Freitagmorgen, 18. Juni
I
Otto Ronsky warf den Kopf zurück, kniff die Augen zusammen und spähte seine unglaublich lange Nase entlang. So begutachtete er Katie eingehend. Die Nase war sein Glück, ein knolliges, deformiertes, phantastisches Instrument. Sie meldete ihm, wann der Weizen reif war und wann der Regen kam. Diese Dinge strömen einen eigenen Geruch aus. Und sie meldete ihm, wann ein fettes Geschäft winkte. Bei Wettervorhersagen mußte man mit einer gewissen Fehlerquote rechnen, aber noch nie hatte sein Riecher bei einem guten Geschäft versagt.
Er lächelte und entblößte dabei ein lückenhaftes, tabakverfärbtes Gebiß.
»Na, wenn das nicht die kleine Katie ist!« rief er aus. Laut und freundlich.
So freundlich war er noch nie zu ihr gewesen, aber schließlich gab er sich immer recht freundlich, wenn man für ihn keine Bedrohung darstellte und nichts besaß, was er einem aus der Nase ziehen wollte.
Er stand am Fuße der Verandatreppe und sah zu ihr hoch, die Hände in den Overalltaschen. Er lächelte.
»Glücklich verheiratet, hm? Kinder?«
»Nein«, antwortete Katie ein wenig nervös. Hier im Dorf blieb das immer die allererste Frage.
»Die kommen schon noch. Keine Bange. Und dein Mann? Kommt er aus der Gegend? Kann mich nicht mehr erinnern.«
Otto wußte es ganz genau.
»David Ellenwood«, sagte Katie, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Jetzt konnte er nicken und sagen: »Ach ja, jetzt weiß ich, Ellenwood.«
Otto sah sich um.
»Er kommt heute abend. Aus Minneapolis«, erklärte sie.
Otto nickte wissend. Er kannte Minneapolis vom Hörensagen. Es lag da irgendwo im Süden des Bundesstaates. »Ja, die Ellenwoods«, gab er sich der Erinnerung hin. »Lebten die nicht da irgendwo außerhalb, am Mississippi? Hatten kein eigenes Land?«
Er schüttelte den Kopf. »Sehr schlecht. Ohne Land kein Leben. Wenn man etwas sein will, muß man Land haben. Seine Eltern sind gestorben, wie? Aber jetzt sag mal, wann bist du nach Hause gekommen?«
Sie sagte es ihm und berichtete noch, daß Mama wieder da wäre, aber das wußte er bereits. Im Dorf machten Neuigkeiten schnell die Runde.
»Wie schön, daß du kommen konntest – um zu helfen. Sicher ist dein Papa sehr stolz«, setzte er leiser hinzu und blinzelte.
Das Blinzeln sollte ihr verraten, daß er alles über sie und David und Papa wußte, und alles von ihren Schwierigkeiten. Obgleich er es nicht laut sagen konnte, denn das wäre nicht gutnachbarlich gewesen – wollte er ihr zu verstehen geben, daß er auf ihrer Seite stand.
»Übrigens«, fuhr er fort und wollte zur Sache kommen, nachdem die ländlichen Einleitungsförmlichkeiten erledigt waren, »ist dein Pa heute zufällig da?«
Papas Anwesenheit war nicht zu übersehen. Sein alter Wagen parkte an der gewohnten Stelle unter dem ausladenden Ahornbaum neben der Scheune. Aber wenn Otto etwas »bereden« wollte, dann ließ er den formellen Teil komplett abspulen, von A bis Z.
Katies Vater saß in der Küche beim Frühstück und hatte jedes Wort mitangehört. Alle hatten Ottos Ankunft mitbekommen, bis auf Mama, die noch immer schlief. Ottos Nahen war kaum zu überhören, weil er fast überallhin – nur nicht zur Kirche – auf seinem hellgrünen großrädrigen Traktor fuhr, einem Traktor, der anders klang als alle anderen Traktoren, und der schon meilenweit zu hören war. Jetzt stand er in Ben Jaspers Hof und knatterte müßig vor sich hin. Dahinter ein leerer Heuwagen, der sich unter dem Gewicht von Ottos Riesensohn Butch schief nach einer Seite neigte. Butch starrte verträumt ins Nichts, wobei sein Kopf im Takt des Motors rhythmisch auf und nieder hüpfte.
»Eben sagte ich Katie, wie schön es ist, daß sie wieder da ist«, erklärte Otto, als Ben aus dem Haus trat und sich auf die Stufen setzte. Todernst. Beim Geschäft gab es nichts zu lachen, und die dörflichen Gepflogenheiten verlangten, daß Männer »Geschäfte« außerhalb des Hauses besprachen, oder aber, wenn es kalt und feucht war, in der Scheune.
Ben brummte zustimmend.
Die zwei Männer teilten sich den letzten Priem von Ottos Kautabak. Otto faltete das Stückchen Cellophan zusammen und steckte es in die Tasche.
»Nur nichts wegwerfen«, erklärte er. »Sicher habe ich Katie noch nie von meinem ersten Tag hier im Dorf erzählt?«
Nein, bloß an die hundert Male, dachte sich Katie. Aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Nun ja, ich war damals eine Art wandernder Tagelöhner. War viel herumgekommen, arbeitete oben in Dakota bei der Ernte, als ich hörte, daß viele Farmer hier im Norden von Minnesota Hilfskräfte suchten. Ich ließ Frau und Kind stehen« – er deutete mit dem Daumen auf Butch – »und machte mich auf nach St. Cloud. Wir kamen auf dem Güterzug, und ich hatte keinen Cent mehr in der Tasche. So komme ich hier raus nach St. Alazara. Die ganzen dreißig Meilen von der Stadt zu Fuß. Da höre ich, dein Pa hätte ein großes Anwesen, dreihundert Morgen …«
Papa saß auf der Treppe, den Kopf gesenkt, kauend, und dachte an verlorenes Land und verlorene Zeit.
»… und ich schaffte es gar nicht an einem Tag. Mußte in den Wäldern schlafen, ehe ich ankam. Juni war es, um diese Tageszeit etwa. Ich komme hier zum Haus, klopfe an. Deine Mama kommt raus. In deinem Alter war sie etwa, sah dir sehr ähnlich, nur hatte sie schon graues Haar an den Schläfen. Ich sagte: ›Wie ich höre, brauchen Sie eine Hilfskraft.‹ Ja, genau das sagte ich. Und sie sagte: ›Da müssen Sie mit Papa reden.‹ So nannte sie ihn, denn du warst damals unterwegs, wenn du weißt, was ich meine, und dein Pa redete dauernd von einem Sohn …«
Papa spie Tabaksaft aus.
»… wie alt bist du? Etwa ein Jahr jünger als Butch, schätze ich.«
Katie nickte.
Otto deutete mit dem Daumen zu dem Fleisch- und Muskelberg auf dem Wagen. »Waren die schönsten Tage meines Lebens, als Butch noch klein war.« Butch reagierte auf die Nennung seines Namens überhaupt nicht. Füße und Kopf schwangen noch immer im Takt des laufenden Motors.
»Butch wird langsam nervös«, meinte Otto und spukte Old Robert eine Prise Tabaksaft mitten auf die Schnauze.
Der Hundeveteran sah gekränkt drein, leckte über seine Schnauze und hob dabei versöhnlich den Schwanz zum Wedeln, um anzudeuten, daß er Otto nicht gram wäre.
Otto war es ohnehin egal.
»Na, Ben, möchtest du mir heute nicht deine Letzten Vierzig verkaufen? Wenn ich die endlich habe, dann gehört mir alles Land um den Fox Lake, mit Ausnahme von Aggies schäbigem Fleckchen. Aber das kriege ich später auch noch.«
Er stieß ein bellendes Lachen aus.
Die Antwort ihres Vaters setzte Katie nicht wenig in Erstaunen. Noch vor wenigen Jahren hätte er auf Ottos Habgier mit entrüsteter Ablehnung reagiert. Vielleicht hatten die Umstände ihn mürbe gemacht und er war umgänglicher geworden. Er schob den Tabak in die andere Wange und sagte: »Wenn wir all die Jahre wieder ablaufen ließen, dann bleiben mir vielleicht mehr als nur die Letzten Vierzig.«
Otto lachte auf und spähte seine lange Nase entlang.
»Ich würde auch dann meine Chancen nützen«, sagte er.
Er sah sich nach Butch um. Der Riese hing noch immer schlaff auf dem Wagen.
»Na denn«, sagte Papa.
»Na denn«, kam Ottos Antwort.
Beide spuckten aus. Old Robert raffte sich auf, stolzierte davon und verkroch sich unter Papas altem Auto. Der Traktor rüttelte rhythmisch und laut, so daß das Geräusch von den Scheunenwänden widerhallte.
»Wie geht’s der Frau?« erkundigte sich Otto.
»Könnte besser sein.«
»Du hast Aggie Jensen?«
»Hm.«
»Und dazu Katie.« Wieder ein breites Lächeln zu Katie hin mit einem Blick, der zu freundlich ausfiel. Und zu lang.
»Hm«, äußerte Papa.
»Wird schon gutgehen«, sagte Otto …
Es kann nicht gutgehen. Dieser Satz drängte sich Katie auf. Hatte das Mama nicht gesagt …?
»… wird schon gutgehen. Wenn die beiden helfen«, ergänzte Otto. »War Reverend Mauslocher schon da?«
»Noch nicht. Bloß Bates.«
»Jaja, ein guter Arzt. Mit ihm und dem Reverend wird alles gutgehen.«
»Denke schon«, sagte Papa.
Katie sah von einem zum andern. Sie fuhren fort, sich über Mama zu unterhalten, unverständlich und ländlich, und doch hatte Katie das sichere Gefühl, daß in ihren Worten ein gewisser Unterton mitschwang. Sie spürte, daß ihr etwas entging, etwas ganz Einfaches und Sichtbares, das sich hinter ihren Worten versteckte.
»Du bist nicht zufällig interessiert, mir ein paar Heuballen zu verkaufen«, fragte Otto schließlich vorsichtig.
Das war also der Punkt, auf den die ganze komplizierte Einleitung hinauslief. Kein Höflichkeitsbesuch. Kein Krankenbesuch. Nicht mal die »Letzten Vierzig«, wenigstens diesmal nicht. Otto wollte bloß von dem Heu, das in Papas Scheune lagerte. Gleich zur Sache zu kommen, wäre ein schwerer Formfehler gewesen, eine grobe Verletzung dörflicher Gepflogenheiten.
»Ja, ich glaube, ich kann eine Wagenladung leicht entbehren.«
»Na, dann sage ich Butch, er soll sich ans Aufladen machen.«
Otto ging zum Traktor und fing zu reden und wild zu gestikulieren an. Er deutete auf die Scheune. Endlich hatte Butch begriffen. Er ließ sich vom Wagen gleiten und schlurfte zum Traktor. Beide fuhren den Traktor leidenschaftlich gerne.
»Kommst du mit Otto jetzt besser aus?« fragte Katie ihren Vater leise.
»Möglich.«
»Und warum?«
»Die Zeit vergeht eben.«
Katie ging ins Haus. Obwohl der Handel prinzipiell getätigt war, mußte jetzt einige Zeit mit dem Feilschen zugebracht werden, während Butch hinter der Scheune den Wagen belud.
Aggie hatte mittlerweile das Geschirr gespült und getrocknet.
»Warum sagst du nichts? Ich hätte dir geholfen.«
»Spielt keine Rolle. Du hast jetzt genug um die Ohren. Warum gehst du nicht an die Luft? Machst einen Spaziergang? Das wird dich ablenken. Ich mache deiner Ma etwas zu essen. Ich habe das Gefühl, sie wird bald zu sich kommen. Ich möchte ihr etwas geben, bevor der alte Quacksalber kommt.«
»Aggie?«
»Schieß los.«
»Geht hier in der Gegend nicht etwas Seltsames vor? Im Dorf?«
»Schätzchen, seit ich in den Windeln lag, gehen hier nur seltsame Dinge vor.«
»Und was ist mit Mama?«
»Da zerbrich dir nicht den Kopf. Wenn es uns glückt, Mama wach zu halten und ihr ein paar Fragen zu stellen, können wir einiges herausbekommen. Schließlich kann sie mit ›Ja‹ und ›Nein‹ antworten.«
»Aber auf welche Fragen?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Aggie. »Und jetzt geh spazieren, Luft schnappen. Du wirst dich gleich besser fühlen … Hör mal, Schätzchen«, setzte sie hinzu, als wäre ihr etwas eingefallen, »hat sich hier jemand geschnitten?«
»Geschnitten? Nicht daß ich wüßte. Warum fragst du?«
»Sieh mal diese Papierhandtücher im Abfalleimer. Wenn das kein Blut ist, will ich nicht Aggie Jensen heißen.«