IV

 

 

Da standen sie nun alle auf dem großen, weitflächigen Hof, einem Flecken Erde, begrenzt vom alten weißen Haus – abblätternder Anstrich, ausgebleichte Schindeln –, von der baufälligen Scheune, die nur noch zur Lagerung von Heuballen diente, von einem sich senkenden Getreidespeicher und von einem Maschinenschuppen, in dem Papa vermutlich aus sentimentalen Gründen die unbenutzten Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände einer verlorenen Zeit aufbewahrte. Da lagen alte Heurechen, Pflüge, eine Harke und ein paar Sensen, von denen die eine vom Haken gefallen war und Papa – damals war er noch ein junger Mann – die Narbe auf der Wange beigebracht hatte. Eine Mähmaschine stand da und ein uralter Heuwender. Verbeultes Gerät verschiedenster Art, ein alter Schwingstock, alte Kummete und zerrissenes Pferdegeschirr, das noch immer schwach nach dem Pferdeschweiß längst vergangener Sommer roch. Papa hatte die neueren Geräte und Maschinen vor mehreren Jahren auf einer Auktion verkauft, damals, als er mit der Landwirtschaft Schluß machte.

Das war Katies Elternhaus, das Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Umgeben von einem Windschutz aus Kiefern und Pappeln, unter denen sie unzählige vergessene Spiele gespielt hatte, meist allein und nur manchmal zusammen mit ihrer besten Freundin aus Kindertagen, mit Judy Krause. Im Sommer wuchs das Gras hoch unter dem Hag, eine Zuflucht für Träume, eine Zuflucht vor der Zeit. Und an den Wintermorgen hing der Eismond groß und leuchtend hinter den spröden, windgeplagten Kiefern. Üppige Felder rollten dahin bis zum Fox Lake, bis zu den Wäldern, Weiden, bis an den Horizont. Heute aber wirkte alles anders, wilder, brütender, erwartungsvoller. Gewiß, Katie war drei Jahre lang fort gewesen, aber das war es nicht. Da war etwas anderes, etwas, das sie nicht genau erkennen konnte.

Sie hatte es zuerst auf der langen Fahrt von Minneapolis her bemerkt, nachmittags mit David. Allmählich. Ein Gefühl, daß etwas Wirkliches und doch nicht Faßbares, etwas nicht Auszudrückendes vorhanden war. Etwas, das nicht in die natürliche Ordnung passen wollte, nicht ganz. Weit hinten an den Grenzen des Bewußtseins hatte eine winzige Membran sich als Vorwarnung bewegt und hatte dann Ruhe gegeben. Die Aufregung der Heimkehr, der Kummer über Mamas Gebrechen, das alles hatte dieses seltsame Gefühl dann aus ihren Gedanken verdrängt.

Nördlich von Minneapolis erstreckt sich das Land etwa hundert Meilen in rollenden Tälern und Hügeln dahin, bewaldet, durchsetzt mit weiträumigen Flächen Farmlandes, gesprenkelt mit Seen. Die Felder waren saftig grün. Luzerne, Mais, Hafer und Weizen: die zarten Früchte des frühen Juni. Weiter im Norden wurde die Erde leichter, sandiger, und die üppigen Wälder von Ahorn, Pappel und Esche lichteten sich und an ihre Stelle traten vom Wind zersauste Kiefern, die ersten Zeichen dafür, daß das große Waldgebiet Nordamerikas nahe war, das sich unendlich weit nach dem Norden erstreckte, bis zur Hudson Bay, bis zur arktischen Tundra, bis an den Yukon und den Großen Sklavensee.

Hier, im Norden Minnesotas, am Rande dieses Waldgebietes, auf unheilvoll brütendem, mühselig zu bearbeitendem Land lag St. Alazara, das Dorf von Katies Vorfahren. Sie waren längst verblichen – der Dorffriedhof war fast voll –, und auch das Dorf schien im Sterben zu liegen, die Lebenskraft war geschwunden und mit ihr die Hoffnung. Dunkel war es wie das Mittagslicht unter den schweren Kiefern. Die nächste Stadt, St. Cloud, fast eine Stunde entfernt und nur über eine schlechte Straße zu erreichen, hatte ihre beste Zeit auch bereits hinter sich. Es war, als hätte nach Jahren der Ausbeutung der Boden, ja das ganze Land endlich gesagt: Genug!

Das Gefühl, das sie auf der Fahrt hierher überfallen hatte neben David, der stumm hinter dem Steuer des Mustang gesessen hatte, war ähnlich: ein Gefühl des Vergehens, des Absterbens, das Ende einer Zeit. Und das lag nicht nur an ihrer Mutter. Es war mehr. Sie fuhren auf dem alten Highway 52 nordwärts, der einstigen Route der Pelzhändler, der Ochsenkarren. Nachdem sie schließlich die Steigung hinter sich hatten, erreichten sie das Hochland nahe Clearwater. Meilen entfernt, die Bäume spitz überragend, wurde der Kirchturm von St. Alazara sichtbar. Katie verspürte vage Unruhe bei dem Gedanken an den Pfarrer, an Reverend Mauslocher. Sie dachte an die langen Sonntage ihrer Kindheit, seine wilden cholerischen Predigten – eigentlich nichts weiter als pathetisches, schwülstiges Gerede –, Predigten; in denen sie niemals einen Sinn finden konnte.

Mauslocher war schon lange vor Katies Geburt Seelenhirte der Gemeinde gewesen. Er hatte in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Nachfolge des alten Reverend Pierce angetreten, der eines Nachts auf dem Heimritt nach einem Krankenbesuch am nördlichen Himmel als Vision ein großes Kreuz aus Weizenähren erblickt hatte. Seitdem hatte diese Vision sein einziges Thema gebildet. Er sah in ihr ein Zeichen, daß St. Alazara und seine Menschen auserwählt, gesegnet und erhoben wären. Bis es dem Bischof in St. Cloud zu bunt wurde und er ihn, eifersüchtig, daß nicht ihm selbst diese Vision zuteil geworden war, kurzerhand als Missionar nach Sansibar versetzte, wo er das reibungslose Funktionieren kirchlicher Bürokratie nicht weiter behindern konnte.

Mauslocher aber hatte seine eigenen Visionen, undeutlichere zwar, aber um nichts weniger seltsame. Seine Predigten waren undurchsichtig, angsteinflößend und drohend, durchsetzt mit seltsamen Verweisen auf »Opfer«, »Erneuerung« und verhüllten Anspielungen, sexuell gefärbten Vergleichen wie »Brüste der Erde« oder »Samen in den Schoß der Erde fließen lassen«, Hinweisen auf die »reichen Lenden von St. Alazara, deren Schoß die Frucht unserer Hoffnung trägt«. Katie sah von ferne den Kirchturm und schauderte.

David übersah die Abzweigung, die zum Dorf und zu dem drei Meilen außerhalb gelegenen Anwesen der Jasper führte. Er mußte umkehren und zurückfahren.

»Die Hinweistafel ist weg«, sagte Katie. »Vielleicht hat ein Kind sie gemaust.«

»Vielleicht ist sie umgefallen«, murmelte David geringschätzig. »Außerdem ist es doch gleichgültig. Hier braucht niemand zu wissen, wo es langgeht. Hier kommt ohnehin niemand mehr her.«

Die Zufahrt führte zunächst am Friedhof vorüber, einem kleinen, aber gepflegten Fleckchen, umgeben von einem alten Eisenzaun, bewacht von dunkel dräuenden Zypressen und ein paar verdorrten, verwitterten Goldkiefern.

»Hier landen alle aus der Gegend«, hatte David einst in einem Moment der Verbitterung gesagt.

Dann kam die Kirche, von den Gründern des Dorfes vor etwa hundert Jahren aus massivem Stein erbaut, mit einem hochaufragenden unglaublichen Kirchturm. Präriegotik. Daneben das alte Schulhaus aus roten Ziegeln. Dann Pelsers Bestattungsinstitut, ein gedrungener Bau mit großen, reichverzierten Doppeltüren aus gebeizter Eiche. Ein paar kleine bungalowähnliche Häuser, die in Wirklichkeit wenig mehr als schäbige Bruchbuden waren. Die Tankstelle von Old Willis. Rasmussens Wagonwheel-Laden, mit dem alten ramponierten Rad als Wahrzeichen, und hinter dem Laden das große Rasmussen-Haus, das nur wenige jemals betreten hatten und in dem nun die alte Mrs. Rasmussen auf den Tod wartete. Und natürlich Barneys Wohnwagen, der alte Ford-»Einsatzwagen«, der daneben geparkt war. Barney war der Dorfpolizist. Der Ford ging nur selten auf Fahrt, ebenso Barney – denn wohin hätte man auch fahren sollen?

Ja, sicher war es das, was ich fühlte, dachte Katie. Hier gibt es kein Ziel. Dieser flüchtige Gedanke tauchte ganz plötzlich auf, als David am verlassenen Baseballplatz vorüberbrauste, wieder hinaus aufs freie Land. Der Zaun an der Grundlinie war in sich zusammengesunken, Unkraut wucherte auf dem inneren Spielfeld und um die Schlägerfelder, Unkraut hatte auch den Wurfkreis überwuchert. Das Dorf hatte einst eine Amateurmannschaft für die Sonntagnachmittagsspiele auf die Beine gestellt. Das war vorbei. Es gab zu wenig Spieler. Die jungen Leute waren fort.

David donnerte die Schotterstraße entlang, und die Farm kam in Sicht, verwilderter als Katie sie in Erinnerung hatte. In der Spätnachmittagssonne schimmerte der Fox Lake. Und drüben, wo der See endete, die großen roten Scheunen und die drei weißen stahlgedeckten Silos von Otto Ronsky. David bremste und bog in die Zufahrt ein. Über die polternde Brücke. Weiden längs des Baches, rotgeflügelte Amseln, Rotkehlchen, Spatzen, Drosseln, Lerchen. Weiter ging es, die von dichten Hecken gesäumte Zufahrt entlang. Sie war wieder daheim, und da war Mama und all das.

Die Sonne beeilte sich nun über der Westweide, den »Letzten Vierzig«, und der Schatten der Scheune legte sich über die Autos im Hof: den uralten Packard von Doc Bates, über Aggies Model T und Papas Vorkriegs-de Soto. Und den starken roten Mustang mit den breiten Reifen, den sich Katie und David zur Feier des bestandenen Examens geleistet hatten.

Jetzt öffnete Doc Bates die Tür des Packards, stellte die schwarze Tasche auf den Sitz und blieb, einen Fuß bereits im Wagen, stehen.

»Ben, ich glaube, es wird alles gutgehen«, sagte er mit einem Blick auf Katie.

Katie hörte ihren Vater etwas murmeln. Es wäre nicht mehr so viel Zeit, oder ähnlich.

»Zeit ist es gerade, was du dafür kriegst«, antwortete der Doktor. »Sieh diese beiden an.«

Er deutet auf Katie und David, nagelte sie mit seinem Knochenfinger fest.

»Wenn sie es miteinander treiben, wie es junge Leute bei jeder Gelegenheit tun, dann erscheint es ihnen wie wenige Minuten. Auch wenn sie tatsächlich eine ganze Stunde lang gerammelt haben.«

Er ließ sein rauhes, humorloses Lachen ertönen.

Katie errötete. »Sie sind so feinfühlig wie immer«, sagte David und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Doc Bates ließ die Hand fallen.

»Die Zeit existiert nicht mehr, wenn du in ihr steckst, stimmt’s, junger Mann?« bohrte Doc Bates weiter. »Und wenn ihr ein paar Stunden getrennt seid, erscheint es euch wie ein ganzer Tag. Oder gar eine Woche. Habe ich recht, Katie?« fragte er und entblößte dabei seine ebenmäßigen falschen Zähne.

Katie beherrschte sich mühsam. Sie ekelte sich. Doc Bates schüttelte traurig den Kopf.

»Jaja, Ben, die alten Tage waren großartig, wie?«

»Sie sind ein dreckiger alter Kerl. Jemand muß Ihnen mal ordentlich die Meinung sagen«, schalt Aggie ungehalten.

»Wollte nur zeigen, was ich mit Zeit meine«, sagte er zu Ben. »Es wird gehen.«

»Sie meinen Mama?« fragte Katie. Falls die Antwort ungünstig ausfallen sollte, wollte sie es gar nicht wissen. Und doch mußte sie es wissen. »Wie lange wird es dauern?«

Den Arzt schien die Frage zu überraschen.

»Ach, deine Mutter?«

»Ja, ist denn nicht von ihr die Rede?«

»Ach ja, ja. Natürlich. Mach dir bloß keine Sorgen um deine Mutter. Sie wird ihre Rolle tadellos spielen.«

Ihre Rolle? Was war das? Katie wagte einen erneuten Vorstoß: »Ich möchte bloß wissen, wie lange sie noch zu leben hat.«

Doc Bates dachte nach. »Kann ich nicht sagen.«

Will ich nicht sagen.

Der Packard umrundete den Hof, wirbelte Staub auf. Erstaunlich, Old Robert kläffte ein paarmal und schnappte sogar nach einem sich drehenden Reifen.

»Was ist denn in den gefahren?« fragte Aggie Jensen verwundert. »So habe ich ihn nicht erlebt, seit sieben, acht Jahren.«

»Wenn Sie nicht schleunigst das Abendbrot auf den Tisch bringen, werde ich noch straffällig«, knurrte Ben Jasper.