinen, während ich mich auf dem belebten Platz umsehe und mich
innerlich krümme. Sofort bereue ich meinen Entschluss, ausgerechnet
hierher zu kommen. Dumm genug von mir zu glauben, ein Ausflug an
einem schönen Sommertag zu ihrem Lieblingscafé, dem mit den
leckeren Törtchen, wäre die beste Methode, es ihr beizubringen. Als
könnte dieses kleine Erdbeertörtchen ihr die Eröffnung irgendwie
versüßen. Jetzt jedoch wünsche ich mir nur, wir wären im Auto
geblieben.
»Innenlautstärke bitte.« Ich versuche, das ganz
locker klingen zu lassen, höre mich aber stattdessen an wie eine
missmutige Lehrerin.
Sie beugt sich vor, streicht sich ihren langen,
platinblond gesträhnten Pony hinters Ohr und kneift die Augen
zusammen.
»Wie bitte? Tickst du noch ganz richtig? Ich meine,
du knallst mir hier den totalen Hammer hin, und ich meine wirklich
den Megahammer, Marke: Mir klingeln immer noch die Ohren,
und mein Kopf dreht sich total - und du musst das irgendwie
noch mal wiederholen, nur damit ich sicher bin, dass du wirklich
das gesagt hast, was ich glaube. Und das
Einzige, weswegen du dir einen Kopf macht, ist, dass ich zu
laut rede? Soll das ein Witz sein?«
Ich schüttele den Kopf und schaue mich um, dann
schalte ich auf Schadensbegrenzung. »Es ist nur …«, dränge ich mit
gedämpfter Stimme. »Das darf niemand wissen. Es muss
unbedingt geheim bleiben. Das ist unumgänglich!« Zu
spät wird mir klar, dass ich mit genau dem Menschen rede, der noch
nie fähig war, irgendjemandes Geheimnisse zu bewahren, schon gar
nicht ihre eigenen.
Sie verdreht die Augen und rutscht auf ihrem Stuhl
nach hinten, während sie vor sich hin brummelt. Ich nehme mir einen
Moment Zeit, sie genau zu betrachten, und bin entsetzt, als ich
sehe, dass die Zeichen bereits sichtbar sind: Ihre blasse Haut
leuchtet und ist vollkommen rein und außerdem praktisch porenlos,
während ihr braunes Haar mit der blonden Strähne so glänzt und
strahlt wie in einer teuren Shampoowerbung. Sogar ihre Zähne sind
ebenmäßiger, weißer, und unwillkürlich frage ich mich, wie das so
schnell passieren konnte, mit nur ein paar kleinen Schlucken
Elixier, da es bei mir doch so viel länger gedauert hat.
Mein Blick wandert weiter über sie, während ich
tief Luft hole und mich kopfüber hineinstürze. Mein Versprechen
vergesse, nicht die geheimsten Gedanken meiner Freundin zu
belauschen, während ich mich bemühe, mehr zu erkennen, einen Blick
auf ihre Energie zu werfen, die Worte zu hören, die sie für sich
behält … Ich bin mir sicher, wenn Lauschen jemals gerechtfertigt
war, dann jetzt.
Doch anstelle meines üblichen Platzes in der ersten
Reihe finde ich eine unüberwindliche Mauer vor, die mir den Zugang
verwehrt. Selbst nachdem ich ganz beiläufig die Hand ausstrecke,
ihre Fingerspitzen mit meiner
antippe und so tue, als interessiere ich mich für den silbernen
Totenschädelring, den sie trägt, komme ich nicht weiter.
Ihre Zukunft ist vor mir verborgen.
»Das ist einfach so …« Sie schluckt heftig und
sieht sich um, betrachtet den plätschernden Springbrunnen, die
junge Mutter, die einen Kinderwagen schiebt und dabei in ihr Handy
brüllt, die Mädchen, die aus einem Geschäft für Badebekleidung
kommen, die Arme voller Tüten. Schaut so ziemlich überallhin, nur
nicht in mein Gesicht.
»Ich weiß, es ist ganz schön krass, aber
trotzdem …« Ich zucke die Achseln; mir ist klar, dass ich das
sehr viel besser rüberbringen muss, aber ich weiß nicht recht,
wie.
»Ganz schön krass? So siehst du das also?«
Sie trommelt mit den Fingern auf die Armlehne des grünen
Metallstuhls, während sie mich fragend ansieht.
Ich seufze und wünsche mir, ich hätte das hier
besser hingekriegt, wünsche mir, ich könnte das alles ungeschehen
machen, aber dafür ist es zu spät. Mir bleibt nichts anderes übrig,
als mich mit diesem Chaos auseinanderzusetzen, das ich angerichtet
habe. »Ich habe wohl gehofft, du würdest es so sehen.«
Wieder zucke ich die Achseln »Verrückt. Ich weiß.«
Sie atmet tief durch; ihr Gesicht ist so
regungslos, so ruhig, dass man unmöglich etwas darin lesen kann.
Das Schweigen hängt zwischen uns, so lange, dass ich gerade etwas
sagen, gerade anfangen will, um Verzeihung zu bitten, als sie
hervorstößt: »Im Ernst? Du hast mich zu einer Unsterblichen
gemacht? So … ganz echt?«
Ich nicke, und mein Magen ist ein einziges
Nervenknäuel, als ich mich aufrichte und die Schultern straffe,
mich für den Schlag wappne, der ganz sicher gleich kommen wird.
Mir ist klar, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als
hinzunehmen, was immer sie austeilt, sei es nun verbal oder
handgreiflich. Ich habe nichts Geringeres verdient, dafür, dass ich
ihr Leben, so wie sie es gekannt hat, in Trümmer gelegt habe.
»Ich bin einfach …« Sie holt tief Luft. Ihre Aura
ist unsichtbar und gibt keinerlei Hinweis auf ihre Stimmung, jetzt,
da sie so ist wie ich. »Also … ich stehe total unter Schock. Ich
meine, ganz im Ernst. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Ich presse die Lippen zusammen, lasse die Hände in
den Schoß sinken und fingere an dem kristallbesetzten Armband
herum, das ich immer trage. Dann räuspere ich mich und sage:
»Haven, hör zu, es tut mir so was von leid. So … dermaßen …
unheimlich … leid. Du hast ja keine Ahnung. Ich habe einfach …«
Ich schüttele den Kopf und weiß, dass ich langsam auf den Punkt
kommen sollte, aber ich habe das Gefühl, ich muss meine Sicht der
Dinge erklären …, die unmögliche Entscheidung, die zu treffen ich
gezwungen war …, wie es sich angefühlt hat, sie so hilflos zu
sehen, so bleich, an der Schwelle des Todes, jeder flache Atemzug
hätte durchaus ihr letzter sein können …
Doch ehe ich auch nur anfangen kann, beugt sie sich
zu mir vor, die weit aufgerissenen Augen fest auf meine gerichtet.
»Spinnst du? Du entschuldigst dich echt, wenn ich
hier sitze und mich so dermaßen freue, so was von total von der
Rolle bin, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie ich dir
jemals dafür danken soll!«
Hä?
»Ich meine, das ist doch so was von voll
cool!« Sie grinst und hüpft auf ihrem Stuhl, während ihr Gesicht
aufleuchtet wie eine Tausend-Watt-Birne. »Das ist echt das
Allerallercoolste,
was mir je passiert ist - und das verdanke ich ganz allein
dir!«
Ich schlucke, schaue mich wieder nervös um und weiß
nicht genau, wie ich reagieren soll. Das ist nicht das, was ich
erwartet hatte. Nicht das, worauf ich mich gefasst gemacht hatte.
Allerdings ist es so ziemlich genau das, wovor Damen mich gewarnt
hat.
Damen … Mein bester Freund, mein Seelengefährte,
meine große Liebe. Mein unglaublich attraktiver, hinreißender,
kluger, talentierter, geduldiger und verständnisvoller Freund, der
wusste, dass das passieren würde und mich aus genau diesem Grund
gebeten hat, mitkommen zu dürfen. Aber ich war zu stur. Habe darauf
bestanden, es allein zu machen. Ich bin diejenige, die sie
verwandelt hat - ich bin diejenige, die ihr das Elixier
eingeflößt hat -, also bin ich auch diejenige, die es ihr erklären
sollte. Nur läuft das Ganze überhaupt nicht so ab, wie ich gedacht
habe. Nicht einmal ansatzweise.
»Ich meine, das ist doch so ähnlich wie ein Vampir
zu sein, nicht wahr? Bloß ohne die Blutsaugerei?« Ihre funkelnden
Augen suchen eifrig meinen Blick.
Ich stöhne auf und weiß genau, dass mir nichts
anderes übrig bleibt, als diesen Zug wieder auf die Schiene zu
setzen, ehe er komplett entgleist.
Gerade will ich zu einer Erwiderung ansetzen, als
sie hinzufügt: »Oh, und auch ohne das mit den Särgen und keine
Sonne und so!« Ihre Stimme wird vor Begeisterung lauter. »Das ist
ja so was von irre - als ob ein Traum wahr wird! Alles, was
ich immer gewollt habe, ist endlich passiert! Ich bin ein Vampir!
Ein wunderschöner Vampir, aber ohne all die ekligen
Nebeneffekte!«
»Du bist kein Vampir«, entgegne ich. Meine Stimme
ist
dumpf und teilnahmslos, und ich frage mich, wie das Ganze sich so
entwickeln konnte. »So was gibt es nicht.«
Nein, keine Vampire, keine Werwölfe, keine
Elben, keine Feen - nur Unsterbliche, die sich dank Roman und
meiner Wenigkeit zügig vermehren …
»Kann ich trotzdem Törtchen essen?« Sie zeigt auf
das Erdbeerteilchen, das geradezu danach schreit, gegessen zu
werden. »Oder gibt’s da irgendwas anderes, was ich …« Ihre Augen
werden riesengroß, und sie lässt mir keine Zeit, zu antworten, ehe
sie mit der flachen Hand auf den Tisch haut und kreischt: »O Mann -
es ist dieser Saft, nicht wahr? Dieses rote Zeug, das ihr
andauernd trinkt, Damen und du! Das ist es, wie? Also,
worauf wartest du? Gib das Zeug schon her, machen wir’s amtlich.
Ich kann’s gar nicht erwarten loszulegen!«
»Ich habe keins dabei«, wehre ich ab und sehe, wie
ihre Miene sich enttäuscht verdüstert, während ich hastig erkläre:
»Hör zu, ich weiß, du findest, das hört sich alles echt cool an und
so - und einiges daran ist auch cool, da gibt’s gar keine Zweifel.
Ich meine, du wirst nie alt, kriegst nie Pickel oder gespaltene
Haarspitzen, du wirst nie Sport machen müssen, und vielleicht wirst
du sogar noch größer - wer weiß? Aber da gibt’s auch noch was
anderes, Sachen, die du wissen musst, damit du …« Meine Worte
geraten bei dem Anblick ins Stocken, wie sie so schnell und so
anmutig aus ihrem Stuhl aufspringt wie eine Katze - ein weiterer
Nebeneffekt der Unsterblichkeit.
Sie hüpft von einem Fuß auf den anderen. »Bitte,
was gibt’s da schon groß zu wissen? Wenn ich höher springen und
schneller laufen kann und nie alt werde, was soll ich da noch
brauchen? Klingt doch, als wäre bei mir für den Rest der Ewigkeit
alles klar!«
Nervös blicke ich mich um, fest entschlossen, ihre
Begeisterung zu bremsen, bevor sie etwas völlig Abgedrehtes
anstellt - etwas, das die Sorte Aufmerksamkeit erregt, die wir uns
nicht erlauben dürfen. »Haven, bitte. Setz dich hin. Das
hier ist ernst. Es gibt da noch mehr zu erklären. Eine ganze Menge
sogar«, verkünde ich; meine Stimme klingt hart und brutal, doch sie
hat keinerlei Wirkung auf sie. Sie steht einfach kopfschüttelnd vor
mir und weigert sich nachzugeben. So trunken von ihren neuen
unsterblichen Kräften, dass sie die Trotzstufe überspringt und
gleich auf Angriffslust schaltet.
»Bei dir ist alles ernst, Ever. Alles, was
du tust oder sagst, ist ja so verdammt ernst. Ich meine,
ehrlich, du drückst mir die Schlüssel zum Königreich in die
Hand, und dann verlangst du, dass ich still dasitze, damit du mich
vor der dunklen Seite warnen kannst? Wie bescheuert ist das
denn?« Sie verdreht die Augen. »Komm schon, sei mal ein bisschen
locker, okay? Lass es mich doch mal ausprobieren, mal’ne Probefahrt
machen, sehen, was ich draufhabe. Ich mach sogar ein Rennen mit
dir! Die Erste, die vom Bordstein aus bei der Bibliothek ankommt,
hat gewonnen!«
Seufzend schüttele ich den Kopf und wünsche mir,
dass das nicht nötig wäre, doch mir ist klar, dass hier ein
bisschen Telekinese angesagt ist. Das ist das Einzige, was all dem
ein Ende machen und ihr zeigen wird, wer hier wirklich das Sagen
hat. Ich kneife die Augen zusammen, während ich mich mit aller
Kraft auf ihren Stuhl konzentriere und ihn so schnell über den
Boden rutschen lasse, dass er ihre Knie einknicken lässt und sie
sich gezwungenermaßen hinsetzt.
»Hey, das hat echt wehgetan.« Sie reibt sich das
Bein und schaut mich wütend an.
Doch ich zucke lediglich die Schultern. Sie ist
unsterblich,
sie kriegt keine blauen Flecken. Außerdem gibt es da noch eine
Menge Dinge, die ich ihr sagen muss, und wenn sie so weitermacht,
bleibt nicht genug Zeit. Also beuge ich mich vor, vergewissere
mich, dass sie mir ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, und sage:
»Glaub mir, du kannst das Spiel nicht spielen, wenn du die Regeln
nicht kennst. Und wenn du die Regeln nicht kennst, passiert mit
Sicherheit irgendjemandem was.«