VI
»Katie! Katie, so wach doch auf!«
Die Frauenstimme klang erschrocken und gleichzeitig vertraut.
Eine rauhere Stimme, eine Männerstimme sagte: »Sie kommt jetzt zu sich. Das muß ein Schock gewesen sein.«
»Katie!«
Die Stimmen entfernten sich, kamen wieder. Durch einen Dunstschleier, hinter dem unkörperliche Wesen lauerten und ihr winkten, arbeitete sich ihr Bewußtsein hoch.
»Braves Mädchen!«
»Katie!«
Sie schlug die Augen auf. Zunächst sah sie nur Dunst, oder vielmehr die Erinnerung an Dunst. Dann formte sich Judy Boomers blondes Haar um deren rundes, besorgtes Gesicht aus.
»Das muß ein Schrecken für dich gewesen sein, nicht?« fragte Doc Bates hinter Judy.
Katies Verstand arbeitete fieberhaft. Sie lag auf der Steppdecke auf Mamas Bett.
Mama war fort.
Erschrocken versuchte sie sich aufzurichten. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Doc Bates half ihr, sich wieder hinzulegen. Er zeigte sein allerbestes Krankenbesuchsverhalten und war ganz freundliche Hilfsbereitschaft. Sie ängstigte sich vor ihm mehr als je zuvor.
»Dolph Pelser war da und ist schon wieder fort«, erklärte er.
»Ich sah den Leichenwagen im Hof«, warf Judy ein. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«
Papa und Reverend Mauslocher wurden am Fußende sichtbar. Papa bekümmert, der Geistliche sehr ernst.
Katie erinnerte sich jetzt. »Ich sah … ich sah …«, hörte sie sich jammern.
»Ich weiß, ich weiß«, beruhigte der Arzt sie und kniete neben dem Bett nieder. »Ich konnte Dolph nicht gleich finden, und du mußt auch die Zeit übersehen haben. Offenbar hast du deine Mutter nicht rechtzeitig hingelegt. Die Totenstarre war bereits eingetreten, als sie noch saß, und als du sie hinlegtest, richteten die erstarrenden Muskeln den Körper wieder auf.«
»Wir sind gewissen physikalischen Gesetzen unterworfen, tot oder lebendig«, setzte Mauslocher hinzu. »Der Glaube vermag sie hin und wieder zu überwinden, aber …«
»Geht es dir jetzt besser?« fragte Papa.
»Ich denke schon.« Sie setzte sich vorsichtig auf.
»Vielleicht sollte ich dir ein Beruhigungsmittel geben«, überlegte Doc Bates laut und kramte eilfertig in seiner schwarzen Tasche.
»Nein, nein, ich möchte keines!«
»Du siehst angegriffen aus, wenn du mich fragst.«
»Schon gut. Ich brauche nichts.«
Sie stand unsicher auf und mußte sich auf Judy Boomer stützen, bis der Raum aufgehört hatte, sich zu drehen.
»Ich fahre nach St. Cloud«, sagte Judy. »Die Kinder warten draußen im Wagen. Wir haben die Nase voll von dieser Sommerfrische. Möchtest du mitkommen?«
Katies Verstand war noch mitgenommen, aber der Vorschlag erschien ihr vernünftig.
»Ja, gern«, sagte sie.
»Ich weiß nicht, ob das ratsam ist …«, begann Doc Bates unsicher.
»Nicht doch, Katie«, sagte Papa bittend. Er legte den Arm um sie. »Ich kann deine Gefühle ja verstehen, aber bitte … laß mich jetzt nicht allein.«
Judy war nun verlegen. »Ich dachte nur …«
»Ja sicher«, sagte Mauslocher in seinem sanftesten Ton. »Ein sehr christlicher und gutgemeinter Vorschlag.«
»Jetzt bin ich allein«, sagte Papa. »Und du wirst fortgehen, wenn David zurückkommt. Bleib jetzt wenigstens noch.«
Er wechselte mit dem Geistlichen einen sonderbaren Blick. Der Priester nickte.
»Na dann … also gut«, sagte Katie.
Dabei dachte sie sich: Was kann mir schon passieren?
»Kann ich noch etwas für dich tun?« fragte Judy.
Die drei Männer verneinten im Chor.
Sie begleiteten Judy hinaus.
»Katie, ruf mich an, wenn du etwas brauchst …«, ermahnte Judy sie noch laut, daß sie es im Haus hören konnte, während sie das Baby im Sitz festmachte. »Ruf mich an. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Krause. Papa steht im Telefonbuch.«
Sie setzte sich ans Steuer. Man sah ihr an, daß sie unschlüssig war. Sie wußte nicht, ob sie ihre Freundin hier allein lassen konnte.
»Und ich werde das Telefon anschließen lassen«, versprach Papa. »Gleich jetzt, heute nachmittag.«
Judy schien erleichtert.
»Sollte ich etwas brauchen, werde ich anrufen«, rief Katie vom Fenster aus.
»Verständigt mich, wann die Beerdigung stattfindet.«
»Sicher«, versprach Mauslocher. »Lebwohl.«
»Lebwohl«, wiederholte Bates mit einem Unterton von Endgültigkeit.
Papa nickte. Und Judy fuhr los.