IV

 

 

Judy Boomer geborene Krause schob einen Einkaufswagen den Gang zwischen den Regalreihen des Wagonwheel-Ladens entlang. Das Kleine saß im Wagen, der kleinere Junge hängte sich an den Wagen und der andere lief im Laden hin und her und blieb nur kurz stehen, um erfolglos und durchdringend um Süßigkeiten oder Eis zu flennen. Judy wirkte abgehetzt – dazu hatte sie immerhin drei gute Gründe –, doch ihre Laune hob sich sichtlich, als sie David und Katie, gefolgt von dem schwankenden Polizisten, durch die Hintertür hereinkommen sah.

»David!« rief sie aus. Sie hatte ihn seit der Hochzeit nicht gesehen und begrüßte ihn mit einer flüchtigen, halbförmlichen Umarmung. »Katie sagte schon, du wolltest heute kommen.«

Barney verkrümelte sich zur Sodapopmaschine und blieb in bequemer Hörweite. Ein paar alte Frauen machten Einkäufe, und Hercules stand wie immer hinter der Kasse neben der Tür.

»Letzte Nacht hat es Aufregung gegeben«, sagte David ernst. Der Hund wollte ihm nicht aus dem Kopf, wie vieles andere. »Wirst du da draußen bleiben? Im Sommerhaus?«

Die Kleine wurde unruhig, und Judy nahm sie hoch.

»Ich weiß nicht recht. Die Kinder möchten natürlich gern bleiben. Sie haben ja keine Ahnung, was vorgefallen ist. Ich könnte sie zu Opa in die Stadt bringen – glaubt ihr denn, daß noch etwas passieren wird?« fragte sie ängstlich. »Butch hat man doch gefaßt, nicht?«

»Er ist unten im Keller eingesperrt«, sagte Katie und mußte erst einmal erklären, wie die »Gesetzesmaschinerie« in St. Alazara funktionierte.

»Aber Butch hat es getan, oder nicht?« fragte Judy.

»Hast du ihn gesehen?« erwiderte David.

»Ich sah überhaupt niemanden. Katie sagte, es wäre Butch, als sie an unsere Haustür hämmerte.«

Barney renkte sich fast den Hals aus, um ja kein Wort zu überhören.

Judy verstummte für einen Augenblick.

»Na, jedenfalls ließ ich das Telefon wieder anschließen. Da fühle ich mich schon bedeutend sicherer. Wenn du anrufen möchtest, Katie, dann komm einfach auf einen Sprung rüber. Der Mann von der Fernsprechgesellschaft war richtiggehend erstaunt. Er sagte, es wäre der erste Anschluß hier draußen seit drei Jahren. Alle anderen hätten die Anschlüsse sperren lassen.«

»Was für ein Unsinn!« rief David empört aus. »Die Leute hier sind …«

»Katie? Erinnerst du dich, wie wir gestern auf der Straße anhielten? Als du sagtest, hier wäre nicht alles normal?«

Katie wußte es genau.

»Nicht nur der Vorfall von gestern abend, sondern auch andere Dinge.«

Sie bemerkte, daß Barney angestrengt lauschte und senkte die Stimme.

»Und was ist denn mit Hercules los? Er ist zu Tode verängstigt. Er hat mich kaum gegrüßt. Und die alten Leute sind richtig unfreundlich und muffig.«

»Unfreundlich?« fragte Katie.

Das klang so gar nicht nach den alten Männlein und Weiblein, die ihr zugelächelt und sie betastet hatten, die schon fast überfreundlich gewesen waren.

»Zum Beispiel?« fragte David.

»Also, ich hielt an der Tankstelle und wollte tanken, und der alte Willis blieb einfach sitzen und beachtete mich nicht. Kam gar nicht rüber, um bei mir aufzutanken. Und als ich schließlich hupte und er endlich dahergeschlurft kam, wißt ihr, was er da sagte?«

Sie sah sich um, um ja sicherzugehen, daß ihre zwei Söhne nicht mithörten. Aber die waren drüben an der Popcornmaschine und bewunderten Barneys Revolver und Gürtel. »Er sagte: ›Und ich dachte schon, wir wären euch endlich los, als deine Eltern nach St. Cloud zogen.‹ Und dann sagte er etwas richtig Gemeines, so daß nur ich es hören konnte, die Kinder aber nicht. Er sagte ›Verschwinde hier, du Hure. Du paßt hier nicht rein.‹«

»Das sagte Willis? Warum?« Katie war fassungslos.

»Weiß ich nicht. Ich fragte noch, was denn hier los sei, und er murmelte nur etwas vor sich hin, daß alles gut liefe und Außenstehende bloß etwas verderben könnten.«

»Genau das hat Aggie auch gesagt … sie sprach von einem Plan, der klappen müßte«, platzte Katie viel zu laut heraus.

Und sofort wurde sie sich der Stille im Laden bewußt, einer lauschenden Stille. Hercules erhob sich – man kann es nicht anders nennen – hinter dem Brotstand. Er machte eine knappe, beschwichtigende Geste, die bedeuten sollte »Mund halten«.

David kapierte sofort.

»Also, ich habe noch keine festen Pläne«, plapperte Judy gekünstelt drauflos. Sie spürte, daß da etwas nicht stimmte, glaubte aber, es hinge damit zusammen, daß sie schlecht von dem alten Willis gesprochen hätte. »Ich weiß auch nicht, wie es jetzt mit Aggies Sommerhäuschen weitergeht. Otto war schon da und hat sich umgesehen …«

»Sicher will Otto den Besitz erwerben«, meinte David. »Dann gehört ihm das gesamte Ufer …«

Im danebenliegenden Regalgang schrie plötzlich einer von Judys Söhnen auf.

»Du dreckiger kleiner Bengel!« rief eine zittrige hohe Stimme.

Sie liefen um die Ecke der Dosenregale und sahen, wie eines der Dorfweiber wutschnaubend Judys jüngerem Sohn einen Tritt – etwa schon den zweiten? – versetzen wollte. Für ihr Alter erstaunlich energiegeladen. Es war die alte Valma Peter, eine Witwe, einst die »Hoffnung der Kirchengemeinde«. Vor langer Zeit hatte sie in einen Orden eintreten wollen, aber nicht mal die Nonnen wollten sie bei sich behalten.

»Hören Sie auf damit!« rief David und zog den schreienden Jungen mit sich fort. Der lief zu Judy und klammerte sich an ihre Beine.

»Das ist mein Sohn«, sagte Judy zornbebend, »was hat er Ihnen denn getan?«

»Ich weiß, wer er ist«, kreischte die Alte. »Und dich kenne ich auch, du junge Schlampe.«

Judy errötete. »Jetzt hören Sie mal …«

»Ich hab’ alles gesehen«, meldete sich nun Barney und kam näher. »Der Junge rempelte die alte Dame an und ihr fiel fast die Tasche aus der Hand. Ein kleiner Unfall!«

Die Alte sah die Kinder geringschätzig an, dann Judy und die anderen.

»Sind Sie nicht der Sohn von Ellenwood?« fragte sie David, ein wenig milder gestimmt.

David bejahte, doch das schien sie zu verwirren. Nicht weil sie ihn etwa nicht erkannte. Es war vielmehr etwas anderes, rätselhafter und komplizierter. Man konnte es an ihrem Gesicht sehen, aber nur andeutungsweise, denn ihr Ausdruck blieb schwer faßbar. Sie sah Judy an, und ihre Miene steigerte sich zur Leutseligkeit. Dann wieder David, und wieder war da das Staunen, die Verwunderung, ein ungelöstes Problem.

»Warum treibt ihr euch mit diesem Gesindel herum?« fragte sie David und Katie und deutete dabei auf Judy.

»Jetzt hören Sie mal …«, setzte Katie an.

»Mrs. Peter, beruhigen Sie sich«, griff Barney vermittelnd ein. »Ist doch nichts passiert.«

Die alte Vogelscheuche sah ihn an und schien von den anderen eine geheime Botschaft zu empfangen. Sie beruhigte sich und humpelte davon. Gleich drauf verkündete das Bimmeln der Türglocke ihren endgültigen Abgang.

Die anderen standen verlegen da und wußten nicht, wie ihnen geschah.

»Vielleicht fahre ich gleich jetzt nach St. Cloud zurück«, sagte Judy. Ihre Wut war der Verwirrung und Gekränktheit gewichen. Der Junge, der den Tritt bekommen hatte, heulte. Das Baby in ihren Armen strampelte unruhig.

»Ach bitte, bleib noch ein bißchen länger«, bat Katie sie. »Es wird schon besser werden. Richte dich erst mal ein. Morgen ist Sonntag. Komm doch rüber, vielleicht gleich am frühen Nachmittag, ehe David zurück nach Minneapolis muß.«

»Du bleibst nicht?« fragte Judy.

»Ich bleibe nur Montag weg«, meinte David. »Dann möchte ich zurückkommen und ein paar Dingen auf den Grund gehen.«

Er warf einen Blick zu Barney hinüber, diesmal um sicherzugehen, daß der Allgegenwärtige es mithörte. »Das bin ich meinem lieben alten Heimatort schuldig.«

»Wirklich, komm doch rüber«, wiederholte Katie. »Du hast uns noch nicht besucht.«

»Aber ja«, protestierte Judy. »Du warst gar nicht da.«

»Was? Wann denn?«

»Kurz bevor ich hierher zum Laden fuhr. Ich hielt bei eurem Haus an. Unterhielt mich sogar eine Weile mit deinem Vater. Aber ich ging nicht ins Haus – wegen der anderen.«

»Etwa wegen der Nachbarinnen? Die bei Mama sitzen?«

»Nein. Ich meinte Doc Bates und Reverend Mauslocher. Die waren gleichzeitig da.«