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Diese Sache wäre jetzt ja fast vorbei, hatte Doc Bates gesagt. Katie registrierte diese Worte dumpf und legte sie als bedeutungslos in einem Winkel ihres Bewußtseins ab. Halbherzige Trostworte am Totenbett. Die Männer gingen hinaus. Katie trat ans Bett. Sie nahm die ausgestreckte Hand ihrer Mutter und legte sie an ihren erkaltenden Körper. Es war vorbei.

Sie wollte der Toten eben die Augen zudrücken, als alles über sie hereinbrach: der letzte schreckliche Tag, Davids Abwesenheit, die verrückte Andeutung, ja Anklage des Arztes … Aber war sie wirklich verrückt, fragte sich ein kleiner argwöhnischer haßerfüllter Teil ihres Bewußtseins. Und diese Stimmung im Dorf, die auf einen geheimen Plan hindeutete? Oder hatte der seit jeher ängstliche und menschenfeindliche Hercules Rasmussen das alles nur erfunden? Und wenn ja, warum?

Sie legte den Kopf auf die gemusterte Steppdecke, die Aggies und Mamas fleißige Hände einst angefertigt hatten.

Sie hörte Doc Bates den Motor seines alten Packard starten und dann die Zufahrt entlangfahren. Er holte jetzt Dolph Pelser. Papa hatte das Telefon noch immer nicht anschließen lassen, aber er hatte immerhin irgendwo einen alten, eckigen Apparat ausgegraben, einen, der an der Wand befestigt werden sollte. An der Seite eine Kurbel, um die Vermittlung zu erreichen. Draußen in der Küche hörte sie Reverend Mauslocher, der Papa mit sanften Worten zu beruhigen suchte. Sie hörte Robert, der dem Auto des Arztes nachkläffte. Auch das Gebell entfernte sich. Und es war ihre letzte klare Erinnerung.

Die Zeit stand still und hüllte sie ein. Ihre Mutter saß aufrecht im Bett, auf Kissen gestützt, tot. Für sie hatte alle Zeit aufgehört. Für Katie noch nicht, auch wenn es so schien. Die Wirklichkeit der vergangenen Tage trieb weg von ihr und verschmolz mit Erinnerungsbildern, Andeutungen und Hinweisen zu einem Wirbel wortlosen Argwohns. Die Wirklichkeit selbst fiel ab von ihr. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen.

Als erstes kamen ihr die hohen, schneebedeckten Berge in den Sinn und das kleine Dorf am wiesengrünen Berghang. Sie sah es klar vor sich und wußte plötzlich, daß es vor langer Zeit das Heimatdorf ihrer Mutter in Norwegen gewesen war. Und dann sah sie in kaleidoskopartiger Folge Szenen und Ereignisse, manche ganz klar, andere undeutlich, als handle es sich um eine Rekapitulation der Vergangenheit der Toten: die Überquerung des Atlantiks auf dem Schiff, der Hafen von New York vor einem halben Jahrhundert, ein endloser Zug, der immerzu westwärts fuhr, und dann Wagen, Pferde, Schreie und lange Tage mühsamer Plackerei auf dem Weg nach Norden. Und dann kamen die Bilder schneller, so wie das Leben schneller verfliegt. Ein Tag vergeht wie der andere, die Zeit verschwimmt, bis einem nur ein verwischter Eindruck bleibt: ein junger Mann, der sie umarmt, doch der junge Mann war nicht David … Ein Baby, sie selbst. Und jetzt Katrin, die auf das Kleine hinuntersah – die Zeit lief weiter – es war ein kleines Mädchen, eine junge Frau, sie, Katie, dann nichts mehr, ein Flügelflattern, das überwältigende Gefühl von Hilflosigkeit, Gefangensein, des Sinkens, Sinkens …

Und dann plötzlich aufblitzende Farben, Rot und tiefes Schwarz. Das alles tanzte in Katies Gehirn und brachte sie wieder ins Bewußtsein zurück.

Sie hatte ein Leben gesehen, das Leben ihrer Mutter.

Und jetzt weinte sie, und weinte sehr lange.

»Geht es dir jetzt besser?« fragte Reverend Mauslocher, der in der Tür stand. »Du solltest deine Mutter flach hinlegen …«

»Raus!« rief sie. »Das erledige ich!«

Unter Tränen drückte sie ihrer Mutter die Augen zu, entfernte die Kissen und legte die Tote flach aufs Bett. Erstaunt stellte sie fest, daß seit ihrer Heimkehr schon einige Zeit vergangen war. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Sie holte ein Laken aus der Wäschekommode und deckte die Tote damit zu. Dann setzte sie sich in einen Stuhl am Fußende des Bettes und erwartete leise weinend die Ankunft Dolph Pelsers.

Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie dachte jetzt wieder in eingefahrenen Bahnen, dachte ans Begräbnis, an David, der den rätselhaften Ereignissen auf den Grund kommen wollte. Und sie dachte an den Zweiundzwanzigsten. Sollten sie es versuchen? Würde es nicht beinahe ein Sakrileg sein? Außerdem war sie womöglich zu durcheinander, und es klappte gar nicht …

Und eben, als sie bei dieser Überlegung angelangt war, schnellte ihre Mutter im Bett hoch, die weitaufgerissenen Augen starr auf Katie gerichtet, den Arm anklagend ausgestreckt.

Katie hörte jemanden aufschreien, und dann fiel sie. Alles wurde dunkel.