II

 

 

Katie verschloß an diesem Abend zum ersten Mal in ihrem Leben die Tür ihres Zimmers. Warum, das wußte sie nicht. Als Vorsichtsmaßnahme? Aus Angst? Sie war unsicher, und ihre Unsicherheit war Grund genug.

Unsicherheit war es auch, die sie lange nicht einschlafen ließ. Sie konnte ihrer Unruhe nicht Herr werden. Draußen auf dem Flur tickte gleichmäßig die Uhr und zählte die Minuten in langsamer, ehrwürdiger Kadenz aus. Das wenigstens war eine Sicherheit. Die Zeit.

War sie das?

Ihr kam es vor, als könne sie stundenlang nicht einschlafen. Doch als sie auf ihre Uhr sah, waren erst fünfundzwanzig Minuten vergangen. Wieder verging die Zeit, viel rascher diesmal, und sie schlief noch immer nicht. Ein zweiter Blick auf die Uhr zeigte, daß es ein Uhr morgens war. Zwei Stunden waren vergangen. Wie war das bloß möglich? Zwei Stunden in die Unendlichkeit des Raumes in wenig mehr als ein paar Augenblicken entschwunden? Sie stand auf und ging hinaus auf den Flur. Auch die Standuhr zeigte eins. Sie ging hinunter. Bei Mama alles in Ordnung. Papa schlief fest. Wieder nach oben, Tür zuschließen, Augen zu. Die Uhr tickte die Stille hinweg, bis das ganze Haus zu schlagen schien, ein Grab der Zeit.

Im Dahintreiben gingen und kamen die Bilder rasch und sanft. Wieder eine Erinnerung: ein feuchtes Metallgeländer, feuchtkalte Luft, und rundherum Wasser. Ein Schiff. An Bord eines Schiffes. Die Deckreling eines Schiffes, und in der Ferne eine Stadt, aus dem Meer auftauchend, vom sich drehenden Erdhorizont enthüllt, während das Schiff darauf Kurs nimmt. Etwas, das Katie nie gesehen hatte, etwas, an das sie keine Erinnerung haben konnte. Und dennoch war es ihre Hand auf der Reling – sie spürte Feuchtigkeit und Kälte. Es gab keine Zeit mehr, und die Schiffsreling wich dem Metallgeländer einer Treppe. Sie lief und ängstigte sich. Und dann wußte sie, warum. Hellwach saß sie aufrecht im Bett. Bruchstücke der Erinnerung verschmolzen miteinander. Fragmente, die vor einigen Nächten durch das merkwürdig schleifende Geräusch in der Heizung freigesetzt worden waren. Sie war noch ein kleines Mädchen, als sich diese Erinnerung ausbildete, sechs oder sieben Jahre alt. Sie spielte allein im Keller. War etwas in die Ecke gerollt? Sie lief dem Ding nach und entdeckte in einem Winkel ein haariges bräunliches Etwas, reglos. Sie stieß es mit der Fußspitze an. Und da rührte es sich. Ein kleiner Kopf wurde sichtbar. Knopfaugen, eine rattenähnliche Schnauze. Und dieser haarige Klumpen dehnte sich aus, wurde größer, breitete sich aus wie ein Wesen aus einem Alptraum. Und schoß in die Luft empor.

Als nächstes erinnerte sich Katie, daß sie die Kellertreppe hinaufgelaufen war und das Metallgeländer durch ihre Hand glitt. Katie konnte sich weder an die Tages- noch an die Jahreszeit erinnern. Mama stand an der Spüle, Papa beim Tisch.

Mama drehte sich um. Sie sah nicht Katie an, sondern etwas über ihr, hinter ihr und schrie entsetzt auf: »Ben!«

Papa und Katie wandten sich um. Das geflügelte lautlose Etwas prallte gegen das Ofenrohr, streifte über die Küchenborde, flatterte wieder zurück. Mama schrie.

»Katie«, befahl Papa ganz ruhig, »hol ein Handtuch und binde es dir um den Kopf.«

Hier im Norden wußte man, daß Fledermäuse sich mit ihren Krallen im Menschenhaar verfingen.

Mama schrie hysterisch, und das jagte Katie mehr Angst ein, als das umherschwirrende Tier. Sie tat, was Papa ihr geraten hatte. Papa hatte einen Besen aus dem Schrank geholt.

Mama schrie und schrie, es war ein hysterischer Angstzustand, in dem sie keine Gewalt mehr über sich hatte. Es ging weit über ihre übliche Scheu vor Tieren hinaus, eine Furcht, der mit Vernunft nicht mehr beizukommen war.

Sie hörte Papas Schlag und Mamas ruckartiges Schluchzen.

Dann ein lautes Geräusch, als Papa den Besen schwang. Dann ein weicher Schlag, als der Besen die Fledermaus mitten in der Luft traf. Und danach ein Schlag hart auf hart, als das Tier gegen die Wand prallte. Ein kurzes hohes Quietschen, dann das Auftreten von Papas Stiefel.

»Ganz ruhig, Katrin«, befahl er. »Sieh nicht her.«

Doch sie hatte hingesehen. Die Fledermaus baumelte in seiner großen Hand. Schlaff hingen die Schwingen herunter. Und überall Blut.

Das war es, woran sie sich dauernd zu erinnern versucht hatte. Das war es, was das Schleifgeräusch in ihrem Bewußtsein ausgelöst hatte: die Erinnerung an ihre eigene Angst, aber mehr noch die Erinnerung an die gräßliche Angst ihrer Mutter angesichts des flatternden Etwas. War Mama vorige Woche wieder so erschrocken? Vor etwas Ähnlichem? Und war sie unter der Last des Alters und der Anspannung zusammengebrochen? Fledermäuse waren Geschöpfe der Dunkelheit. Sie waren hier auf dem Lande fast in jedem Stall anzutreffen. Vielleicht war ein Tier irgendwie ins Haus gelangt wie damals. Vielleicht war es das? Deswegen war die Kellertür verschlossen! Ja, das mußte es sein!

Sicher befand sich das Tier noch immer da unten, obgleich Papa versucht hatte, es zu erlegen. Und natürlich wollte er darüber nicht sprechen. Weil er ihr Aufregung ersparen wollte.

Es war alles ganz einfach.

Aber ihre Hochstimmung war nicht von langer Dauer.

Denn was hatte die Fledermaus – falls da unten eine war – mit allem anderen zu tun? Den Morden, den stechenden, verstohlenen Blicken von Doc Bates, den Schwärmereien von Reverend Mauslocher? Und was hatte sie mit Hercules Rasmussens Angst zu tun?

Die Uhr auf dem Flur zeigte auf fünf vor halb vier. Das schimmernde Pendel beschrieb einen Bogen in höchster Vollendung. Doch in der Dunkelheit – oder war es Katies Schlaflosigkeit – schien es sich kaum zu bewegen, vollführte es die Abwärtsbewegung so langsam, als würde die Zeit fast stillstehen.

Katie ging wieder zu Bett.

Am nächsten Morgen zeigte sich, daß Papa sich an die Fledermaus nicht erinnern konnte. Und nach einigem Nachdenken sagte er, er wäre sicher, unten im Keller gäbe es keine. »Aber wenn du Angst hast, geh’ lieber nicht runter. Sie könnte hinauf ins Haus kommen, wie angeblich damals in deiner Kindheit, und wir möchten doch nicht, daß deine Mutter wieder so etwas durchmacht. Noch dazu in ihrem jetzigen Zustand.«