Mittwochmorgen, 23. Juni
I
Sie erwachte unausgeruht mit einem sonderbaren Gefühl der Unsicherheit. Ihr war, als könne ihr Bewußtsein die Müdigkeit nicht abschütteln und nicht die für klares Denken nötigen Verbindungen herstellen, so als verhülle eine Dunstschicht den Tag. Es war noch früh am Morgen. Doch es war bereits heiß. Das Gewitter hatte sich verzogen, der Himmel strahlte wolkenlos. Die Junihitze ließ das Regenwasser verdampfen. Es würde drückend schwül werden. Ihr Mann, der noch immer neben ihr schlief, lag unter Decken und Laken vergraben, ein großer, deckenumhüllter Körper im Frühmorgenlicht. Doch er war immerhin da. Sie dachte an ihren Traum. Sie dachte an ihre liebende Vereinigung, an das Kind. Das klärte ihren Kopf ein wenig. Na ja, dachte sie. Die Angst. Die Anspannung. Das Warten. Nicht zuletzt der Alkohol.
Das ist nun vorbei. Heute morgen fangen wir neu an.
Sie stand auf und ging nach unten.
Verblüfft blieb sie in der Küche stehen und sah sich um. Unglaublich! Hier sah es aus wie in den historisch getreu rekonstruierten Räumen eines Museums, in denen alte Möbel und alter Hausrat gezeigt werden. Da stand der alte Eisenherd aus der Sommerküche mit der langen Ofenröhre, die die Wand entlang zum Kamin verlief. Neben dem Herd ein Behälter mit frischgeschnittenem Feuerholz. Der Kühlschrank war verschwunden, an seiner Stelle stand ein schmaler Eiskasten, metallgrau. Auch Mamas neue Spüle mit den blitzenden Armaturen war ersetzt worden. Jetzt stand ein wackliger Waschtisch mit einer alten Porzellanschüssel und einem Geschirrschaff aus Zinn da. Eine Handpumpe zum Wasserpumpen. Das Ergebnis des Hämmerns und Klopfens vom Vorabend. Das war reiner Wahnsinn!
Sie warf einen Blick hinaus. Und auch draußen erschien ihr alles sonderbar. Ja, es war frühmorgens, und die aufgehende Sonne warf ihre Strahlen voraus. Aber die in Licht getauchte Scheune wirkte heller, wie aus neuem Holz mit einem frischen, noch unfertigen Anstrich versehen. Vielleicht lag es am Licht, daß man den eingebrochenen Dachteil nicht sehen konnte. Die Bäume im Hof neben dem Haus waren aufrechter, höher, grüner, und der Blick zum See war durch dichte Waldungen verstellt. Alles sah aus, als hätte sich über Nacht ein Vorhang oder eine Decke herabgesenkt und die Wildheit, die Einsamkeit der Gegend noch mehr betont. Nun ja, dachte sie mit einem letzten Rest ihres früheren Geistes, das wenigstens wird die Dörfler glücklich machen.
Und dann fing etwas anderes an, sie zu beunruhigen, indirekt und und verhüllt, als wäre es unwichtig, als hätte es eigentlich nichts mit ihr selbst zu tun: Würden sie – David und sie – hier wegkönnen? Aber gewiß. Aber so ganz überzeugt war sie nicht, und sie wurde wieder nervös. Katie ging in den Waschraum, plagte sich mit der Handpumpe ab und schüttete sich kaltes Wasser über das Gesicht. Es half nicht viel. Sie fühlte sich noch immer benommen und nicht ganz klar. Aber die Kälte war wenigstens ein gewisser Schock. Ihr Denkvermögen setzte wieder ein, und sie machte sich daran, sich weiter umzusehen.
Papa schlief nicht auf der Couch, und es sah nicht aus, als hätte er sich hier überhaupt schlafen gelegt. Das Bettzeug war an seinem gewohnten Platz, feinsäuberlich in der Kommode. Er hatte auch nicht im Schlafzimmer, im Ehebett geschlafen.
Dann fiel ihr ein, was David ihr in der Dunkelheit zugeflüstert hatte.
»Ich habe ihn in der Hand. Alles läuft glatt.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen. War David sein Temperament durchgegangen? Hatte er ihm etwas angetan? Hatte er schließlich einen Entschluß gefaßt und mit Papa seine alte Rechnung beglichen?
O nein, dachte sie reumütig und ängstlich, und ich dachte, es wäre alles vorbei. Es kann doch nicht wieder neu anfangen.
Einem Gefühl folgend, das dem Instinkt nahe verwandt war, ging sie auf die Kellertür zu, die offen stand. Sie zündete eine Petroleumlampe an und ging hinunter in den Keller. Auf halbem Weg auf der Treppe spürte sie bereits den intensiven Geruch verbrannten Wachses. Die Tür zum Kartoffelkeller stand weit offen. Das nahm sie ohne besondere Überlegungen als nackte Tatsache hin, stieg die Treppe weiter hinunter und bewegte sich wie im Traum auf diese Tür zu. Und dann stand sie in dem Raum. Die Petroleumlampe, deren Geruch sich mit dem Kerzenduft mischte, leuchtete trübe. Die merkwürdigen hohen Kerzen waren heruntergebrannt und erloschen. Auf den zwei Sägeböcken ruhte ein Saatkasten. Sie ging darauf zu, hielt die Lampe hoch und sah hinein. Nein, da keimte nichts, doch in der weichen schwarzen Erde war der Abdruck eines menschlichen Körpers zu sehen, und auf dem Boden um die Kiste lagen Erdklumpen.
Sie trat zurück und hob die Lampe noch höher. Ja. Das war es. Und eine Erinnerung kam ihr, ein Gespräch aus einer noch nicht lange zurückliegenden Zeit, und doch schon ein Menschenalter zurück: »Es kann nicht klappen, oder?«
Und eine andere Stimme, undeutlich und verschwommen: »Solltest du etwas brauchen«, hatte Judy Boomer gesagt, »dann rufe mich unbedingt an.«
Ein wenig schuldbewußt, weil sie ihrem eigenen Mann nicht traute – es war das erste Mal –, ging sie hinauf zu dem uralten hölzernen Telefonapparat, den Papa an der Wand angebracht hatte. Der komische konische Hörer hing an einem Haken neben der Box. Das Mundstück, wieder ein konisches Ding, ragte mitten aus der Box, unter zwei runden, an Brüste erinnernden Metalldingern: Klingeln, die läuteten, wenn jemand anrief. Sie nahm den Hörer ab und lauschte.
Nichts.
Das auch noch? Es mußte einfach funktionieren.
Sie drehte an der seitlich angebrachten Kurbel. Mehrmals.
»Vermittlung?« sagte da eine Stimme wie aus weiter Ferne. »Sie wollen die Vermittlung?«
»Wie bitte? Vermittlung bitte.«
»Ich bin’s, Schätzchen«, sagte die Stimme. Eine Frauenstimme, leicht mürrisch. »Nummer?«
»Was?«
»Ja, kann denn kein Mensch mit diesen neuen Apparaten umgehen? Wen wollen Sie? Ich brauche die Nummer.«
»Die Nummer habe ich nicht. Sehen Sie unter Joel Krause nach.« Das war Judys Vater, bei dem sie eine Weile bleiben wollte.
»Den haben wir nicht.«
»Krause? Joel Krause in St. Cloud?«
»Tut mir leid.«
Um Himmels willen, war denn so was möglich? »Na schön, dann geben Sie mir eben die Nummer von Len T. Boomer.«
Ein Teil ihres Bewußtseins wunderte sich. Len T. Wie?
»Den haben wir nicht«, gackerte die Frau.
»Nicht im Dorf. In St. Cloud, meine ich.«
»Das sagten Sie bereits. Wovon ist eigentlich die Rede?«
»St. Cloud! Die Stadt, begreifen Sie denn nicht? Verbinden Sie mich wenigstens mit der Vermittlung in St. Cloud.«
»Nie gehört«, brachte die Frau aufgeregt heraus. »Hören Sie, es wäre besser …« und dann schlich sich leiser Argwohn in ihren Ton ein, als wäre ihr plötzlich eine verborgene Bedeutung aufgegangen.
»… wer spricht da eigentlich? Ich meine, ist da etwas schiefgegangen? Ist der Samen nicht aufgegangen oder …«
Samen? Aufgegangen …
Sie konnte nur langsam denken, ihr Verstand mußte sich mühsam durch verschiedene Schichten vortasten.
»Entschuldigung. Würden Sie mich mit dem Wagonwheel verbinden?«
David hatte gesagt, Hercules wäre wohlauf.
»Warum nicht gleich? Dieser andere Unsinn hat mich unsicher gemacht …«
Durch den Draht drangen klickende Geräusche.
»Wagonwheel. Hallo?« Eine Frauenstimme. Etwa Mrs. Rasmussen? Die ging doch nie ans Telefon. Der Nebel verdichtete sich. Katie war nicht imstande, eine Frage zu formulieren.
»Wer spricht denn da?« fragte die Frau zurück.
»Mrs…, Mrs. Rasmussen?«
»Ganz richtig! Warum belästigen Sie mich? Worum geht es? Ich habe jede Menge Arbeit. Muß meinen Mann dazu bringen, daß er das Bier für das Picknick heraufschafft, muß mich kümmern, daß …«
»Entschuldigung. Es tut mir leid.«
»Sie sind vielleicht gut!«
Die Frau hängte auf.
Ich kann nicht richtig denken. Hier ist etwas … Sie wollte erst mit ihrem Mann sprechen. Er hatte gesagt, Herc ginge es gut, aber hatte er ihn tatsächlich gesehen?
Sie lief eilig hinauf in ihr Zimmer. Er lag noch immer vergraben in Laken und Decken.
»Er ist fort«, wollte sie sagen. Sie meinte damit Papa. Da hielt sie jäh inne. Ihr Verstand geriet ins Wanken, der schwache Zugriff, mit dem ihr Gehirn den Morgen erfaßt hatte, lockerte sich immer mehr, sie trieb auf den Rand eines Abgrunds zu, und fiel …
Er befreite sich von den Decken und setzte sich im Bett auf.
»Katrin«, sagte er mürrisch. »Ist es schon spät?«
Betäubt, atemlos vor Ungläubigkeit schüttelte sie vage den Kopf und spürte dabei, wie ihr Geist unsicher wurde und sich zurückziehen wollte.
»Na, ich stehe jetzt auf. Heute wird der Tag der Sonnenwende gefeiert. Und du wirst dich sicher auch hübsch machen wollen.«
Er starrte sie gleichmütig an. Sein Blick ließ die Erinnerung an das genossene Vergnügen aufschimmern.
»Das wird heute ein Fest! Mrs. Rasmussen stiftet Freibier zur Feier des Tages. Zu Ehren ihres neugeborenen Sohnes. Sie wollen ihn Hercules nennen! Klingt ein bißchen großartig. Wahrscheinlich haben sie mit dem Jungen einiges vor.«
Sie stand reglos da. Sie konnte sich nicht rühren, nicht atmen, nicht sprechen. Ihr Mund bewegte sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Ihre Augen waren starr und aufgerissen.
Der junge Mann stand auf, nackt, kraftvoll gebaut. Als er die Decken zurückschob, rollten Erdkrumen über das Laken; Getreidekörner rieselten auf seine Schultern, als er sich durch das dichte dunkle Haar fuhr.
Im Raum roch es nach Erde und Liebe.
Über seine Wange lief ein tiefer gebogener Schnitt, über dem sich frische narbige Haut bildete.